Ethik in der Gesundheitsförderung und Prävention

Joseph Kuhn , Manfred Wildner

(letzte Aktualisierung am 01.02.2024)

Zitierhinweis: Kuhn, J. & Wildner, M. (2024). Ethik in der Gesundheitsförderung und Prävention. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i015-3.0

Zusammenfassung

Vor der Durchführung konkreter Maßnahmen in Gesundheitsförderung und Prävention ist ein gesellschaftlicher Konsens nötig, wie diese Maßnahmen gestaltet sein sollen. Die Wissenschaft liefert dazu die fachlichen, das Gesetz die rechtlichen Antworten, die Ethik die moralischen Grundlagen. In Public Health und der Gesundheitsökonomik ist vor allem der ethische Ansatz des Utilitarismus verbreitet. Er rechtfertigt Maßnahmen dann, wenn ihr Gesamtnutzen positiv ist – auch wenn einige Betroffene dadurch Nachteile erleiden. Eine generelle rechtliche Grenze setzt die im Grundgesetz verankerte Unantastbarkeit der Menschenwürde. Bei konkreten Entscheidungen unterstützen ethische Leitlinien und andere Orientierungshilfen. Sie helfen bei der Abwägung fachlicher, ökonomischer und politischer Gesichtspunkte mit ethischen Aspekten.

Schlagworte

Ethik, Moral, Interessenkonflikte, Verhalten, Verhältnisse


Überall, wo Menschen handeln, stellen sich deskriptive Fragen danach, wie etwas ist, und normative Fragen, wie etwas sein soll. Antworten darauf geben im juristischen Bereich die Gesetzeslage und die Rechtswissenschaften, im moralischen Bereich die Ethik. In der Ethik geht es um Begründungen für moralische Normen. Dass man beispielsweise in der Adipositasprävention übergewichtige Menschen nicht lächerlich machen soll, ist eine moralische Norm. Was das konkret bedeutet und warum diese Norm Anspruch auf Anerkennung hat, ist Gegenstand der Ethik.

Ethische Probleme gesundheitspräventiven Handelns stellen sich sowohl für das eigene Handeln im privaten Alltag (z. B „Darf ich in der Schwangerschaft Alkohol trinken?“ Oder: „Darf ich in Gegenwart von Kindern rauchen?“), als auch – und darum geht es im Folgenden – im professionellen Kontext und dem Bereich organisierter gesellschaftlicher Maßnahmen.

Historische Tradition der Ethik

In der Medizin hat die Ethik eine lange Tradition. Als Fundament des ärztlichen Ethos gilt seit mehr als 2.000 Jahren der Hippokratische Eid. Er enthält Vorgaben zum Umgang mit ärztlichem Wissen, die Verpflichtung zu helfen und nicht zu schaden, keine Sterbehilfe zu leisten, keine Abtreibungen vorzunehmen, Patienten und Patientinnen nicht zu missbrauchen und über das zu schweigen, was man in der ärztlichen Tätigkeit erfährt. Die ärztliche Ethik ist vor allem als Berufsethik angelegt, als Teil des ärztlichen Berufsbildes. Als Grundlage für die multidisziplinär angelegte Prävention und Gesundheitsförderung ist sie zwar nicht ausreichend, sie enthält aber bereits verallgemeinerbare Normen, die auch in der Public Health-Ethik relevant sind.

Die berufsethischen Regeln haben Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus nicht davor bewahrt, Medizinverbrechen an Menschen mit Behinderungen und an KZ-Häftlingen zu begehen und aktiv an der Vernichtung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma mitzuwirken. Eine wichtige Rolle dabei hat – neben anderen Motiven – eine präventive Ethik des „gesunden Volkskörpers“ gespielt. Aus dem vorgeblichen Interesse des Volksganzen wurde das Recht abgeleitet, über das Leben von Menschen grundsätzlich zu verfügen. Die völkische Kollektivethik und die traditionelle ärztliche Ethik standen in einem Über-Unterordnungs-Verhältnis zueinander.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurden als Lehre daraus die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Artikel 1 GG) sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 GG) als fundamentale Werte festgeschrieben. Jede Form von Kollektivethik findet hier ihre Grenzen. Damit ist im Grundgesetz eine Wertordnung rechtlich verankert, die für die Diskussion ethischer Fragen in den Gesundheitswissenschaften insgesamt und auch in Prävention und Gesundheitsförderung von zentraler Bedeutung ist.

Die historischen Erfahrungen haben ihren Niederschlag in den Aktualisierungen der ärztlichen Berufsethik gefunden (International code of medical ethics, Deklaration von Genf, Deklaration von Helsinki). Das „Genfer Ärztegelöbnis“ ist der Präambel der ärztlichen Berufsordnung vorangestellt.

Prävention und Gesundheitsförderung können in der individuellen und persönlichen Lebensweise angesiedelt sein, sie können aber auch die Gestaltung sozialer bzw. gesellschaftlicher Zusammenhänge betreffen. Ethische Fragen der Prävention und Gesundheitsförderung gehen als Public Health-Ethik damit über die skizzierte traditionelle ärztliche Berufsethik hinaus. Sie berühren auch andere Berufsgruppen und andere Zielgruppen.

Ethik und Philosophie

Ethik ist eine Teildisziplin der praktischen Philosophie. In der Philosophie werden unterschiedliche ethische Ansätze verfolgt. Eine häufige Unterscheidung ist z. B. die zwischen Pflichtenethik (Deontologie), Tugendethik und konsequentialistischer Ethik.

Die Pflichtenethik geht von festen Handlungsnormen aus. Kant hat die höchste dieser Normen als „kategorischen Imperativ“ bezeichnet: Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns Grundlage für ein allgemeines Gesetz sein kann. Die Tugendethik geht vom Wert persönlicher Tugenden aus, die angestrebt werden sollen, z. B. Tapferkeit oder Wahrhaftigkeit: Gut handelt, wer aus einer solchen Tugend heraus handelt. Die konsequentialistische Ethik blickt dagegen auf die Folgen des Handelns. Eine Handlung ist dann ethisch gerechtfertigt, wenn die Folgen gut oder nützlich sind.

Die einflussreichste Richtung der konsequentialistischen Ethik ist der Utilitarismus, der vielen Verfahren der gesundheitsökonomischen Evaluation zugrunde liegt und darüber hinaus in Public Health insgesamt eine wichtige Rolle spielt. Der Utilitarismus sieht eine Handlung dann als ethisch gerechtfertigt an, wenn der daraus resultierende Gesamtnutzen positiv ist, selbst wenn einige Menschen dabei Nachteile in Kauf nehmen müssen. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde dieser Logik Grenzen setzt.

Klaus Dörner, ein bedeutender Vertreter der deutschen Sozialpsychiatrie, hat beispielsweise in Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ gefordert, nicht utilitaristisch zu denken, sondern stets die Schwächsten im Blick zu behalten: „Handle so, dass du in deinem Verantwortungsbereich mit dem Einsatz all deiner Ressourcen an Hörfähigkeit, Aufmerksamkeit und Liebe, aber auch Manpower und Zeit immer beim jeweils Schwächsten beginnst – bei dem, bei dem es sich am wenigsten lohnt.“ (Dörner 2005) In der Prävention und Gesundheitsförderung ist dabei vor allem an die Verringerung sozialer Ungleichheit (Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit) zu denken.

Ein prominenter Vertreter einer an Rechten orientierten und egalitär-liberalen Ethik ist John Rawls (1958, 2020 und Rawls 1979). Er plädiert ebenfalls für eine besondere Hinwendung zu den vulnerabelsten Personen, den „worst off“-Mitgliedern einer Gesellschaft, wenn auch aus anderen ethischen Überlegungen als der oben zitierte Klaus Dörner.

Gegen alle der genannten ethischen Grundkonzepte lassen sich schwerwiegende Einwände formulieren, es gibt keinen Konsens über die „richtige Ethik“ in der Philosophie. Daher haben manche Autoren und Autorinnen vorgeschlagen, von Prinzipien auf mittlerer Abstraktionsebene auszugehen, die leichter allgemeine Anerkennung finden und von verschiedenen philosophischen Ansätzen her zu begründen sind (Prinzipienethik), oder anhand exemplarischer Fälle zu diskutieren (case-based approaches, kasuistischer Ansatz) (vgl. z. B. Coughlin 2006).

Ethische Dimensionen präventiver bzw. gesundheitsförderlicher Strategien und Maßnahmen

Im angelsächsischen Sprachraum gibt es seit einigen Jahren eine intensive Diskussion zur Public Health-Ethik, die sich auch mit bevölkerungsbezogenen Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung beschäftigt. Aufgegriffen wurde dabei z. B. der aus den Biowissenschaften kommende prinzipienethische Ansatz von Beauchamp und Childress (2013). Sie formulieren vier ethische Grundprinzipien: Autonomie, Wohltätigkeit, Nichtschädigung und Gerechtigkeit. Im deutschsprachigen Raum hat Peter Schröder-Bäck (2014) daran anknüpfend fünf Prinzipien einer gegenüber der individualmedizinischen Ethik eigenständig zu konzipierenden Public Health-Ethik formuliert: Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens und Bevölkerungsschutz, Achtung vor der Menschenwürde, Gerechtigkeit, Effizienz sowie Verhältnismäßigkeit. Die Achtung der Menschenwürde ist hier explizit in die kollektivethischen Überlegungen integriert.

Anhand solcher Prinzipien lassen sich die vielfältigen und kontextabhängig häufig komplexen ethischen Dimensionen präventiver bzw. gesundheitsförderlicher Strategien und Maßnahmen zumindest als Fragen aufzeigen:

  • Welche Prioritäten sind in der Prävention und Gesundheitsförderung zu setzen? Werden die richtigen Probleme aufgegriffen? Wie ist die Orientierung an epidemiologischen Befunden gegenüber der Orientierung an Partizipations- und Konsensprozessen ethisch zu bewerten? Haben Kosten-Nutzen-Analysen mehr Gewicht als die Parteinahme für sozial Benachteiligte?
  • Welche Handlungsverpflichtungen ergeben sich aus den sozialepidemiologischen Befunden zu Armut und Gesundheit für Gesundheitsförderung und Prävention?
  • Sollen Fachleute der Gesundheitsförderung sozialpolitisch aktiv werden oder ist das ethisch sogar geboten? Welcher rechtliche Rahmen und welche persönlichen Grenzen sind hierbei zu beachten, auch unter Aspekten der Institutionenethik?
  • Welche neuen ethischen Herausforderungen stellen komplexe Lagen, z. B. im Zusammenhang mit dem Klimawandel (Klimawandel und Gesundheitsförderung)? Welche speziellen Herausforderungen stellt ein in der Sache notwendiger ressortübergreifender Ansatz von „Gesundheit in allen Politikfeldern“ (Gesundheit in allen Politikfeldern/Health in All Policies (HiAP))? Welche ethischen Probleme stellen sich bei einem „One Health“-Ansatz mit ökosystemischer Betrachtung auch von Tierwohl und planetarer Gesundheit? Wie sind dabei berührte internationale Aspekte von „Global Health“ zu bewerten?
  • Wie sind Finanzierungsfragen in der Prävention ethisch zu bewerten? Sind z. B. Zuzahlungen für Gesundheitskurse für sozial Benachteiligte ethisch zu rechtfertigen? Ist politischer Druck auf Hersteller von Impfstoffen zur Senkung von Preisen ethisch zu rechtfertigen, um Rationierung zu vermeiden?
  • Unter welchen Bedingungen darf in die Handlungsautonomie der Einzelnen eingegriffen werden? Darf man z. B. das Rauchen in öffentlichen Räumen oder das Autofahren unter Alkoholeinfluss verbieten? Ist eine Gurtpflicht mit dem Autonomieprinzip vereinbar? Wäre ein Zwang zur Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen legitim, und was rechtfertigt freiheitsbeschränkende Maßnahmen zur Prävention von Seuchen, siehe z. B. die Diskussionen dazu in der Coronakrise?
  • Soll man E-Zigaretten trotz der damit verbundenen Gesundheitsrisiken aktiv bewerben, weil sie gegenüber der Tabakzigarette das kleinere Übel scheinen? Lassen sich alle relevanten zukünftigen Konsequenzen überhaupt verlässlich bestimmen?
  • Darf man auf (gesunde) Menschen präventiv mit gegebenem Risiko von Nebenwirkungen einwirken, z. B. das Trinkwasser für alle Menschen fluoridieren oder eine Impfpflicht einführen?
  • Darf man Untersuchungsbefunde aus Präventivprogrammen an Versicherungen weiterleiten? Muss man die Betroffenen über alle Untersuchungsbefunde informieren, wie ist ein Recht auf „Nichtwissen“ angemessen zu fassen?
  • Wie wird im Eigenverantwortungsdiskurs Verantwortung zugewiesen? Sind „blaming the victim“-Strategien (dem Opfer die Schuld geben) in der Prävention zulässig?
  • Ist die Identifikation und Benennung von Zielgruppen immer unbedenklich, oder gibt es Labeling-Effekte und Stigmatisierungen, z. B. in der Adipositasprävention oder in Präventionsangeboten für sozial Benachteiligte?
  • Ist das präventiv Erreichbare zugleich die Ideal-Norm für alle Menschen? Gibt es eine Pflicht zur Gesundheit?
  • Wo liegen die ethischen Grenzen einer Verbesserung von Gesundheit und körperlichen Leistungen, z. B. durch pharmakologisches Enhancement (Doping) oder durch eugenische Maßnahmen?
  • Welche neuen ethischen Herausforderungen bringt die Verbindung von präventiver und prädiktiver Medizin (Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin) in Zusammenhang mit den auf das Genom bezogenen „OMIC-Wissenschaften“ und Digitalisierung mit sich, sowohl auf der individuellen Ebene, als auch im Public Health-Kontext? Wie soll man in diesem Zusammenhang mit dem „Collingridge-Dilemma“ umgehen, also der Unsicherheit der Folgen einer Technologie, solange sie nicht etabliert ist, und der Pfadabhängigkeit, sobald sie etabliert ist?
  • Was ist beim Sponsoring erlaubt, was in der Drittmittelforschung von Projekten und Programmen der Gesundheitsförderung und Prävention, z. B. im Hinblick auf Zuwendungen der Tabakindustrie?

In der konkreten Entscheidungsfindung sind die ethischen Aspekte mit fachlichen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Aspekten abzuwägen. In einigen Handlungsfeldern gibt es dafür, soweit die Entscheidungsfindung nicht ohnehin rechtlich vorgebahnt ist, Unterstützung durch Ethikcodices oder ethikrelevante Leitlinien, z. B. in der Arbeitsmedizin, bei genetischen Untersuchungen oder der Durchführung von Screenings (Baur, Letzel & Nowak 2009; Nennstiel-Ratzel 2016). Im öffentlichen Gesundheitsdienst (Öffentlicher Gesundheitsdienst [ÖGD] und Gesundheitsförderung) wird dies zu den Aufgaben der 2023 neu gegründeten Fachgesellschaft „Deutsche Gesellschaft für Öffentliches Gesundheitswesen“ gehören.

Ethikcodices sollen dabei nicht das individuelle Gewissen (die individualethische Reflexion) ersetzen, sondern kumuliertes Wissen und ethische Diskursergebnisse verfügbar machen. Die genannten Beispiele mögen auch belegen, dass eine auf das individuelle Verhältnis zwischen Gesundheitsfachkräften und Patientinnen sowie Patienten konzentrierte Berufsethik in Gesundheitsförderung und Prävention nicht ausreicht, weil es oft um Fragen der Systemgestaltung geht, also auch institutionenethisch bzw. ordnungsethisch und auch mit Rücksicht auf geltendes Recht gedacht werden muss.

Für gestaltendes Handeln im öffentlichen Raum mit Beteiligung der Verwaltung – z. B. der Kommunalverwaltung, dem Öffentlichen Gesundheitsdienst oder der Schulverwaltung – wird von den Autoren dieses Leitbegriffs eine zweistufige initiale ethische Prüfung vorgeschlagen. Dabei gilt die erste Stufe der Prüfung der Legitimität und Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme mit Orientierung an den verfassungsmäßigen Grundrechten in einer Abwägung der rechtlichen Belastungen mit den erwarteten Vorteilen. Nur bei grundsätzlicher Bejahung der geplanten Maßnahme in dieser initialen Prüfung folgen dann als zweite Stufe weitere Überlegungen zur Erzielung des größtmöglichen Nutzens in Balance zum möglichen und möglichst minimierten Schaden. Dafür werden die gesundheitlichen, ökonomischen und ökosozialen Effekte einer Maßnahme und auch deren Akzeptanz unter den davon Betroffenen betrachtet, differenziert auch nach vulnerablen Gruppen mit besonderem Schutzbedürfnis wie Kinder, Schwangere, nicht Einwilligungsfähige usw. (Wildner & Zöllner 2016; Wildner & Schröder-Bäck 2024) Eine Unterstützung können dafür strukturierte „Ethik-Tools“ wie beispielsweise die Entscheidungsfindung führende Algorithmen oder strukturierte Fragebögen zur Unterstützung der erforderlichen Reflexionen geben (siehe auch Wildner & Schröder-Bäck 2024).

Wissenschaftlichkeit und Ethik

In Prävention und Gesundheitsförderung werden Handlungsbedarfe häufig epidemiologisch begründet, z. B. anhand der Berechnung von „verlorenen Lebensjahren“ (potential years of life lost, PYLL) oder der „vermeidbaren Sterblichkeit“. Scheinbar verschwinden dadurch ethische Abwägungsfragen hinter epidemiologischen Kennziffern. Gleiches gilt für die Ausrichtung von Zielen an statistischen Durchschnittswerten als „Norm“ (Kuhn 2020). In Anlehnung an eine Formulierung des österreichischen Soziologen Andreas Bogner („Die Epistemisierung des Politischen“) könnte man hier von einer „Epistemisierung des Ethischen“ sprechen. In der Festlegung des präventiven Handlungsbedarfs kommt der Epidemiologie zwar in der Tat ein großer Stellenwert zu, weil sich Interventionen hier, anders als in der Kuration, nicht ohne Weiteres aus der Nachfrage von „behandlungsbedürftigen“ Menschen ergeben. Es gibt jedoch keine einfache Ableitung von Präventionszielen aus epidemiologischen Befunden. Wer das Sollen aus dem Sein ableitet, begeht nach David Hume einen „naturalistischen Fehlschluss“: Es gibt keinen gültigen logischen Schluss vom Sein auf das Sollen.

Epidemiologische Konstrukte wie verlorene Lebensjahre oder vermeidbare Sterblichkeit (Epidemiologie und Sozialepidemiologie) sind davon nicht ausgenommen. Das richtige Handeln lässt sich nicht ausrechnen, was auch für das ethisch richtige Handeln gilt: Es muss im Gespräch, insbesondere unter Einbeziehung der Betroffenen, und unter Offenlegung der herangezogenen Prämissen gesucht werden (ethischer Diskurs). Gerade in Prävention und Gesundheitsförderung kann dazu das Ergebnis gehören, dass sich das ethisch Richtige nicht immer zweifelsfrei bestimmen lässt.

Literatur:

Baur, X., Letzel, S. & Nowak, D. (2009). Ethik in der Arbeitsmedizin. Landsberg: ecomed.

Beauchamp, T. L. & Childress, J. F. (2013). Principles of biomedical ethics. New York: Oxford University Press.

Coughlin, S. S. (2006). Ethical issues in epidemiologic research und public health practice. Emerging Themes in Epidemiology, 3 (16). doi: 10.1186/1742-7622-3-16.

Dörner, K. (2005). Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe – Umgang mit Kranken und Behinderten. Zugriff am 01.01.2024 unter http://bidok.uibk.ac.at/library/doerner-schutzhaft.html.

Kuhn, J. (2020). Präventionsberichterstattung: Methodische Fragen, ethische Fragen – eine Nachbetrachtung. In Robert Koch-Institut & Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Hrsg.) Über Prävention berichten – aber wie? Methodenprobleme der Präventionsberichterstattung (S. 125−131). Berlin: RKI.

Nennstiel-Ratzel, U. (2016). Screeningangebote. In: P. Schröder-Bäck & J. Kuhn (Hrsg.) Ethik in den Gesundheitswissenschaften (S. 231–240). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Rawls, J. (1958, 2020). Justice as Fairness/Gerechtigkeit als Fairness: Englisch/Deutsch. Ditzingen: Reclam.

Rawls, J. (1979). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt: Suhrkamp.

Schröder-Bäck, P. (2014). Ethische Prinzipien für die Public Health-Praxis: Grundlagen und Anwendungen. Frankfurt: Campus Verlag.

Wildner, M. & Zöllner, H. (2016). Ethik staatlichen Handelns im Dienst der Bevölkerungsgesundheit. In: P. Schröder-Bäck & J. Kuhn (Hrsg.). Ethik in den Gesundheitswissenschaften – Eine Einführung (S. 147−164). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Wildner, M. & Schröder-Bäck, P. (2024). Ethische Herausforderungen im Dienst an der öffentlichen Gesundheit. In: G. Roller & M. Wildner (Hrsg.). Lehrbuch Öffentliche Gesundheit. Göttingen und Bern: Hogrefe (in Druck).

Weiterführende Quellen

Bayer, R., Beauchamp, D. E., Gostin, L. O., Jennings, B. & Steinbock, B. (2007). Public Health Ethics: Theory, policy and practice. New York: Oxford University Press.

Collingridge D. (1982): The social control of technology. London: Pinter.

Deutscher Ethikrat (2019). Impfen als Pflicht. Berlin: Ethikrat.

Hafen, M. (2013). Ethik in Prävention und Gesundheitsförderung. Prävention und Gesundheitsförderung, 8(4), S. 284–288. doi: 10.5281/zenodo.44501.

Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt: Suhrkamp.

Kolb, S., Seithe, H. & International Physicians for the Prevention of Nuclear War (1998). Medizin und Gewissen: 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess: Kongressdokumentation. Frankfurt: Mabuse-Verlag.

Naidoo, J. & Wills, J. (2010). Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Gamburg: Verlag für Gesundheitsförderung.

Schröder-Bäck, P. & Kuhn, J. (Hrsg.) (2016). Ethik in den Gesundheitswissenschaften. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Internetadressen:

Deutscher Ethikrat: www.ethikrat.org

Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften: www.drze.de

Nuffield Council on Bioethics: www.nuffieldbioethics.org

Verweise:

Epidemiologie und Sozialepidemiologie, Gesundheit in allen Politikfeldern / Health in All Policies (HiAP), Klimawandel und Gesundheitsförderung, Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) und Gesundheitsförderung, Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin, Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit