Pandemiemanagement durch nicht-pharmakologische Interventionen in der COVID-19-Pandemie
David Klemperer , Joseph Kuhn , Bernt-Peter Robra
Klemperer, D., Kuhn, J. & Robra, B.-P. (2024). Pandemiemanagement durch nicht-pharmakologische Interventionen in der COVID-19-Pandemie. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Nicht-pharmakologische Interventionen (NPIs) sind Public Health-Interventionen ohne Einsatz von Medikamenten oder Impfstoffen mit dem Ziel, die Ausbreitung eines Krankheitserregers zu reduzieren. Im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie wurden vor allem Maßnahmen ergriffen, um übertragungsrelevante Kontakte zu reduzieren oder sicherer zu machen. Die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen auf Bevölkerungsebene ist schwer zu beurteilen, die von Maßnahmenbündeln kann als gesichert gelten. Die rechtlichen Grundlagen für die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen erscheinen noch nicht gesichert.
Schlagworte
COVID-19, SARS-CoV-2, Coronavirus, Pandemiemanagement, Nicht-pharmakologische Maßnahmen, Public Health, Infektionsprävention, Coronavirus-Eindämmung, Rechtliche Grundlagen, Public Health and Social Measures, Infektionskrankheiten
Was sind nicht-pharmakologische Interventionen?
Der Begriff „Nicht-pharmakologische Intervention“ (NPIs) bezeichnet grundsätzlich alle Maßnahmen, die einen positiven Effekt auf die Gesundheit bezwecken, ohne Arzneimittel einzusetzen. In der Medizin handelt es sich häufig um Maßnahmen, die eine Arzneimitteltherapie begleiten, wie z. B. Gewichtsabnahme und körperliche Aktivität zur Blutdrucksenkung. Im Feld Public Health geht es z. B. um bevölkerungsweite Aufklärungsmaßnahmen oder rechtliche Vorgaben. Bei neuen Krankheitserregern sind NPIs unter Umständen die einzigen verfügbaren Maßnahmen, wenn es noch keine wirksamen Medikamente oder Impfstoffe gibt.
NPIs werden auch als „Public Health and Social Measures“ (PHSM) bezeichnet, ein entsprechendes Rahmenkonzept liegt vor (Rehfuess et al. 2023). Es wurde von der Weltgesundheitsorganisation aufgegriffen und weiterentwickelt (WHO 2024).
Die in der COVID-19-Pandemie ergriffenen NPIs sollten die Einschleppung und Verbreitung des SARS-CoV-2 in einer Bevölkerung verhindern oder reduzieren. Dazu gehörten u. a. Reise- und Mobilitätsbeschränkungen (Reiseverbote, Grenzkontrollen, die Isolierung Infizierter und die Quarantäne ihrer Kontaktpersonen) und Empfehlungen oder Verpflichtungen zum Abstandhalten und Masketragen. Hinzu kamen Versammlungseinschränkungen, Schulschließungen oder Homeoffice-Regelungen zur Reduktion arbeitsbedingter Kontakte.
Umfassende Mobilitätseinschränkungen wurden mit einem „Lockdown“ angestrebt. Laut Oxford Dictionary bezeichnet Lockdown das Einschließen von Gefängnisinsassen in ihre Zellen zur Rückgewinnung der Kontrolle bei Aufständen. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie war Lockdown nicht einheitlich definiert. Gebräuchlich waren differenzierende Adjektive wie „weich“ und „hart“ oder Bezeichnungen wie „Voll-Lockdown“ und „Teil-Lockdown“. Letztlich war stets ein ganzes Bündel kontaktbeschränkender NPIs gemeint.
Für Deutschland enthält das Infektionsschutzgesetz (IfSG 2000, in der Fassung vom 12.12.2023, abgerufen am 15.09.2024) in § 28a einen Katalog von 21 NPIs. Sie dürfen nur in einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ ergriffen werden, die vom Deutschen Bundestag festgestellt werden muss (§ 5 IfSG).
Die Schutzmaßnahmen des IfSG (§ 28 a) beziehen sich auf Verpflichtungen, Untersagungen, Beschränkungen und Auflagen in folgenden Bereichen:
- Abstand im öffentlichen Raum
- Tragen eines Mund-Nase-Schutzes
- Vorlage eines Impf-, Genesenen- oder Testnachweises
- Zusammenkünfte von Menschen in Freizeitveranstaltungen, Kulturveranstaltungen, Sportveranstaltungen, Demonstrationen, Versammlungen, religiösen oder weltanschaulichen Treffen
- Reisen, Hotels, gastronomischen Einrichtungen
- Betriebe, Gewerbe, Einzel- oder Großhandel
- Betreten von Einrichtungen des Gesundheits- oder Sozialwesens
- Kitas, Schulen, Hochschulen
Die Schutzmaßnahmen zielen darauf ab, übertragungsrelevante Kontakte zu reduzieren oder bei notwendigen Kontakten die Wahrscheinlichkeit einer Virusübertragung zu vermindern, Kontakte also sicherer zu machen. Mittelbar sollen damit schwerere Krankheitsverläufe und Sterbefälle vermindert und eine Überlastung des Gesundheitswesens sowie Ausfälle der sogenannten „Kritischen Infrastruktur“ (z. B. Feuerwehr, Energieversorgung) vermieden werden, öffentliche Dienstleistungen möglichst aufrechterhalten werden.
Auf strategischer Ebene wird dabei je nach Phase einer Pandemie zwischen Containment (Eindämmung erster Infektionen), Protection (Schutz besonders vulnerabler Gruppen) und Mitigation (Minderung der Auswirkungen auf den Alltag) unterschieden. Es handelt sich um eine idealtypische Phaseneinteilung der Maßnahmen, in der Praxis kommt es zu Überschneidungen (vgl. auch RKI 2020).
SARS-CoV-2: Wie wird das Virus übertragen?
Grundlage der NPIs ist die Unterbrechung des Mechanismus, über den SARS-CoV-2 von Mensch zu Mensch übertragen wird (Transmissionskontrolle).
Infizierte übertragen das SARS-CoV-2-Virus primär über die Ausatemluft durch Atmen, Sprechen, Singen, Niesen, Husten und Schreien. Das Virus befindet sich in festen und flüssigen Partikeln. Zusammen mit dem sie umgebenden Gas werden die Partikel als Aerosol bezeichnet.
Bei Virusinfektionen der Atemwege kann ein Liter Atemluft mehrere Hunderttausend Partikel enthalten. Abhängig von Durchmesser, Dichte und Raumlüftung verbleiben Aerosolpartikel mehr oder weniger lange in der Luft. In unbelüfteten Innenräumen verteilen sie sich gleichmäßig und sinken je nach Durchmesser und Dichte herab. Luftströmungen können bewirken, dass Aerosolpartikel über Stunden in der Raumluft verbleiben und Infektionen auslösen können. In Außenbereichen und in belüfteten Innenräumen werden Partikel durch die Luftströmung abtransportiert, ihre Konzentration dadurch verdünnt (Held et al. 2022). Aus diesem Wissen leiten sich die nicht-pharmakologischen Interventionen ab.
Anfangs hielt man auch eine Übertragung durch Schmierinfektionen für relevant, was u. a. auch zur Anwendung von Desinfektionsmaßnahmen geführt hat. Letztlich spielte dieser Übertragungsweg jedoch nur eine nachrangige Rolle.
Kontaktreduzierung
Zu den kontaktreduzierenden Maßnahmen zählen Veranstaltungsverbote, Arbeiten im Homeoffice sowie Schließung von Kitas, Schulen und Hochschulen, von Geschäften, Restaurants, Kultureinrichtungen sowie auch generelle Beschränkungen für das Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund.
Aktive Maßnahmen zur Fallfindung und Kontaktidentifizierung zielen darauf ab, infizierte Personen und deren möglicherweise infizierte Kontaktpersonen zu identifizieren und zum Schutz Anderer zu isolieren. Dafür wird das Konzept von Testen, Nachverfolgen und Isolieren (Testing – Tracing – Isolating/TTI) angewandt. Isolierung ist eine behördliche, durch das Gesundheitsamt angeordnet Maßnahme für nachweislich positiv getestete Personen. Als Nachweis gilt ein positiver PCR-Test. Die Isolation wird nach festgelegter Dauer und festgelegten Kriterien beendet.
Quarantäne ist eine zeitlich befristete Absonderung von Personen, bei denen der Verdacht auf eine SARS-CoV-2-Infektion besteht, oder von Personen, die als symptomlose Kontaktpersonen von Infizierten das Virus möglicherweise verbreiten können. Quarantäne kann behördlich angeordnet werden oder freiwillig erfolgen.
Im Rahmen der nationalen Teststrategie gab es während der COVID-19-Pandemie verpflichtende Tests für Personen, die beruflich mit Kranken oder besonders gefährdeten Personen Kontakt hatten (z. B. Krankenhäuser, Altenheime). Für freiwillige Tests der Allgemeinbevölkerung wurden Kriterien und die Kostenträgerschaft festgelegt.
Persönliche Schutzmaßnahmen
Als persönliche Schutzmaßnahmen werden Verhaltensweisen bezeichnet, die das Risiko mindern, sich selbst oder Andere zu infizieren. Dazu zählen das richtige Verhalten beim Husten, Niesen und Schnäuzen, so dass Speichel oder Nasensekret nicht in die Umgebung versprüht werden, Händehygiene, das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes oder eines Schutzkittels.
Wirksamkeit von NPIs
Die Auswirkung von NPIs auf das Infektionsgeschehen ist stets von einer Reihe weiterer Faktoren abhängig, die hier nur skizziert werden können. Zunächst spielt das Setting, das adressiert wird, eine wichtige Rolle, etwa öffentliche Räume, Arbeitsstätten, Gemeinschaftsunterkünfte, Schulen oder Altenheime. Des Weiteren variiert die Wirkung von NPIs abhängig von Eigenschaften des Erregers, die sich im Lauf der Pandemie verändern können (Virusvarianten). Zu nennen sind Infektiosität und Kontagiosität (die Fähigkeit, einen Menschen zu infizieren bzw. die Wirksamkeit des Übertragungsweges) sowie Virulenz (Grad der Pathogenität, der krankmachenden Eigenschaften). Weiterhin bedeutsam sind der jahreszeitliche Verlauf (Saisonalität) der Infektionskrankheit, die aktuelle Inzidenz sowie die noch vorhandene oder schon erworbene Bevölkerungsimmunität.
NPIs können nur wirksam werden, wenn sie befolgt werden. Die Befolgung der staatlich verordneten NPIs hängt eng mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen und mit einer klaren und vertrauensbildenden Kommunikationsstrategie zusammen (Eitze et al. 2021).
Die Vielfalt dieser interagierenden Einflussfaktoren macht NPIs zu „komplexen Interventionen“, deren Wirkungspfade nicht einfach zu bestimmen sind (siehe dazu RKI und LGL 2012).
Beurteilt am Kriterium Plausibilität ist den NPIs a priori Wirksamkeit zu unterstellen. Bei dem bekannten Übertragungsmechanismus von Erregern durch Tröpfchen und Aerosole ist es höchst plausibel, dass eine Reduzierung der Anzahl der Begegnungen von Menschen Infektionsketten unterbricht und die Inzidenz von Infektionen senkt.
Es gilt jedoch, auch mit Blick auf die genannten Rahmenbedingungen, die Wirksamkeit von Maßnahmen empirisch zu überprüfen. Die wissenschaftliche Beurteilung der Wirksamkeit von NPIs sollte unter Einbezug aller Studien erfolgen, die sich mit einer bestimmten NPI oder – was meist der Fall ist – einem Bündel von NPIs befassen. Jede Studienform hat hier ihren Stellenwert, sowohl experimentelle Studien, insbesondere randomisierte kontrollierte Studien, als auch Beobachtungsstudien, wie Kohortenstudien und Fall-Kontroll-Studien. Systematische Übersichtsarbeiten fassen die Ergebnisse von Einzelstudien zu einer bestimmten Fragestellung zusammen. Insgesamt ergibt sich so ein Wissenskorpus als Grundlage der Beurteilung von NPIs.
So liegen zum Mund-Nase-Schutz systematische Übersichtsarbeiten, randomisierte kontrollierte Studien, Cluster-randomisierte Studien, natürliche Experimente, Kohortenstudien, Fall-Kontroll-Studien und Laborstudien unter unterschiedlichen Begleitbedingungen vor. In der Zusammenschau ergeben sich sehr deutliche Hinweise auf die Wirksamkeit, insbesondere hinsichtlich der Übertragung der Infektion auf Andere wie auch des Schutzes der eigenen Person vor einer Infektion (Klemperer et al. 2024, Abschnitt 11.4.2). Auch für andere Interventionen wie z. B. Lockdowns liegen umfangreiche empirische Befunde vor (siehe z. B. Fadlallah et al. 2024; Goliaei et al. 2024).
Wie jede Intervention haben auch NPIs unerwünschte Nebenwirkungen, die gesundheitlicher, sozialer oder wirtschaftlicher Natur sein können. In der Coronakrise hatten insbesondere Schulschließungen erhebliche psychische und soziale Folgen für die Kinder, obwohl diese selbst durch das Virus nicht in besonderem Maße gefährdet waren (z. B. Schlack et al. 2023; Wabnitz et al. 2023). Daher ist es wichtig, dass bei solchen Maßnahmen − genau wie bei medizinischen Behandlungen − Nutzen und Risiken abgewogen werden. Dem Vorsorgeprinzip ist jedoch ein hoher Stellenwert zuzumessen, da bei neuen Erregern und komplexen Interventionen oft keine ausreichenden Daten für lineare Wirkungspfade vorliegen.
Zudem haben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, z. B. Ältere und Personen mit Kindern, auch unterschiedliche Präferenzen gegenüber verschiedenen Schutzmaßnahmen. Je nach befragter Gruppe findet man z. B. große Übereinstimmung mit dem Schutzziel, ausreichende Intensivkapazitäten freizuhalten, während die Stabilität der Arbeitslosenquote weniger Gewicht hat (Krauth et al. 2021).
Gesetzliche Grundlagen
Für Maßnahmen gegen „gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“ gilt laut Grundgesetz Artikel 74 Ziffer 19 die konkurrierende Gesetzgebung. Die Gesetzgebungskompetenz für das Infektionsschutzrecht hat also der Bund (Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag 2021). Durch das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz vom 18.10.2020 wurde der Parlamentsvorbehalt in das IfSG eingefügt. Dies bedeutet, dass der Bundestag darüber zu beschließen hat, ob die Voraussetzungen für die erwogenen NPIs vorliegen.
Diese Voraussetzungen sind nach § 5 IfSG gegeben, wenn eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ vorliegt, die im IfSG u. a. dadurch definiert ist, dass sich eine bedrohliche übertragbare Krankheit über mehrere Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland dynamisch ausbreitet oder auszubreiten droht. Hierfür ist die einfache Mehrheit der Stimmen im Bundestag ausreichend. Der Bundesrat ist nicht beteiligt. In der Folge entscheidet die Exekutive, also insbesondere das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und die Landesregierungen, über konkrete NPIs.
Die Infektionsschutzmaßnahmen des IfSG gehen mit Einschränkungen folgender Grundrechte einher (Papier 2020):
- Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG)
- Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)
- Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG)
- Religionsfreiheit und Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG)
- Kunst-, Lehr- und Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG)
- Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 2 GG)
- Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 2 GG)
- Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG)
- Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG)
Für jeden staatlichen Eingriff gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Verhältnismäßig ist eine grundrechtseinschränkende Maßnahme immer nur dann, wenn sie die Kriterien legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit erfüllen (Hart et al. 2021).
Eine im Auftrag des BMG durchgeführte Evaluation der Wirksamkeit der Coronamaßnahmen des IfSG befasst sich in einem eigenen Kapitel mit rechtlichen Aspekten (Allmendinger et al. 2022). Darin stellt der Ausschuss fest, dass das IfSG aus dem Jahr 2000 auf lokale und kurzzeitige Ausbrüche von Infektionskrankheiten ausgelegt war, nicht aber auf eine lang andauernde Pandemie. Die Politik habe darauf ohne konsistentes Gesamtkonzept mit zahlreichen, nicht immer glücklichen Änderungen und Ergänzungen reagiert, was zu einem unübersichtlichen und unsystematischen Regelungsgeflecht geführt habe.
Im Hinblick auf das Verfassungsrecht kritisiert der Sachverständigenausschuss ausdrücklich, dass das IfSG das BMG in § 5 Abs. 2 dazu ermächtige, grundrechtseinschränkende Maßnahmen durch Rechtsverordnung vorzuschreiben. Einschränkungen der Grundrechte seien jedoch vom Gesetzgeber, also dem Bundestag und ggf. dem Bundesrat, zu beschließen und nicht von der Exekutive. Dies gelte in gleicher Weise für „Allgemeinverfügungen“. Das IfSG ermächtige das BMG, Rechtsverordnungen zu erlassen, die von bestehenden Gesetzen abwichen – dies verstoße gegen die verfassungsrechtliche Normenhierarchie, der zufolge die Exekutive als vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden sei (Art. 20 Abs. 3 GG).
Das Bundesverfassungsgericht hat u. a. Lockdowns bei entsprechender Gefahrenlage für verfassungsgemäß erklärt (BVerfG 2021). Die Diskussion über die gesetzlichen Grundlagen der Pandemiemaßnahmen ist aber nicht abgeschlossen (vgl. z. B. Verfassungsblog).
Fazit
Nicht-pharmakologische Interventionen sind insbesondere bei neuen Erregern oft die ersten Maßnahmen, die ergriffen werden können. Sie stellen komplexe Interventionen dar, deren Wirksamkeit oft nur im Bündel und nicht für jede Einzelmaßnahme in jeder Anwendungssituation gezeigt werden kann. In der Coronakrise haben sich die NPIs insgesamt als wirksam erwiesen, wenngleich manche Maßnahmen, z. B. das kurzfristig geltende Verbot, auf einer Parkbank zu sitzen, als überzogen gelten können.
Wie jede Intervention haben auch NPIs unerwünschte Nebenwirkungen. Diese sind in der Coronakrise insbesondere im Zusammenhang mit den Schulschließungen sowie den Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivitäten zutage getreten. Die Angemessenheit ist teils nach wie vor strittig.
Für die Zukunft ist eine verbesserte Rechtsgrundlage für Pandemiemaßnahmen erforderlich. Weiterhin sollte es den Verantwortlichen in der Politik erleichtert werden, fundierte Entscheidungen auf Grundlage der Abwägung von Nutzen und Risiken von NPIs in aktuellen Situationen zu treffen. Zur Stärkung der wissenschaftlichen Politikberatung braucht es daher eine bessere Forschungsinfrastruktur und nicht zuletzt auch eine Klärung der Rolle der Ressortforschungseinrichtungen (Gärditz 2023).
Literatur:
Allmendinger, J., Bergholz, W., Brenner, M., Bunte, A., Domschke, K., Dreier, H., Drosten, Ch., Huster, S., Kießling, A., Kingreen, T., Kroemer, K., Rosenbrock, R., Rübsamen-Schaeff, H., Schmidt, C. M., Siegmund, B., Stöhr, K., Streek, H., Taupitz, J. & Teichert, U. (2022). Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik. Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5. Abs. 9 IfSG. In: Sachverständigenausschuss nach § 5. Abs. 9. Berlin: IfSG.
BVerfG – Bundesverfassungsgericht (2021). Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 − 1 BvR 781/21 -, Rn. 1-306. Zugriff am 15.09.2024 unter www.bverfg.de/e/rs20211119_1bvr078121.html.
Eitze, S., Felgendreff, L., Korn, L., Sprengholz, P., Allen, J., Jenny, M., Wieler, L., Thaiss, H., De Bock, F. & Betsch, C. (2021). Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen im ersten Halbjahr der Coronapandemie: Erkenntnisse aus dem Projekt COVID-19 Snapshot Monitoring (COSMO). Bundesgesundheitsblatt − Gesundheitsforschung − Gesundheitsschutz, 64, S. 268–276. https://doi.org/10.1007/s00103-021-03279-z.
Fadlallah, R., El-Jardali, F., Karroum, L. B., Kalach, N., Hoteit, R., Aoun, A., Al-Jakim, L., Verdugo-Paiva, F., Rada, G. Fretheim, A., Lewin, S., Ludolph, R. & Akl, E. (2024). The effects of public health and social measures (PHSM) implemented during the COVID-19 pandemic: An overview of systematic reviews. Cochrane Evidence Synthesis and Methods, 2(5), e12055. https://doi.org/10.1002/cesm.12055.
Gärditz, K. F. (2023). Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht. Stuttgart: S. Hirzel Verlag.
Goliaei, S., Foroughmand-Araabi, M.-H., Roddy, A., Weber, A., Översti, S., Kühnert, D. & McHardy, A. C. (2024). Importations of SARS-CoV-2 lineages decline after nonpharmaceutical interventions in phylogeographic analyses. Nature Communications, 15(1), 5.267.
Hart, D., Gruhl, M., Knieps, F. & Manow, P. (2021). Wissenschaft, Politik und verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeit. Public Health Forum, 29(1), S. 51−53.
Held, A., Dellweg, D., Köhler, D., Pfaender, S., Scheuch, G., Schumacher, S., Asbach, C. et al. (2022). Interdisziplinäre Perspektiven zur Bedeutung der Aerosolübertragung für das Infektionsgeschehen von SARS-CoV-2. Gesundheitswesen, 84(7), S. 566−574.
Klemperer, D., Kuhn, J. & Robra, B. P. (2024). Corona verstehen – evidenzbasiert. Living eBook. Version 78.0 vom 09.03.2024 Open access. Zugriff am 15.09.2024 unter https://corona-verstehen.de.
Krauth, C., Bartling, T. & Oedingen, C. (2022). Präferenzerhebungen mittels Discrete Choice Experimenten in der COVID-19 Pandemie. Public Health Forum 30(3), S. 193−197. Zugriff am 05.10.2024 unter www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pubhef-2022-0052/pdf?licenseType=free.
Papier, H.-J. (2020). Umgang mit der Corona-Pandemie: Verfassungsrechtliche Perspektiven. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 70(35−37), S. 4−8.
Rehfuess, E. A., Movsisyan, A., Pfadenhauer, L. M., Burns, J., Ludolph, R., Michie, S. & Strahwald, B. (2023). Public health and social measures during health emergencies such as the COVID-19 pandemic: An initial framework to conceptualize and classify measures. Influenza and Other Respiratory Viruses, 17(3), e13110.
RKI − Robert Koch Institut & LGL − Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (2012). Evaluation komplexer Interventionsprogramme in der Prävention: Lernende Systeme, lehrreiche Systeme? Berlin. Zugriff am 15.09.2024 unter https://edoc.rki.de/handle/176904/3238.
RKI (2020). Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung. Berlin. Zugriff am 04.10.2024 unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Ergaenzung_Pandemieplan_Covid.pdf.
Schlack, R., Neuperd, L., Junker, S., Eicher, S., Hölling, H., Thom, J., Ravens-Sieberer, U. & Beyer, A.-K. (2023). Veränderungen der psychischen Gesundheit in der Kinder- und Jugendbevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse eines Rapid Reviews. Journal of Health Monitoring (S1), S. 1−74.
Wabnitz, K., Rueb, M., Pfadenhauer, L. M., Strahwald, B. & Rehfuess, E. A. (2023). Rapid development of an evidence- and consensus-based guideline for controlling transmission of SARS-CoV-2 in schools during a public health emergency − A process evaluation. Front Public Health, 11 1075210. doi.org/10.3389/fpubh.2023.1075210
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2021). Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Infektionsschutzrecht. Zugriff am 15.09.2024 unter www.bundestag.de/resource/blob/831634/8bea2d9b13fb7f2c8ffce0532e58ef97/WD-3-068-21-pdf-data.pdf.
WHO − World Health Organization (2024). Conceptual framework for public health and social measures in the context of infectious disease transmission. Geneva.