Digitalisierung in Prävention und Gesundheitsförderung

Viviane Scherenberg

(letzte Aktualisierung am 28.01.2022)

Zitierhinweis: Scherenberg, V. (2022). Digitalisierung in Prävention und Gesundheitsförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i130-1.0

Zusammenfassung

Digitalisierung in der Prävention und Gesundheitsförderung umfasst alle Maßnahmen, die mit oder durch digitale Technologien unterstützt werden und zum Ziel haben, die Gesundheit zu fördern, Krankheiten und Unfälle zu verhüten sowie das Fortschreiten einer Krankheit zu verhindern oder zu verlangsamen. Konzentrierten sich die Interventionen der digitalen Prävention in der Vergangenheit stark auf internetbezogene Angebote, sorgt die zunehmende Digitalisierung für eine erhöhte Breite an möglichen digitalen Medien. Die positive Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens erfolgt sowohl mithilfe von Sprachassistenten-Skills, Virtual Reality-Apps als auch Smartphone-Apps inkl. der zugehörigen Wearables (Fitness-Tracker etc.).

Schlagworte

Digitalisierung, ePrävention, digitale Prävention, digitale Gesundheitsförderung, eHealth Promotion


Die Digitalisierung nimmt im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung einen immer höheren Stellenwert ein. Um die Komplexität der Digitalisierung in der Prävention zu verstehen, ist es sinnvoll eine Einordnung aus der Perspektive der ePublic Health vorzunehmen. Denn unter „ePublic Health“ (oder „digital Public Health“) können alle organisierten Anstrengungen zum Wohle der öffentlichen Gesundheit subsumiert werden, die mithilfe digitaler Medien entweder überwacht, unterstützt oder direkt vorgenommen werden. Dabei stellt die „digitale Prävention“ (oder „ePrävention“) ein Teilgebiet der „ePublic Health“ dar, die wiederum als Teilbereich der Gesundheitswissenschaften (Public Health) und des eHealth angesehen werden kann.

Avatar

Ein Avatar ist eine digitale Kunstfigur, die mit individuell gestaltbaren Optionen (z. B. Aussehen, Kleidung, Geschlecht) versehen werden kann.

Blog

Ein Blog stellt ein einsehbares digitales Tagebuch oder Journal dar, das von mindestens einer Person oder mehreren erstellt wird.

Chatbot

Ein Chatbot ist ein textbasiertes Dialogsystem, welches das Chatten mit einem technischen System in natürlichem Sprachduktus ermöglicht.

Hypertextstruktur

Hypertextstrukturen stellen netzartige Strukturen dar, die durch gegenseitig verknüpfte Punkte (sogenannte Hypertexte) gekennzeichnet sind und so Informationen einzelner und mehrerer Texte, Grafiken, Videos etc. miteinander verknüpfen.

SeriousGames

Als Serious Games werden Spielanwendungen mit ernsthaften(z. B. gesundheitsbezogenen) Lerninhalten bezeichnet.

Sprachassistenten-Skill

Ein Skill stellt eine sprachbezogene Applikation (oder auch Voice App) eines Sprachassistenten (z. B. Alexa) dar.

Virtual Reality (VR)

Virtual Reality (virtuelle Realität) ist eine durch spezielle Hard- und Software erzeugte simulierte, künstliche Wirklichkeit. 

Wearables

Als Wearables werden elektronische Geräte (z. B. Fitness-Tracker) bezeichnet, die via Bluetooth-Technologie mit Apps verbunden sind.

Textbox: Glossar

 

Tabelle 1 gibt einen Überblick, wie die digitale Prävention einzuordnen ist und was sie um- bzw. einschließt. Dabei konzentriert sich die digitale Gesundheitsförderung (eHealth Promotion) darauf, Gesundheitsressourcen und gesundheitliche Schutzfaktoren mit Hilfe digitaler Technologien zu erkennen und zu stärken, während die digitale Prävention (ePrevention) die Ausbildung von Risikofaktoren bzw. die Entstehung von Krankheiten versucht mit der Hilfe digitaler Technologien zu verhindern oder zu verzögern.

Die digitale Betriebliche Gesundheitsförderung (dBGF) kann wiederum sowohl als Teilbereich des digitalen Betrieblichen Gesundheitsmanagements (dBGM) als auch als ein Teilbereich der digitalen Prävention angesehen werden, um das Gesundheitsverhalten von Beschäftigten mittels neuer digitaler Medien positiv zu beeinflussen.

Detailierung
Komplexität

eHealth

eHealth bzw. digital Health umfasst alle Leistungen, Qualitätsverbesserungen und Rationalisierungseffekte, durch die der Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen möglich ist. mHealth (Mobile Health) konzentriert sich auf die Nutzung mobiler (und damit drahtloser) Technologien (Nacinovich, 2011, S. 1).

Gesundheitstelematik

Telematik verknüpft Telekommunikation und Informatik, um Informationen und Daten zu übertragen und zu verarbeiten. Als Teilbereich der Telematik ermöglicht die Gesundheitstelematik (auch Health Telematics) die Übertragung und Verarbeitung von Informationen und Daten aus dem Gesundheitswesen mit audio-visuellen Kommunikationstechniken zu diagnostischen und medizinischen Zwecken (Jörg, 2020, S. 5).

ePublic Health

ePublic Health (digital Public Health) bezieht sich auf organisierte Anstrengungen, die durch bzw. mit digitalen (Kommunikations-)Technologien unterstützt werden und der Erhaltung und Förderung der Gesundheit der gesamten Bevölkerung oder größerer Bevölkerungsgruppen, der Vermeidung von Krankheiten sowie der Versorgung der Bevölkerung mit präventiven, kurativen und rehabilitativen Diensten dienen(Egger, Razum & Rieger, 2021, S. 1).

Digitales Versorgungsmanagement

Digitales Versorgungsmanagement (digital Case Management, digital Care Management, digital Managed Care) schließt alle medizinischen und pflegerischen Versorgungsprozesse definierter Bevölkerungsgruppen ein, die unter besonderer Berücksichtigung der Kosteneffektivität (Heberlein & Heberlein, 2017, S. 218) und Überwindung von Schnittstellenproblemen (§ 11 Abs. 4 SGB V) mithilfe digitaler Techniken unterstützt werden.

ePrävention

ePrävention (digital Prevention) ist ein wesentlicher zentraler Teilbereich von ePublic Health und schließt alle Maßnahmen mit und durch elektronische Technologie mit ein, die zum Ziel haben Gesundheit zu fördern, Krankheiten und Unfälle zu verhüten sowie das Fortschreiten einer Krankheit zu verhindern oder zu verlangsamen.

 Digitales BGM

Digitales Betriebliches Gesundheitsmanagement (dBGM) umfasst die Entwicklung integrierter betrieblicher Strukturen und Prozesse, um auf dieser Basis die gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeit, Organisation sowie des Verhaltens am Arbeitsplatz von Beschäftigten sowie des Unternehmens mithilfe digitaler Medien positiv zu beeinflussen (Badura, Ritter & Scherf, 1999, S. 17).

Digitales BGF

Digitale Betriebliche Gesundheitsförderung (dBGF) stellt einen Teilbereich des BGMs sowie der digitalen Prävention dar, der versucht, mittels neuer digitaler Medien das Gesundheitsverhalten von Mitarbeitern positiv zu beeinflussen.

Tab. 1: eHealth, ePublic Health, digitale Prävention und ihre Subdisziplinen (eigene Darstellung)

 

Anzumerken ist, dass die vorgestellten Bereiche nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt werden können, sondern vielmehr eng miteinander verzahnt sind. Die Bereiche stellen dabei oft detaillierende bzw. komplexitätsreduzierende Teilkomponenten (z. B. ePublic Health -> ePrävention -> digitale Betriebliche Gesundheitsförderung) dar, je nachdem, welcher spezifische Bereich (z. B. Telemedizin), welches gesundheitsbezogene Setting (z. B. Betrieb) oder welche Zielgruppe (z. B. kranke oder gesunde Menschen) tangiert sind.

Formen digitaler Präventionsinterventionen

Differenziert werden können digitale Bemühungen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung in Abhängigkeit des Umfangs der eingesetzten Online-Anteile. Unterschieden werden können die folgenden drei Formen digitaler Präventionsinterventionen (Scherenberg, 2018, S. 148; Meier & Stormer, 2012, S. 161):

  • ePrävention im weiteren Sinne: Unter ePrävention im weiteren Sinne können alle Bemühungen zusammengefasst werden, die sich auf die reine Verbreitung von präventiven Inhalten mittels digitaler Medien (z. B. gesundheitliche Aufklärung) und spezifischer Websites oder sozialer Medien (Social Media/Gesundheitsförderung mit digitalen Medien) beziehen.
  • ePrävention im engeren Sinne: Von ePrävention im engeren Sinne kann gesprochen werden, wenn präventive Interventionen komplett über digitale Medien (z. B. Präventions-Apps, Online-Training- und Coaching-Plattformen) oder elektronische Technologien (z. B. Fitness-Tracker) bereitgestellt werden.
  • Hybride Prävention: Unter den Begriff der hybriden Präventionsinterventionen fallen alle präventiven Interventionen, die sowohl Online- als auch Offline-Komponenten (z. B. im Sinne eines hybriden Lernarrangements − Blended Learning) sinnvoll miteinander verknüpfen, um die jeweiligen Vorteile von Offline-Interventionen und digitalen Interventionen zu nutzen (z. B. digitale App zur Herzgesundheit mit Telefon-Coaching-Elementen).

Eingesetzte digitale Medien und Technologien

Im Rahmen digitaler Interventionen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung werden digitale (bzw. „neue“) Medien eingesetzt, die eine Multimedialität und damit die Integration unterschiedlicher Medien in eine digitale Präsentation (sogenannte Hypertextstruktur) und Interaktivität ermöglichen (Aufenanger, 1999, S. 62). Subsumiert werden unter digitalen Medien sowohl die Hardware (z. B. Fitness-Tracker, Körperanalyse-Waagen, Virtuell Reality [VR] Headsets), die Software (z. B. Skills für Sprachassistenten, Avatare, Chatbots, Apps für Smartphones, Computerspiele bzw. Serious VR Games) als auch spezifische Medienformate (z. B. Online-Zeitschriften, Online-Videos, Blogs, Podcasts) (Petko, 2014, S. 13). Dabei werden alle tragbaren Zubehöre, die mit der Hilfe von Bluetooth-Technologie beispielsweise mit Präventions-Apps verbunden sind, als Wearables bezeichnet. Wearables können durch die „Verschmelzung“ mit Menschen als „On-Body-Geräte“ tituliert werden, während Smartphones und Tablets unter dem Begriff der „Off-Body-Technologien“ fallen (Grünwied, 2017, S. 28).

Medien wie beispielsweise Gesundheits-Apps, Social-Media-Kanäle oder Internetplattformen bedienen sich dabei unterschiedlicher Formate (Online-Kurse, Online-Coaching bzw. e-Coaching, Webinare etc.) und können in verschiedene Instrumentarien (Videos, Spiele, Selbsttests, Experten-Chats, Foren etc.) integriert werden. Längst beschränken sich Online-Medien allerdings nicht mehr nur auf Internet-Portale oder Gesundheits-Apps, sondern schließen auch „smarte“ Sprachassistenten (z. B. Alexa Echo, Google Home) und die dort enthaltenen gesundheitsbezogenen Skills (z. B. TK smart relax, Barmer Schlafenszeit, BKK Linde Impfkompass, DAK Erinnerungs-Coach, HKK Reiseschutz, BIG Baby Schlaf, AOK Große Entdecker-Gesundheit entdecken mit Jolinchen) oder Virtual-Reality-Anwendungen (z. B. zur Bewegungsförderung, Stressreduktion) mit ein.

Dabei ermöglichen Multiplayer-Versionen gemeinsame Erlebnisse, da eine Echtzeit-Kommunikation und -Interaktion mit anderen Nutzerinnen und Nutzern möglich ist. Sie werden in VR-Anwendungen mithilfe von Avataren bzw. von Kunstfiguren visuell repräsentiert, die mit individuell gestaltbaren Optionen (z. B. Aussehen, Kleidung, Geschlecht, Größe) versehen werden können (Bredl, Bräutigam & Herz, 2017, S. 11).

Digitale Präventionsinterventionen ermöglichen somit die Ansprache akustischer, visueller sowie haptischer Sinneskanäle. Ein Beispiel stellen Bewegungserinnerungen dar, die via Ton, Textnachricht und/oder Vibrationsalarm die Nutzerinnen und Nutzer (z. B. über Fitness-Tracker) erreichen. Da die Informationsverarbeitung und Kompetenzvermittlung für die Gesundheitsbeeinflussung entscheidend sind, werden digitale Interventionen meist multimodal aufgebaut, um unterschiedliche Sinneskanäle zu aktivieren. Dies ist entscheidend, da für die Reizverarbeitung mehrere Sinneskanäle verantwortlich sind. Die wechselseitige (multisensorische) Verstärkung (auch „Multisensory Enhancement“) hat zur Folge, dass das Gehirn Informationen und damit Gesundheitsbotschaften bei kongruent wahrgenommenen Reizen deutlich intensiver verarbeitet („Superadditivität“) (Stanford, Quessy & Stein, 2005, S. 9 f.). Mit anderen Worten: Je mehr ähnliche digitale Präventionsinterventionen und die dort enthaltenen Botschaften die fünf prägenden Sinne (Sehsinn: visuell; Hörsinn: auditiv; Tastsinn: haptisch; Geruchssinn: olfaktorisch und Geschmackssinn: gustatorisch) ansprechen, desto stärker verfestigen sie sich.

Diese Erkenntnis ist für die Prävention und Gesundheitsförderung von Bedeutung, da der präventive Nutzen nicht in der reinen Quantifizierung von Körperdaten, sondern in der Steigerung der Gesundheitskompetenz (Health Literacy/Gesundheitskompetenz) liegt. Dabei findet eine zunehmende Verschmelzung von digitalen Medien statt. Eine Trennung zwischen analogen und digitalen Medien ist kaum mehr möglich, da analoge Medien zunehmend auch über digitale Medien verfügbar sind (z. B. digitales Fernsehen, digitale Bücher).

Zielgruppenspezifische Ausrichtung und Herausforderungen

Wie klassische Interventionen können digitale Interventionen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung nach der Kategorisierung von Gordon sowohl universell, selektiv oder auch indiziert ausgerichtet werden. Diese Einteilung wägt das Risiko für ein Individuum, eine Krankheit zu bekommen, gegen die Kosten, das Risiko und die Unannehmlichkeiten der präventiven Intervention ab (Gordon, 1983, S. 107 ff.). Tabelle 2 gibt einen exemplarischen Überblick über digitale Präventionsinterventionen entsprechend dem sogenannten Risk-Benefit-Ansatz bzw. der Risiko-Nutzen-Abwägung und der damit verbundenen Zielgruppenerreichung.

Ausrichtung

Zielgruppe

Umsetzung (Beispiele)

Universelle ePrävention

Gesamtbevölkerung, große Teilpopulation

 
  • Internetseite zur Aufklärung über COVID-19
  • Corona-App
 

Selektive ePrävention

Spezielle Zielgruppen mit einem vermuteten, evtl. überdurchschnittlichem Risiko

 
  • Integrations-App für Migrantinnen und Migranten
  • Notruf-App für ältere Menschen
 

Indizierte ePrävention

Personen und Gruppen mit gesicherten Risikofaktoren bzw. manifestierten Störungen/Krankheitsbildern

 
  • Ernährungs-Apps zur Reduktion von Adipositas
  • Online-Schulungsprogramm für Diabetikerinnen und Diabetiker
 

Tab. 2: Spezifizierung der ePrävention nach dem Risk-Benefit-Ansatz (eigene Darstellung in Anlehnung an Franzkowiak, 2008, S. 199 f.)

 

Eine große Herausforderung der Digitalisierung von Prävention und Gesundheitsförderung stellt zum einen die unzureichende Berücksichtigung vulnerabler Bevölkerungsgruppen dar, die in der Folge neue Medien als weniger relevant wahrnehmen, was zu einer Verstärkung der gesundheitlichen Ungleichheit führen kann (Schüz & Urban, 2020, S. 196) (Gesundheitliche Chancengleichheit).

Zum anderen werden viele digitale Gesundheitstechnologien von Institutionen mit wirtschaftlichen Interessen (z. B. Apple, Fitbit, Occulus, Amazon) entwickelt und erreichen allein aus ökonomischen Gründen oft eher privilegierte Bevölkerungsgruppen. Diese sogenannte interventionsgenerierte Ungleichheit („Intervention-Generated inequities“) (Lorenc, Petticrew, Welch, & Tugwell, 2013, S. 191 f.) führt dazu, dass relevante Zielgruppen der Prävention und Gesundheitsförderung von solchen Angeboten weniger profitieren.

Insgesamt kann zwischen drei unterschiedlichen Formen des „Digital Health Divide“ unterschieden werden (Cornejo Müller, Wachtler & Lampert, 2020, 185 f.):

  • Primäre digitale Ungleichheit: Beim primären Digital Health Divide ist die Ursache der Ungleichheit begründet durch den mangelnden Zugang zu digitalen Gesundheitstechnologien.
  • Sekundäre digitale Ungleichheit: Beim sekundären Digital Health Divide sind die Disparitäten durch die Nutzungsmuster und die mangelnden Fähigkeiten begründet, digitale Gesundheitstechnologien zu beziehen, zu bedienen oder gezielt danach zu suchen.
  • Tertiäre digitale Ungleichheit: Beim tertiären Digital Health Divide ist die Ursache der Ungleichheit in der persönlichen Kompetenz begründet bzw. darin, dass die Nutzerinnen und Nutzer über eine mangelnde Fähigkeit verfügen, um mithilfe von digitalen Gesundheitstechnologien ein verbessertes (gesundheitliches) Outcome zu erreichen.

Anzumerken ist, dass bei der Entwicklung von (digitalen) Interventionen oft soziodemografische Kriterien (Alter, Geschlecht, Schicht etc.) herangezogen werden, um auf die spezifischen Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer (z. B. Frauen, Männer, Jugendliche) eingehen zu können. Dieser einseitige Ansatz stößt in der Praxis auf Grenzen, daher ist es vielversprechender, eine problemzentrierte Perspektive einzunehmen. Eine solche Vorgehensweise ist zum einen von Bedeutung, damit sich die Zielgruppe besser angesprochen fühlt, zum anderen, damit die Mediennutzung als situative Problemlösung und Suche nach Sinnhaftigkeit verstanden werden kann (Dervin & Foreman-Wernet, 2013, S. 155). Bei einer solchen Suche nach Lösungen ist die Zielgruppe bereits sensibilisiert und weist eine entsprechend hohe Veränderungsbereitschaft auf (Prochaska & DiClemente, 1981; S. 393 f.).

Anwendungsgebiete

Digitale Präventionsinterventionen können sowohl auf der Ebene der Verhaltensprävention (z. B. Bewegung, Stressreduktion, Ernährung) als auch auf der Ebene der Verhältnisprävention ansetzen, um ungünstige Lebensumstände bzw. Lebensbedingungen von Individuen oder spezifischen Bevölkerungsgruppen (Obdachlose, Migrantinnen und Migranten, älteren Menschen etc.) positiv zu beeinflussen. Genannt werden können beispielsweise digitale Interventionen (z. B. DAK-Aktion Schwerelos) zum Schutz vor gesellschaftlicher Ausgrenzung oder der Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen (Wilke & Timmersmanns, 2015, S. 265). Verhaltenspräventive Interventionen hingegen beschränken sich auch hier nicht auf die klassischen präventiven Handlungsfelder, sondern können sich z. B. auf Online-Spielsucht, HIV, Einhaltung von AHA-Regeln, Sonnenbaden, Impfverhalten oder die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen beziehen.

Dabei sind verhaltens- und verhältnispräventive digitale Interventionen oft nicht klar voneinander zu trennen. Beide Interventionsformen sind eng miteinander verzahnt, in der Praxis ist eine getrennte Betrachtung einzelner Umsetzungsstrategien oft nicht sinnvoll (Dadaczynski & Paulus, 2018, S. 263). Wenn beispielsweise innerhalb einer digitalen Intervention zur Nachbarschaftshilfe Bewegungsangebote (z. B. Lauftreffs für ältere Menschen) initiiert werden, kann von einer verhaltenspräventiven Intervention gesprochen werden, die durch eine digitale Verhältnisintervention (Nachbarschaftshilfe-App) erst ermöglicht wurde.

Um eine hohe Wirkung zu erzielen bzw. zu erhöhen, sollten bei der Entwicklung und Ausgestaltung digitaler Präventionsinterventionen gesundheitspsychologische Modelle (zur Verhaltensänderung und Rückfallprophylaxe) (Erklärungs- und Veränderungsmodelle: 1. Einstellungs- und Verhaltensänderung) einbezogenen werden. Auch die Berücksichtigung wissenschaftlicher Leitlinien (inkl. der dort empfohlenen anerkannten Instrumentarien, wie z. B. die S3-Leitlinie „Rauchen und Tabakabhängigkeit: Screening, Diagnostik und Behandlung” bzw. den Fagerström-Test zur Ermittlung der Nikotinabhängigkeit) trägt dazu bei, die Qualität digitaler Interventionen zu steigern. Dabei ist die Einbindung sowohl interdisziplinärer Expertenteams und künftiger Nutzerinnen und Nutzer unabdingbar.

Chancen und Risiken

Werden internet- und mobilbasierte Interventionen (kurz IMIs) im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung eingesetzt, sollten ihre Chancen und Risiken im Vergleich zu klassischen Präventionsinterventionen abgewogen werden. Tabelle 3 gibt einen Überblick, der allerdings in Abhängigkeit von der jeweiligen Zielgruppe (und ihrer Medienakzeptanz), der Intervention (z. B. Diabetes-Apps), des eingesetzten digitalen Mediums bzw. Wearable-Gadget (z. B. Sensoren von Fitness-Uhren, Bluetooth Brustgurt) genauer analysiert werden muss

Traditionelles Präventionsprogramm

IMI

Chancen (+) und Risiken (-) von IMIs

Durchführung und Einsatzmöglichkeit sind zeit- und ortsgebunden

Durchführung und Einsatzmöglichkeit sind unabhängig von Zeit und Ort

+ Flexibilität (Integration in den Alltag; individuelle Bearbeitungsgeschwindigkeit)
+ Nutzerfreundlichkeit: Kann Nutzerinnen und Nutzer mit Mobilitätseinschränkungen oder begrenzten zeitlichen Ressourcen erreichen
+ Erinnerungs- und Verstärkerfunktionen erhöhen die Auseinandersetzung mit den Programminhalten und fördern Verhaltensänderungen im Alltag
- Teilweise niedrige Adhärenz-Raten, insbesondere bei reinen Selbsthilfeangeboten

Skalierbarkeit/Variation der Programmintensität werden durch verfügbare Ressourcen häufig begrenzt

Spezielle Zielgruppen mit einem vermuteten, evtl. überdurchschnittlichen Risiko

+ Verschiedene Programmintensitäten und -abläufe sind möglich
+ Niederschwelliger Einstieg
+ Einmal entwickelt, können IMIs weiteren Personenkreisen angeboten werden; evidenzbasierte Interventionen lassen sich auch auf unterversorgte Gebiete ausweiten (hohe Reichweite)

Personalisierbarkeit ist möglich, in Gruppenangeboten dagegen sehr eingeschränkt

Personen und Gruppen mit gesicherten Risikofaktoren bzw. manifestierten Krankheitsbildern

+ IMIs können bei der Entwicklung besondere kultur- oder störungsspezifische Aspekte berücksichtigen, die nicht im Kompetenzbereich einzelner Gesundheitsexperten und -experten vor Ort liegen (z. B. kultursensitive Sprachversionen, seltene Erkrankungen)
+ Individualisierbarkeit auf Modul-Ebene, die besondere Risikoprofile und Interessen der Teilnehmenden berücksichtigen
+ Personalisierte Begleitung
- Individualisierbarkeit seitens der Nutzerinnen und Nutzer, die über die Nutzung standardisierter vordefinierter Inhalte hinausgeht

Kommunikation kann auf volles Spektrum nonverbaler Signale und Gefühlsausdrücke der Zielgruppen zurückgreifen

Kommunikation bleibt anonym

+ Zugang zu evidenzbasierten Interventionen ist möglich für Personen, die zuvor aus Sorge vor Stigmatisierung Angebote nicht angenommen haben
- Anonymität erschwert adäquates Handeln in Krisensituationen

Tab. 3: Eigenschaften von traditionellen Präventionsprogrammen und IMIs im Vergleich (vgl. Domhardt, Ebert & Baumeister, 2020, S. 402)

 

Kritische Betrachtung und Fazit

Die Nutzung von digitalen Interventionen setzt unterschiedliche Kompetenzen bei den Nutzerinnen und Nutzern voraus. Diese sogenannte „eHealth Literacy“ (Health Literacy/Gesundheitskompetenz) schließt zum einen das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von ihnen mit ein, Gesundheitsinformationen mittels unterschiedlicher Medien finden und verstehen zu können, und zum anderen, sie auch beurteilen und anwenden zu können (Schaeffer & Pelikan, 2017, S. 12).

Zur Überprüfung der eHealth-Kompetenz wird beispielsweise die weltweit stark verbreitete „eHealth Literacy Scale (eHEALS)“ zurückgegriffen (Normann & Skinner, 2006). Zwar steht eHEALS in der Kritik, da hier die Suchen nach Gesundheitsinformationen im Internet im Fokus stehen und damit interaktive Health Literacy-Komponenten (Nutbeam, 2008) vernachlässigt werden (van der Vaart & Drossaert, 2017). Andererseits konnte sich bisher keine neuere Skala etablieren (Karnoe & Kayser, 2015, S. 586). Die eHealth Literarcy ist aufgrund der Dynamik und Unüberschaubarkeit des Marktes in Bezug auf digitale Präventionsinterventionen von besonderer Bedeutung.

Für die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer ist es schwer, die Qualität solcher Interventionen zu beurteilen, da nur in wenigen Fällen ein konkreter und messbarer Nutzennachweis (z. B. bei DiGAs) erbracht werden muss. Notwendig ist dies, wenn es sich um die Zulassung und Erstattungsfähigkeit von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) handelt, unabhängig davon, ob es sich um Medizinprodukte handelt oder nicht. Bei erstattungsfähigen DiGAs, die im DiGA-Verzeichnis (https://diga.bfarm.de) aufgenommen werden, fordert der Gesetzgeber seitens des Anbieters einen Nutzennachweis und damit den Nachweis eines positiven Versorgungseffektes (BMG, 2019, S. 15). Anbieter von IKT-basierten (Informations- und Kommunikationstechnologie-basierten) Selbstlernprogrammen sind aufgefordert, eine Selbstverpflichtungserklärung zur Evaluation (Evaluation) zu unterschreiben, bevor ihre digitale Präventionsintervention von der zentralen Prüfstelle für Prävention zertifiziert und in die Präventionsdatenbank aufgenommen wird (Zentrale Prüfstelle für Prävention, 2021, S. 5).

Vertrauen und Glaubwürdigkeit durch Qualität(ssicherung) (z. B. über erfolgte Evaluationen, Qualitätssiegel, integrierte Fachexperten, zugrundeliegende wissenschaftliche Leitlinien) sowie die geeignete Aufklärung der Nutzerinnen und Nutzer werden über die Akzeptanz und Wirkung entscheiden. Bis auf weiteres fehlen Langzeitstudien über die ständig angepassten und veränderten digitalen Präventionsinterventionen.

Literatur:

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Internetadressen:

Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin: www.patienten-information.de

Deutsches Netzwerk Gesundheitskompetenz e.V. (DNGK): www.dngk.de

Digitale Gesundheitsanwendungen: https://diga.bfarm.de  

Gesundheitsinformationen: www.gesundheitsinformation.de

Gesundheitsportal des BMG: https://gesund.bund.de

Netzwerk digitale Gesundheitswirtschaft: www.atlas-digitale-gesundheitswirtschaft.de

Alexa Skills:https://alexa.amazon.de

Oculus Fitness Apps: www.oculus.com/experiences/fitness

Verweise:

Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung, Evaluation, Gesundheitskompetenz / Health Literacy, Social Media / Gesundheitsförderung mit digitalen Medien