Biomedizinische Perspektive

Jens Holst

(letzte Aktualisierung am 04.02.2022)

Zitierhinweis: Holst, J. (2022). Biomedizinische Perspektive. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i006-2.0

Zusammenfassung

Biomedizin geht auf die Lehre von Robert Koch von der Krankheitsauslösung durch Erreger oder andere Ursachen zurück und unterstellt eine einfache Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen messbaren pathophysiologischen Auslösern und Krankheitsphänomenen. Die biomedizinische Perspektive bestimmt weltweit die Krankenversorgung und den klinischen Alltag, stößt aber bei nicht-übertragbaren und psychischen Erkrankungen an ihre Grenzen. Zudem blendet sie die gesellschaftliche Determination von Gesundheit und Krankheit und damit wesentliche Erkenntnisse der Gesundheitswissenschaften aus. Zugleich wächst weltweit die Dominanz der biomedizinischen Perspektive nicht zuletzt durch den Umgang mit Epi- und Pandemien und den Ausbau genetischer und neuartiger molekularbiologischer Methoden.

Schlagworte

Krankheits-Gesundheits-Dichotomie, Risikofaktoren, biologische Krankheitsmechanismen, soziale Determination von Gesundheit, biomedizinischer Reduktionismus


Die Biowissenschaften bilden das Fundament der medizinischen Ausbildung und des heutigen medizinischen Handelns. Sie befassen sich mit den Anlagen, Strukturen und Funktionen auf allen Ebenen des Organismus. Der biomedizinische Ansatz verfolgt das Ziel, anhand naturwissenschaftlicher Kriterien systematisch kausale Erklärungen zu liefern.

Die biomedizinisch bestimmte Sicht auf Krankheit, Risiko und Gesundheit stellt derzeit das beherrschende Erklärungsmuster der Medizin in Theorie und Praxis dar und bestimmt weltweit sowohl die Denk- und Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen und in der Gesundheitspolitik als auch die Bewertungen und Verhaltenserwartungen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit. Ärztliche Diagnosen sind in den meisten Gesellschaften Legitimitätsinstrumente für sozial-, versicherungs- und arbeitsrechtliche Vereinbarungen und erfordern unter anderem dafür eine möglichst eindeutige Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit.

Die Biomedizin ist ein Fachgebiet, in dem es primär um Forschung und weniger um klinisches Vorgehen wie in der Humanmedizin geht. Im Mittelpunkt steht die Verbindung von Inhalten und Fragestellungen der experimentellen Medizin mit Erkenntnissen und Methoden der molekular- und zellbiologischen Grundlagen des menschlichen Lebens bzw. deren pathologischen Veränderungen. Die Biomedizin verfolgt daher vorrangig das Ziel, die molekulare Erforschung von Krankheitsmechanismen für die technische und medizinische Entwicklung hochspezialisierter Therapieverfahren nutzbar zu machen.

Die biomedizinische Perspektive auf Krankheit und Gesundheit

Die biomedizinische Perspektive geht von einem Krankheitsmodell mit einfacher Ursache-Wirkungs-Beziehung aus, der wiederum messbare physische Ursachen von Zell- oder Gewebsschäden bzw. einer Dysregulation von Stoffwechselprozessen zugrunde liegen (Sarto-Jackson 2018). Biomedizin beruht auf pathophysiologischen Erkenntnissen und Einschätzungen und ist grundsätzlich krankheits- und nicht gesundheitsbezogen.

Krankheiten gelten als Störungen der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus. Sie haben spezifische Entstehungszusammenhänge (Ätiologie), typische Symptome und Manifestationen (Klinik), bieten objektiv beschreibbare Einflussmöglichkeiten (Therapie) und erzeugen funktionale Folgen (Prognose).

Aus der Kenntnis dieser Faktoren lassen sich vorhersehbare Behandlungsergebnisse (Therapie, Kuration) ebenso ableiten wie Bedingungen für Störungen des Heilungs- und Wiederherstellungsprozesses (Chronifizierung, Rezidiv, Behinderung). Aus biomedizinischer Sicht lassen sich für alle Krankheiten typische und − möglichst − kausale anatomische, organische, biochemische, physiologische, neurobiologische oder andere naturwissenschaftlich objektivierbare Auslöser, Ursachen oder Abweichungen von biologischen oder funktionellen Regelgrößen bestimmen. Die für die biomedizinische Perspektive relevanten Krankheitsursachen lassen sich in vier Komplexe unterteilen:

  • Von übertragbaren Mikroorganismen ausgelöste Infektionen
  • Endogen entstandene biochemische Dysfunktionen des Körpers, seiner Organe und Kreisläufe (einschließlich Stoffwechselstörungen und Autoimmunerkrankungen)
  • Durch exogene Einflüsse wie Noxen, Feuer, physikalische Gegenstände, Unfälle oder (Risiko-)Verhaltensweisen entstandene Organdefekte und Funktionsstörungen im Organismus
  • Fehlfunktionen aufgrund genetischer Vorbelastungen und Empfänglichkeiten

Die historische Bedeutung der Biomedizin

Die biomedizinische Perspektive definiert Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit, als Fehlen biologischer Dysfunktionen, homöostatischer Störungen oder negativer Einwirkungen, als subjektive Wahrnehmung eines „Schweigens“ und störungsfreien Funktionierens der Organe. In dieser Sichtweise präsentieren sich Krankheit und Gesundheit als dichotome Zustände in einem als „natürlich“ angesehenen organisch-funktionellen Gleichgewicht. Anders als es die salutogenetische Vorstellung (Salutogenese) eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums nahelegt, bezieht die Biomedizin die prozesshafte, biografische und sozial bedingte Verbindung zwischen Gesundheit und Krankheit nicht angemessen ein.

Die Leitvorstellungen basieren in großen Teilen auf dem erweiterten „Koch‘schen Modell“ der Bakteriologie aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Entstehungshintergrund des biomedizinischen Krankheitsmodells ist die „Keimtheorie“ bzw. „Zellularpathologie“ jener Epoche. Demnach wirken bei der Entstehung von Infektionskrankheiten verschiedene Faktoren zusammen: ein Krankheitserreger mit bestimmter Gefährlichkeit/Virulenz (Agens), ein Überträger des Erregers (Vektor), ein Mensch mit einer unzureichenden Immunität gegenüber dem Erreger (Wirt) sowie ansteckungsfördernde Umweltbedingungen (Umwelt). Ein Mensch erkrankt dann an einer Infektionskrankheit wie Tuberkulose, Hepatitis oder Aids, wenn alle Variablen zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammentreffen.

Nicht nur für die Behandlung der Infektionskrankheiten, sondern auch für die Prävention übertragbarer Erkrankungen, die einen wichtigen Beitrag zur deutlichen Steigerung der globalen bevölkerungsweiten Lebenserwartung geleistet hat, liefert die naturwissenschaftliche Medizin ein plausibles und historisch erfolgreiches Rahmenmodell. In diesen Bereichen eignet sich das nach dem deutschen Sozialmediziner Robert Koch (1843 bis 1910) benannte Modell der Auslösung von Krankheiten durch Erreger bzw. andere Ursachen bis heute für Diagnose und Therapie.

Gleichermaßen kommen biomedizinische Diagnose und Therapie bei einer Vielzahl von internistischen und chirurgischen Problemen zur Anwendung, etwa beim Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür, der koronare Herzkrankheit genannten Verengung der Herzkranzgefäße, dem meist im jugendlichen Alter auftretenden Diabetes mellitus Typ 1, einem Knochenbruch, einer Verbrennung oder einer anderen Verletzung. Voraussetzung für die Zuschreibung als Krankheit und die Einleitung von kausalen Behandlungen sind in allen Fällen naturwissenschaftlich nachweisbare Strukturveränderungen und/oder Funktionsstörungen im Organismus.

Die Grenzen der biomedizinischen Perspektive

Auch wenn übertragbare Krankheiten in den einkommensschwachen Ländern des globalen Südens weiterhin in erheblichem Umfang das Krankheitsgeschehen bestimmen, machen sie insgesamt nur einen kleineren Teil der globalen Krankheitslast aus. In Schwellenländern ist ihr Anteil mittlerweile spürbar zurückgegangen, in den wohlhabenden Industriegesellschaften spielen sie nur eine untergeordnete Rolle bei Erkrankung und Sterblichkeit (GBD 2019); an dieser grundsätzlichen Tendenz wird auch die SARS-CoV-2-Pandemie nichts ändern. Allerdings ist die biomedizinische Perspektive nicht nur für die heute weltweit vorherrschenden chronisch-degenerativen Krankheiten und ihre multifaktoriellen Ursachen, Therapien und Präventionsansätze, sondern auch für die funktionellen bzw. somatoformen psychischen Störungen nur eingeschränkt tauglich. Mit ihrer einseitig biowissenschaftlichen, letztlich monokausalen Orientierung lässt sich nur ein geringer Teil aller Krankheitsursachen und -prädiktoren erfassen oder beschreiben (Sarto-Jackson 2018).

Alle Krankheitsbeschreibungen und Todesursachen, egal ob sie auf Mikroorganismen, Unfälle, Umwelt- und Verhaltensbedingungen zurückzuführen sind, erfordern immer auch die Berücksichtigung kultureller, politischer, wirtschaftlicher, systemisch-organisatorischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, sowie ein Verständnis sozialen Handelns und der Ausprägung von Lebensstilen. Nicht zuletzt sind für zahlreiche körperliche Erkrankungen und Fehlfunktionen (etwa im psychosomatischen Formenkreis (Psychosomatische Perspektive), für die psychischen Gesundheitsstörungen und für die Wechselwirkungen von parallelen, lebensphasenbegleitenden Erkrankungen im Rahmen der altersbedingten Multimorbidität biochemische Kausalketten, organische Defekte oder genetische Ursachen bzw. „Marker“ entweder gar nicht oder nicht hinreichend nachweisbar. In der Psychiatrie und in vergleichbaren klinischen Bereichen sind daher grundsätzliche Zweifel an der Validität und Nützlichkeit des biomedizinischen Paradigmas angebracht (Deacon 2013).

Zudem liegen inzwischen zahlreiche Befunde aus der Epidemiologie und Sozialepidemiologie sowie der Stressforschung vor, die auf die Bedeutung einer gesellschaftlichen, multidimensionalen Determination von Gesundheit und Krankheit hinweisen (Germov 2013). Dabei kann es sich einerseits um Risikofaktoren für physiologische Abläufe oder den Immunstatus und andererseits um Ressourcen handeln, die potenziell vor der Entstehung von auch naturwissenschaftlich erklärbaren Gesundheitsstörungen schützen und ihre erfolgreiche Bewältigung fördern.

Neue Tendenzen der Biomedizin

Im Sinne einer biomedizinischen Perspektive sind die Telomere zunehmend als morphologisches Substrat der gesellschaftlichen Determination von Gesundheit in das Blickfeld wissenschaftlicher Untersuchungen geraten. Dabei handelt es sich um eine Art Schutzkappen an den Enden der Chromosomen von Zellen, deren Länge bei jeder Teilung etwas abnimmt. Unterschreiten Telomere eine gewisse Länge, ist der Schutz der Gene nicht mehr gewährleistet. Das führt dazu, dass die Zelle ihre Funktionen zunehmend schlechter ausführen kann und sich keine Zellteilung und -erneuerung mehr stattfindet. Vielfach belegt ist mittlerweile der Einfluss der sozioökonomischen Lebensbedingungen auf die Entwicklung der Telomerlänge (Powell-Wiley et. al 2020), der sogar schon im Kindes- und Jugendalter nachweisbar ist (Alexeeff et al. 2019): Je ungünstiger die Lebensverhältnisse sind, desto schneller verlieren die Telomere an Länge, und desto schneller altern die Zellen.

Eine Weiterentwicklung erfuhr die klassische biomedizinische Perspektive zwischen 1960 und 1990 mit dem präventivmedizinischen Modell der Risikofaktoren, das aufgrund epidemiologischer Beobachtungen und Befunde „Prädiktoren“ für die wichtigsten chronischen und degenerativen Krankheiten wie koronare Herzerkrankungen, bösartige Neubildungen, Diabetes und Rheuma sowie HIV/Aids ermittelt. Große Bevölkerungsstudien weisen auf verschiedene Faktoren hin, welche die Auftretenswahrscheinlichkeit sowohl übertragbarer als auch nicht-übertragbarer Krankheiten erhöhen. So stellt ungeschützter Geschlechtsverkehr nachvollziehbarerweise ein Risiko für eine HIV-Infektion und andere sexuell übertragbare Erkrankungen (STI) dar. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Rauchen sowie unzureichend kompensierter oder kompensierbarer Stress gelten als Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit. Darüber hinaus sind verhaltensmedizinische und organische Probleme wie Bluthochdruck oder erhöhte Blutfettwerte, manifeste Krankheiten, wie z. B. Diabetes mellitus oder Niereninsuffizienz und Symptomenkomplexe wie das Metabolische Syndrom, als Risikofaktoren für bestimmte pathologische Veränderungen bekannt. Als Krankheitsvorläufer wirken diese Faktoren entweder allein, im Zusammenspiel mit anderen oder unter wechselseitiger Verstärkung.

Das Risikofaktorenmodell stellt somit eine Weiterentwicklung und keinen Gegensatz zur biomedizinischen Perspektive dar. Die Erweiterung der biomedizinischen Perspektive um das Risikofaktorenmodell lieferte die wesentlichen Grundlagen nicht nur für eine frühe Gesundheitserziehung und gesundheitliche Aufklärung sowie die ärztliche Gesundheitsberatung, sondern auch für die gängigen verhaltenspräventiven und präventionspolitischen Ansätze der letzten Jahrzehnte.

 

Biomedizinisches Modell

Soziales Modell

Fokus

 
  • Individueller Fokus, akute Behandlung kranker Individuen
 
 
  • Gesellschaftlicher Fokus, Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Gesundheit beeinflussen
 

Annahmen

 
  • Gesundheit und Krankheit sind objektive biologische Zustände
  • Individuelle Verantwortung für Gesundheit
 
 
  • Gesundheit und Krankheit sind soziale Konstruktionen
  • Soziale Verantwortung für Gesundheit
 

Schlüsselindikatoren

 
  • Individuelle Pathologie
  • Vererbung, Geschlecht (Sex), Alter
  • Risikofaktoren
 
 
  • Soziale Ungleichheit
  • Soziale Gruppen: Klasse, Geschlecht, Migration, Alter, Beruf, Arbeitslosigkeit
  • Risiko-induzierende Faktoren
 

Ursachen von Erkrankungen

 
  • Gendefekte und Mikroorganismen (Viren/Bakterien)
  • Traumata (Unfälle)
  • Verhalten/Lebensstil
 
 
  • Politische/ökonomische Faktoren: Verteilung von Wohlstand, Einkommen, Macht, Armut
  • Beschäftigungsfaktoren: arbeits- und bildungsbezogene Möglichkeiten, stressreiche und gefährliche Arbeit
  • Kulturelle und strukturelle Faktoren
 

Intervention

 
  • Individuelle Behandlung durch Chirurgie und Pharmazie
  • Verhaltensmodifikation
  • Gesundheitserziehung und Immunisierung
 
 
  • Öffentliche Politik
  • Interventionen des Staates zur Stärkung von Gesundheit und Abbau von sozialen Ungleichheiten
  • Community, Partizipation, Anwaltschaft und Lobbyismus
 

Kritik

 
  • Ein Fokus auf Krankheiten führt zu einem Mangel an präventiven Maßnahmen
  • Reduktionistisch; ignoriert die Komplexität von Gesundheit und Krankheit
  • Scheitert an der Berücksichtigung der sozialen Ursachen von Gesundheit und Krankheit
  • Expertenmeinung kann das "victim blaming" verstärken
 
 
  • Utopisches Ziel von Gleichheit führt zu nicht umsetzbaren Forderungen sozialen Wandels
  • Überbetonung der schädigenden Nebeneffekte der Biomedizin
  • Die vorgeschlagenen Lösungen können sehr komplex und schwierig in der kurzfristigen Implementation sein
  • Soziologische Vorstellungen können die individuelle Verantwortung und psychologische Faktoren unterschätzen
 

Tab. 1: Kernmerkmale biomedizinischer und sozialer Modelle von Gesundheit und Krankheit im Vergleich (nach Richter & Hurrelmann 2016, S. 12−13)

 

Biomedizinisch geprägte Zukunftsperspektiven

Die biomedizinische Perspektive spiegelt sich auch in den umfangreichen Investitionen in die sich dynamisch entwickelnde Zellbiologie, in die Genomforschung und Genetik sowie in die molekulare Medizin und die Nanotechnologie wider (Pattini et al. 2011). Die so genannten Omics-Wissenschaften, also die molekularbiologischen Methoden wie genomics, transcriptomics, proteomics, metabolomics, secretomics, die auf "omic" enden, haben in den vergangenen Jahrzehnten zunehmende Beachtung gefunden und sind in den Mittelpunkt der (natur-)wissenschaftlichen Forschung gerückt (Leopoldina 2014). Sie versprechen eine alsbald verfügbare „individualisierte“ bzw. „personalisierte“ Medizin und Prävention in den folgenden fünf Bereichen:

  • Bildung von Untergruppen von Personen auf Grundlage krankheitsassoziierter Biomarker
  • Genombasierte Informationen über gesundheitsbezogene Merkmale (mittels sogenannter „DNA-Arrays“)
  • Ermittlung individueller Erkrankungsrisiken
  • Differenzielle Früherkennung und (frühe) Intervention auf molekularer bzw. biochemischer Ebene
  • Entwicklung therapeutischer Unikate („maßgeschneiderte“ Pharmakotherapien)

Der Zugang zu Gesundheit und das Betroffensein von Krankheit und Krankheitsrisiken ist zunehmend durch das Wissen über genetische Gegebenheiten und personenbezogen-zellbiologische Dispositionen bestimmt. Dies gilt nicht allein für die individuelle Ebene, sondern auch für die gesellschaftliche Wahrnehmung und Diskussion. Die Tendenz zur Medikalisierung aller Lebensbereiche tritt in zunehmendem Maße in Form einer „Genetisierung“ in Erscheinung (Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin).

Die molekulare Medizin ist nach Ansicht von Kritikerinnen und Kritikern das Einfallstor für „Anthropotechniken“ in Medizin und Gesellschaft: „Human bioengineering“ stellt medizinisches und biowissenschaftlichen Wissen in den Dienst menschlicher Leistungssteigerung und der Überschreitung natürlicher Grenzen. Dies beeinflusst nicht nur die Menschenbilder und den professionellen Blick auf Gesundheit und Krankheit, sondern auch die Ressourcenverteilung in der Gesundheitsforschung, den Leistungs- und Aufnahmekatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung und der öffentlichen Gesundheitsversorgung, die informationelle Selbstbestimmung und den Datenschutz – und nicht zuletzt die Definition und Ausgestaltung von primärer bzw. prädiktiver Prävention in einer noch nicht vollständig absehbaren Weise.

Gesundheitsförderung, primäre Prävention und die Gesundheitswissenschaften widersprechen pathogenetischen Konzepten und der biomedizinischen Perspektive nicht grundsätzlich, sondern sie integrierten sie in ein gesundheitswissenschaftliches, d. h. bio-psycho-soziales, interdisziplinäres und intersektorales Denken und Handeln. Je ganzheitlicher eine Intervention geplant und umgesetzt ist, desto höher ist der Gesundheitsgewinn. Im Gegensatz zur traditionellen Gesundheitserziehung zielen aussichtsreiche gesundheitsfördernde Interventionen aber nicht mehr nur darauf ab, bei Einzelnen oder Gruppen von Menschen die epidemiologisch identifizierte Risikoverhaltensweisen und Risikofaktoren „abzustellen“. Ziel ist vielmehr, durch Kompetenzförderung, Stärkung der Selbsthilfefähigkeiten, Netzwerkförderung und Capacity Building/Kapazitätsentwicklung die Bedingungen für gesundheitsfördernde Lebensweisen und Lebenslagen zu schaffen und zu erhalten.

Biomedizinischer Reduktionismus

Weitgehend ausgeblendet bleibt im biomedizinischen Kernverständnis die gesellschaftliche Determination von Krankheit und des Gesundheits- und Risikoverhaltens in Lebenswelten und Lebenslagen. In weiten Bereichen nicht nur der klinischen Theorie und Praxis, sondern auch der Gesundheitsversorgung und -systemgestaltung, vor allem in der Gesundheitspolitik, spielen die sozialen, ökonomischen, politischen und klimatischen Bedingungen bei der Analyse von Krankheitsursachen oder politischen Maßnahmen allenfalls eine nachrangige Rolle. Vielmehr besteht vielfach ein biomedizinischer Reduktionismus.

Besonders deutlich zeigte sich diese insgesamt weit verbreitete Tendenz zum biomedizinischen Reduktionismus während der SARS-CoV-2-Pandemie zu Beginn 2020er Jahre. Dabei lagen schon recht früh überzeugende empirische Belege dafür vor, dass sozioökonomische und soziodemographische Faktoren wie Armut, Bildungsferne, beengte Lebensverhältnisse, ethnische Zugehörigkeit und die unter diesen Bedingungen generell gehäuft auftretende chronische Vorerkrankungen die Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Infektion und von schweren Verläufen erhöhen.

Die auch politisch vorgegebene Einengung auf eine biomedizinische Pandemiewahrnehmung, verkörpert durch die Allgegenwart von Virologinnen und Virologen sowie biomedizinisch geprägten Epidemiologinnen und Epidemiologen, verstellte lange Zeit den Blick auf gesellschaftlich bedingte Risikofaktoren und besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen. Die dominante Position der biomedizinischen Sichtweise zeigte sich im Rahmen des Pandemiegeschehens auch im zunehmend hart geführten Streit um Impfquoten und eine Impfpflicht. Ein großer Teil der Bevölkerung glaubt in Krisenzeiten offenbar an technologische Lösungen, vertraut darauf und lässt sich dabei auch nicht durch Inkonsistenzen beirren, die wegen der unzureichenden Unterbindung von Infektionsketten zu einem unvollständigen Schutz vor schweren Verläufen oder kurzen Halbwertzeiten führen. Die Dominanz der biomedizinischen Perspektive erzeugt eine falsche Sicherheit und verstellt den Blick darauf, dass Impfungen für die Überwindung der Pandemie nicht ausreichend sind und es ergänzender gesellschaftlicher und politischer Maßnahmen bedarf.

Auch das verhältnismäßig neue Fachgebiet der Globalen Gesundheit (Globale Gesundheit/Global Health) ist in starkem Maße von einer biomedizinischen Sichtweise geprägt. Anders als die Internationale Gesundheit, die sich aus der kolonialen Tropenmedizin entwickelt hat und vorrangig entwicklungspolitische Ansätze verfolgt und sich vor allem auf die Vorbeugung und Behandlung übertragbarer Krankheiten konzentriert, geht Global Health als komplexe und multidisziplinäre Disziplin weit über Seuchenbekämpfung und Krankheitsvermeidung hinaus. Global Health-Ansätze erfordern die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl kultureller, gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer, Umwelt- und anderer Faktoren, die wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit der Menschheit haben (Holst 2020a). Dass die biomedizinische Global-Health-Perspektive gleichwohl zu kurz greift, zeigte sich mit besonderer Dramatik während der SARS-CoV-2-Pandemie, wo nicht-biomedizinische gesundheitswissenschaftliche Aspekte viel zu lange außer Acht blieben (Holst 2020b).

Letztlich wird die dominante Konzentration auf biomedizinische Lösungen zu einem Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung. Ein verkürztes, biotechnologisches Verständnis von Öffentlicher Gesundheit bzw. Public Health kann nicht erklären, wie gesellschaftliche Bedingungen auf die Gesundheit und ihre systematisch ungleiche soziale Verteilung wirken, und führt zur Unterschätzung bzw. Unterbewertung des Einflusses gesellschaftlicher Faktoren. Ein solcher biomedizinischer Reduktionismus erschwert die unumgängliche Thematisierung der politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Risikofaktoren, die erheblich zur Gesundheit und Krankheitslast von Bevölkerungen beitragen. Die vorherrschenden gesundheitspolitischen Maßnahmen und Gesundheitsstrategien spiegeln daher häufig nicht angemessen die Komplexität von Public Health wider und stellen die Universalität des Rechts auf Gesundheit in Frage (Holst 2020c).

Tendenziell leistet die biomedizinische Perspektive, die Gesundheit und Krankheit auf biologische Faktoren zu reduzieren versucht, einer Medikalisierung von gesellschaftlichen und sozialen Problemlagen sowie der individuellen Lebensweisen Vorschub. Modellbildungen, die vorrangig organisch-pathophysiologische Ursachen von chronisch-degenerativen Erkrankungen berücksichtigen, liefern nur eingeschränkt erfolgversprechende Ansätze der Prävention und Gesundheitsberatung. Aber selbst in der medizinischen Sekundär- und Tertiärprävention, wenn organische Schädigungen bereits eingetreten sind und es um die Verhinderung des Fortschreitens einer manifesten Krankheit geht, greifen potenziell aussichtsreiche Verhaltensumstellungen durch Patientenberatung und Patientenschulung zu kurz, solange sie verhältnispräventive Ansätze nicht hinreichend berücksichtigen.

Literatur:

Alexeeff, S., Schaefer, C., Kvale, M., Shan, J., Blackburn, E., Risch, N. et al. (2019). Telomere length and socioeconomic status at neighborhood and individual levels among 80,000 adults in the Genetic Epidemiology Research on Adult Health and Aging cohort. Environmental Epidemiology 3 (3): e049. DOI:10.1097/EE9.0000000000000049.

Deacon, B. J. (2013). The biomedical model of mental disorder: A critical analysis of its validity, utility, and effects on psychotherapy research. Clinical Psychology Review 33 (7): 846−861. DOI: 10.1016/j.cpr.2012.09.007.

GBD − Diseases and Injuries Collaborators (2020). Global burden of 369 diseases and injuries, 1990−2019: A systematic analysis for the global burden of disease study 2019. The Lancet 396 (10258): 1204-1222. DOI:10.1016/S0140-6736(20)30925-9.

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Powell-Wiley, T., Gebreab, S., Claudel, S. C., Ayers, C., Andrews, M., Adu-Brimpong, J., Berrigan, D. & Davis, S. (2020). The relationship between neighborhood socioeconomic deprivation and telomere length: The 1999−2002 national health and nutrition examination survey. SSM – Population Health 10: 100517. DOI: 10.1016/j.ssmph.2019.100517.

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Internetadressen:

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.: www.awmf.de

Verweise:

Capacity Building / Kapazitätsentwicklung, Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, Global Health / Globale Gesundheit, Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin, Prävention übertragbarer Erkrankungen, Psychosomatische Perspektive, Salutogenese

Ich danke Peter Franzkowiak für seine Vorarbeit in früheren Versionen dieses Leitbegriffs.