Determinanten der Gesundheit

Klaus Hurrelmann , Matthias Richter

(letzte Aktualisierung am 15.06.2022)

Zitierhinweis: Hurrelmann, K. & Richter, M. (2022). Determinanten der Gesundheit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i008-2.0

Zusammenfassung

Die gesundheitliche Lage von Individuen wird ebenso wie die ganzer Regionen und Länder durch unterschiedliche Einflussfaktoren bestimmt und geformt. Diese Determinanten der Gesundheit umfassen sowohl biologische Faktoren als auch umfangreiche Aspekte, die außerhalb des Körpers liegen. Sie sind im Sinne sich gegenseitig beeinflussender Faktorengruppen zu verstehen. Zu nennen sind hier vor allem das Gesundheits- oder Risikoverhalten, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie soziale, politische und ökonomische Determinanten der Gesundheit. Sie gemeinsam bestimmen das Ausmaß der Möglichkeiten für Gesundheit und die Wahrscheinlichkeit für Krankheit und vorzeitigem Tod. Aufgabe von Prävention und Gesundheitsförderung ist es, gesundheitliche Risiken, die sich aus diesen Faktoren ergeben, zu minimieren und Chancen für Gesundheit zu schaffen. Dabei ist es unerlässlich, dass sowohl die Lebensweise als auch die Lebensbedingungen adressiert werden.

Schlagworte

Einflussfaktoren, Gesundheitsverhalten, Lebensbedingungen, soziale Determinanten, Prävention


Ein Grundgedanke in der Gesundheitsförderung ist die Einflussnahme auf unterschiedliche Determinanten der Gesundheit. Ein Gewinn von Gesundheitspotenzialen kann einmal durch ein Zurückdrängen von Krankheitsrisiken über die Strategie der „Krankheitsprävention“ erfolgen, zum anderen durch die Ausweitung der Grenzen des Möglichkeitsraums von Gesundheit. Hierbei werden vor allem die sozialen, wirtschaftlichen und organisatorischen Bedingungen für die Herstellung von Gesundheit verbessert. Dies ist der Kern der umfassenden Strategie der Gesundheitsförderung.

Ein Gesundheitsgewinn für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung entsteht, indem die sozialen und materiellen, die gesamte Bevölkerung betreffenden Ausgangsvoraussetzungen für Gesundheit durch das Angebot angemessener Ernährung, Hygiene, Bildung, Arbeit und Wohnen sowie gesundheitlicher Versorgung verbessert werden. Durch die Beeinflussung dieser Determinanten wird die Gesamtheit von Gesundheitspotenzialen in einer Gesellschaft ausgeweitet. So kann erreicht werden, dass Gesundheitspotenziale gestärkt und Krankheitsrisiken vermindert werden.

Feste und modifizierbare Determinanten

Die Determinanten der Gesundheit mitsamt ihrem positiven oder negativen Einfluss auf die Gesundheit können in fünf übergeordnete Bereiche systematisiert werden (siehe Abbildung 1). Die einzelnen Gruppen von Determinanten stehen in einer wechselseitigen Beziehung. Die übereinander liegenden Schichten sollen verdeutlichen, dass sie sowohl einen direkten als auch einen indirekten − über die nächste Schicht vermittelten − Einfluss auf die Gesundheit besitzen. Gesundheit wird so als Ergebnis eines Netzes verschiedener Einflüsse gesehen. Dieses Netz konstituiert im weiteren Sinne die „Determinanten der Gesundheit“.

Genetische Dispositionen, Geschlecht und Alter stellen den Kern des Modells dar, sind jedoch unbeeinflussbare, feste Determinanten der Gesundheit. Die anderen Faktoren in den umgebenden Schichten können hingegen − mit Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung − potenziell modifiziert werden, um so einen positiven Einfluss auf die Gesundheit auszuüben:

  • Der Lebensstil und das Gesundheitsverhalten beziehen sich primär auf gesundheitsförderliche wie -schädigende Verhaltensweisen (z. B. Ernährung, Tabak- und Alkoholkonsum oder Gewalt).
  • Eine gute soziale Integration in unterschiedliche soziale Netzwerke (Freundeskreis, Familie, Community) unterstützt die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit und senkt das Risiko externer gesundheitsschädigender Einflüsse. Diese Determinanten haben nicht nur einen direkten Effekt, sondern wirken auch indirekt über das Gesundheitsverhalten auf die Gesundheit.
  • Beeinflusst werden diese sozialen Netzwerke durch die individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie etwa die Belastung am Arbeitsplatz, Bildung ebenso wie die Wohnsituation und das Gesundheitssystem. Auch diese Einflussgrößen können einen eigenständigen sowie vermittelten Effekt auf die Gesundheit haben.
  • Die allgemeinen sozioökonomischen, kulturellen und umweltbezogenen Bedingungen − wie sie sich beispielsweise in sozialen Ungleichheiten ausdrücken − stellen als Makrofaktoren die komplexesten Determinanten der Gesundheit dar und sind in diesem Sinne die „Ursachen der Ursachen“ von eingeschränkter Gesundheit und Krankheit.

Medizinische Versorgung vs. soziale Determinanten

Die medizinische Versorgung stellt eine allgemein viel diskutierte Determinante der Gesundheit dar. Wie Abbildung 1 verdeutlicht, ist der Einfluss des Gesundheitssystems auf den Gesundheits- und Krankheitszustand der gesamten Bevölkerung aber nur ein Bedingungsfaktor unter vielen. Bereits in den 1970er Jahren haben Studien aufzeigen können, dass Fortschritte in der medizinischen Gesundheitsversorgung in den vergangenen 150 Jahren nur wenig zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung beigetragen haben. Studien zur Abschätzung des Gewichts der unterschiedlichen Gruppen von Determinanten bestätigen diese Aussage: Die Strukturen des medizinischen, rehabilitativen und pflegerischen Versorgungssystems („Gesundheitssystem“) haben einen verhältnismäßig geringen Anteil bei der Entstehung von Krankheiten, wohl aber bei der Vermeidung von Krankheitsfolgen und vorzeitiger Sterblichkeit.

Vor diesem Hintergrund erhält die Frage, warum man die Krankheiten von Menschen „behandeln“ soll, ohne zu verändern, was sie in erster Linie krank macht, ein besonderes Gewicht.

Das weitaus größte Gewicht für die Erklärung des Gesundheits- und Krankheitszustandes der Bevölkerung haben die verhaltensbezogenen und sozialen Determinanten, d. h. der Lebensstil und die Lebensbedingungen. Unzählige Studien zeigen, dass das Gesundheitsverhalten einen bedeutenden Einfluss auf die Gesundheit ausübt. Nun ist es aber kein Zufall, dass Personen sich zum Beispiel ungesund ernähren. Vielmehr hängt das Ernährungsverhalten von verschiedenen übergelagerten Einflüssen ab und wird durch diese maßgeblich determiniert (z. B. räumliche Möglichkeiten des Erwerbs von Lebensmitteln, kulturelle Vorlieben für Nahrungsmittel, finanzielle und zeitliche Ressourcen oder das Wissen, sich gesund zu ernähren).

Hebt man ausschließlich die Bedeutung des Gesundheitsverhaltens hervor und vernachlässigt die strukturelle Einbettung dieser Verhaltensweisen in die individuellen Lebensbedingungen, besteht die Gefahr einer individuellen Zuschreibung von Verantwortung („blaming the victim“), die tatsächlich gesellschaftlichen bzw. strukturellen Mechanismen zuzuordnen ist und keiner individuellen Kontrolle unterliegt. So sind Lebensweisen eng mit den tagtäglichen Arbeits-, Wohnungs- und Kulturgegebenheiten verbunden. Sie stellen so etwas wie das subjektive Spiegelbild der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse dar. Ihre jeweilige Ausprägung und die damit einhergehenden Gesundheitsgewinne bzw. -verluste werden erheblich von sozialer Ungleichheit (Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit) beeinflusst. Ohne die Berücksichtigung dieser Einbettung des Verhaltens würde die Bedeutung des Lebensstils dementsprechend wesentlich überschätzt werden.

Der Einfluss von Lebens- und Arbeitsbedingungen

Durch den direkten Einfluss auf die Gesundheit und den indirekten Beitrag, der über das Gesundheitsverhalten wirkt, haben die Lebens- und Arbeitsbedingungen − wie z. B. unterschiedliche Erwerbschancen, Wohnbedingungen oder ökonomische Ressourcen − eine höhere Erklärungskraft für die Gesundheit als das Gesundheitsverhalten allein. Dieses Ergebnis zeigt, dass präventive Maßnahmen auf Verhaltensebene nur begrenzt erfolgreich sein können und eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen viel eher zu einer Verbesserung der Gesundheit beitragen kann.

Gestützt werden diese Befunde beispielsweise durch eine Gegenüberstellung der Entwicklung des Gesundheits- und Krankheitszustands der Bevölkerung in den westeuropäischen und den osteuropäischen Ländern seit den 1990er-Jahren. Die osteuropäischen Länder holen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Prozess der Vollindustrialisierung und den anschließenden Weg zur Dienstleistungsgesellschaft gewissermaßen nach. Sie zeigen dabei phasenverschoben die Formen von gesundheitlichen Belastungen, die auch in den westeuropäischen Ländern verbreitet waren. Während in den westeuropäischen Ländern in den letzten Jahren die Anteile der Todesfälle an Herz-Kreislauf-Erkrankungen langsam absinken und der Anteil der Krebskrankheiten dagegen langsam ansteigt, sind in den osteuropäischen Ländern die Herz-Kreislauf-Erkrankungen in hohem Tempo auf dem Vormarsch. Hierin drücken sich epidemiologische Transitionen (d. h. Veränderungen in der Häufigkeit von Erkrankungen als Folge gesellschaftlicher Entwicklung) aus, die schon seit Beginn der Industrialisierung beobachtet wurden. Sie weisen eine enge Verbindung von ökonomischen Veränderungen und statistisch messbaren Krankheits- und Sterbequoten nach.

Der Einfluss sozialer Disparitäten

Während der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wohlstand und Gesundheit gut dokumentiert ist, hält die international vergleichende Forschung ein weiteres interessantes Ergebnis bereit. Nicht nur die Höhe, sondern auch das Ausmaß ökonomischer Disparitäten, vor allem der Einkommensungleichheit, spielt eine zentrale Rolle für die Gesundheit auf Bevölkerungsebene. Je größer die Kluft zwischen den reichen und den armen Bevölkerungsgruppen ist, desto höher sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Population des jeweiligen Landes. Die angelsächsischen Länder USA, Großbritannien, Australien und Neuseeland mit ihrem großen Ausmaß an ökonomischer Ungleichheit weisen demnach die höchsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf Bevölkerungsebene auf. Demgegenüber schneiden die skandinavischen Länder eindeutig besser ab, während sich die zentraleuropäischen Länder, meist auch die südeuropäischen, im Mittelfeld bewegen.

Diese Assoziation findet sich für verschiedene Gesundheitsindikatoren wie Säuglingssterblichkeit, psychische Störungen, Abhängigkeit von Alkohol und illegalen Drogen, Übergewicht und Adipositas. Sie lassen sich zudem nicht nur für die Einkommensungleichheit nachweisen, sondern auch für andere Indikatoren auf gesellschaftlicher Ebene wie etwa unterschiedliche Typen von Wohlfahrtspolitik, politische Strukturen, die Höhe öffentlicher Ausgaben für Gesundheit oder die Rolle der Gleichberechtigung in einer Gesellschaft.

In den kommenden Jahren wird vor allem eine intensive Erforschung der Zusammenhänge zwischen schlechter wirtschaftlicher und sozialer Lebenslage und Gesundheit sowohl innerhalb als auch zwischen Gesellschaften notwendig sein. Solche Untersuchungen verbinden das Wissen über die Determinanten von Gesundheit und Krankheit mit der Genese und den Auswirkungen sozialer Ungleichheit.

Literatur:

Dahlgren, G. & Whitehead, M. (1991). Policies and strategies to promote social equity in health. Stockholm: Institute for Future Studies.

Weiterführende Literatur:

CSDH − Commission on Social Determinants of Health (Hrsg.) (2008). Closing the gap in a generation: Health equity through action on the social determinants of health. Final Report of the Commission on Social Determinants of Health. Geneva.

Hurrelmann, K. & Richter, M. (2013). Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. Weinheim: Beltz.

Richter, M. & Hurrelmann, K. (Hrsg.) (2016). Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Ein Lehrbuch. Wiesbaden: Springer VS.

Siegrist, J. (2021). Gesundheit für alle? Die Herausforderung sozialer Ungleichheit. Darmstadt: wbg Academic.

Internetadressen:

EuroHealthNet (ein not-for-profit Verbund zur Erforschung und Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten in Europa): www.health-inequalities.eu

Kampagnenorganisation zur Reduzierung sozialer Ungleichheiten: www.equalitytrust.org.uk

Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de

Weltgesundheitsorganisation zu den sozialen Determinanten von Gesundheit: www.who.int/health-topics/social-determinants-of-health

Verweise:

Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit