Partizipative Gesundheitsforschung
Michael T. Wright , Theresa Allweiss , Nikola Schwersensky
Zitierhinweis: Wright, M., Allweiss, T. & Schwersensky, N. (2021). Partizipative Gesundheitsforschung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Partizipative Gesundheitsforschung ist ein gesundheitswissenschaftlicher Ansatz, der seit den 1980er Jahren international und in den letzten zwanzig Jahren auch in Deutschland in der Gesundheitsförderungs- und Präventionsforschung zunehmend angewendet wird. Im Mittelpunkt steht die Einflussnahme der Menschen, deren Arbeits- oder Lebensverhältnisse Gegenstand der Forschung sind, auf den Forschungsprozess. Mit Bezugnahme auf das Netzwerk Partizipative Gesundheitsforschung (PartNet) und die International Collaboration for Participatory Health Research (ICPHR) und am Beispiel von zwei Forschungsvorhaben werden die Grundlagen der Partizipativen Gesundheitsforschung erklärt.
Schlagworte
Partizipation, Forschung, Stufenleiter der Partizipation
„Partizipative Gesundheitsforschung (PGF) (Participatory Health Research – PHR) ist ein wissenschaftlicher Ansatz, der die Durchführung von Forschung als eine Koproduktion verschiedener Akteurinnen und Akteure versteht. Der Forschungsprozess wird zwischen allen Beteiligten partnerschaftlich organisiert und kontinuierlich im Hinblick auf die Machtverhältnisse reflektiert. Am gesamten Forschungsprozess soll dabei eine maximale Mitgestaltung der Menschen erreicht werden, deren Lebensbereiche erforscht werden. Zu den Beteiligten gehören insbesondere die Menschen, deren Lebensbereiche erforscht werden, sowie u. a. Fachkräfte, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger des Gesundheits-, Sozial- oder Bildungswesens, außerdem Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ziel der PGF ist es, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Veränderungen anzustoßen, die zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen beitragen und gesundheitliche Chancengleichheit (Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung/Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit) stärken.“ (Definition PartNet 2015)
Forschungstraditionen
PGF speist sich aus einer Vielfalt partizipativer Forschungstraditionen unterschiedlicher Länder und Zeiten. All diese Traditionen wurzeln in sozialen Bewegungen, die sich für eine demokratische und inklusive Gesellschaft einsetzen, u. a. Participatory Rural Appraisal (Richard Chambers 1981), emanzipatorische Forschungsansätze (Paolo Freire 1982), Aktionsforschung in der Organisationsentwicklung (Kurt Lewin 1948), Aktionsforschung in der Pädagogik (Jean McNiff 1992), Human Inquiry und Cooperative Inquiry (Peter Reason 1998), Appreciative Inquiry (David Cooperrider & Diana Whitney 1999), Community-Based Participatory Research (Nina Wallerstein u. a. 2018 ), Action Science (Chris Argyris u. a. 1985), konstruktivistische Forschung (Egon Guba & Yvonna Lincoln 1989), feministische Forschung (Patti Lather 1986), Empowerment Evaluation (David Fetterman u. a. 1995) und Democratic Dialogue (Björn Gustavsen 1992). Trotz aller Vielfalt besitzen die verschiedenen Traditionen zwei gemeinsame Merkmale:
- Der Erkenntnisgewinn wird unmittelbar mit der Entwicklung und Erprobung neuer Handlungsmöglichkeiten verknüpft, um die Arbeitsweisen oder Lebensumstände der Beteiligten zu verbessern.
- Alle Beteiligten arbeiten auf Augenhöhe, um möglichst alle Phasen eines Forschungsprozesses gemeinsam zu konzipieren und durchzuführen. In diesem Sinne ist die Forschungsarbeit partizipativ.
Vertreterinnen und Vertreter der PGF gründen ihre Arbeit auf einer oder mehreren dieser Traditionen. Es ist üblich, dass sie je nach Kontext Methoden und Konzepte aus verschiedenen Traditionen anwenden, um ihre Arbeit optimal an den spezifischen Forschungszusammenhang anpassen zu können.
Die neun Stufen der Partizipation
Partizipation in der Forschung kann anhand eines für die Gesundheitsförderung und Prävention entwickelten neunteiligen Stufenmodells konkretisiert werden (Abbildung 1). Bei den ersten zwei Stufen handelt es sich um Nichtpartizipation. Hier wird die Einflussnahme der Menschen, um die es in der Forschung geht, kategorisch ausgeschlossen. Instrumentalisierung (Stufe 1) bedeutet, dass Menschen ohne Rücksicht auf mögliche negative Konsequenzen zu Forschungszwecken eingesetzt werden. Bei Anweisung (Stufe 2) müssen die beforschten Menschen entsprechend den Erwartungen der Forschenden handeln. Diese beiden Stufen verbieten sich aus forschungsethischen Gründen auch in der nicht-partizipativen Forschung.
Bei den Vorstufen der Partizipation (3–5) werden forschungsethische Standards eingehalten, die Perspektiven der beforschten Menschen werden zunehmend wahrgenommen. Auf Stufe 3 (Information) werden die Beteiligten über das Forschungsvorhaben umfassend informiert; damit werden die Bedingungen für ein informiertes Einverständnis erfüllt. Diese Informationslage bildet die Voraussetzung für eine stärkere Beteiligung der Beforschten durch Anhörung (Stufe 4) und Einbeziehung (Stufe 5). Bei einer Anhörung werden beispielsweise Gespräche mit einer Selbsthilfegruppe oder anderen Vertretungen der beforschten Menschen geführt. Es können Forschungsfragen erörtert oder Interventionskonzepte besprochen werden, die erforscht werden sollen. Solche Gespräche dienen u. a. der Klärung und Spezifizierung des Forschungsdesigns. Bei einer Einbeziehung ist der Austausch intensiver z. B. durch wiederholte Gesprächsrunden oder einen formaleren Rahmen für Diskussionen.
Erst auf der Ebene der Partizipation (Stufen 6–8) haben die Menschen, die beforscht werden, einen unmittelbaren, formalen Einfluss auf das Forschungsprojekt. Bei der Mitbestimmung (Stufe 6) kann z. B. eine Forschungskooperation zwischen einer Selbsthilfegruppe und einer wissenschaftlichen Einrichtung etabliert werden. Die teilweise Übertragung der Entscheidungsmacht (Stufe 7) wird z. B. dadurch umgesetzt, dass bestimmte Bestandteile der Studie unter der Regie der beforschten Menschen realisiert werden, wie die Rekrutierungsstrategie, Teile der Datenerhebung, der Datenauswertung oder bestimmte Formen der Ergebnisverwertung. Bei der Entscheidungsmacht (Stufe 8) bestimmen Menschen aus der Gruppe der Beforschten alle wesentlichen Bestandteile der Forschung mit, z. B. indem Vertreterinnen oder Vertreter der Gruppe gleichberechtigte Mitglieder des Forschungsteams sind.
Bei der Selbstorganisation (Stufe 9) handelt es sich schließlich um Forschungsvorhaben, die von den beforschten Menschen eigenständig konzipiert und durchgeführt werden. Diese Form von Forschung wird auch als betroffenenkontrollierte Forschung bezeichnet.
In der PGF sind bisher zwei Schwerpunkte erkennbar, abhängig von Forschungsgegenstand und Zusammensetzung der Beteiligten:
- Praxisforschung (practitioner research), die von Praktikerinnen und Praktikern selbst (mit oder ohne Unterstützung wissenschaftlicher Einrichtungen) konzipiert und umgesetzt wird, um die eigene Praxis zu verbessern.
- Gemeinschaftsforschung (communitybased research), in deren Mittelpunkt (sozial benachteiligte) Menschen bzw. Gemeinschaften von Menschen stehen, die von Angeboten des Sozial- und Gesundheitswesens profitieren sollen. Forschungsziel ist es, diese Menschen zu unterstützen, ihre eigene Lebenslage zu erforschen und dabei Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die diese Lage positiv verändern (oft in Zusammenarbeit mit Praxiseinrichtungen).
PGF-Projekte umfassen in der Regel sowohl Praxis- als auch Gemeinschaftsforschung: Praxiseinrichtungen und Menschen, die von bestimmten Gesundheitsproblemen betroffen sind, arbeiten im Rahmen von Forschungsprojekten zusammen. Diese Kooperationen wollen sowohl die Leistungen des formalen Hilfesystems als auch die Lebensverhältnisse der betroffenen Menschen verbessern.
International wird PGF seit den 1980er Jahren zunehmend diskutiert und praktiziert. Erst in den letzten zwanzig Jahren ist eine vergleichbare Entwicklung im deutschsprachigen Raum zu beobachten. Ein Memorandum der Kooperation für nachhaltige Präventionsforschung (KNP) (Walter u. a. 2012) bezeichnete Partizipative Gesundheitsforschung als vielversprechenden neuen wissenschaftlichen Ansatz für Forschung auf diesem Gebiet. Ausschreibungen der Gesundheitsforschung setzen immer häufiger die Zusammenarbeit mit Praxiseinrichtungen und/oder Betroffenen als Bedingung für eine Förderung voraus. Diese Beteiligung soll die Qualität der Forschungsarbeiten erhöhen, indem z. B. die Relevanz der Forschungsergebnisse für die Praxis gewährleistet und die Perspektiven der Nutzerinnen und Nutzer des Gesundheitssystems berücksichtigt werden. Immer häufiger sitzen auch Praktikerinnen und Praktiker in den Projektbeiräten. In der Regel haben aber Menschen, die dem Wissenschaftsbetrieb nicht angehören, keinen unmittelbaren Einfluss auf zentrale Entscheidungen im Forschungsprozess. Sie agieren überwiegend auf Vorstufen der Partizipation, auf denen weder eine gleichberechtigte Zusammenarbeit noch eine Forschung unter Eigenregie möglich ist (Clar, & Wright 2020).
Forschungsnetzwerke
Seit 2007 existiert im deutschsprachigen Raum das Netzwerk Partizipative Gesundheitsforschung (PartNet), der regionale Partner der International Collaboration for Participatory Health Research (ICPHR), einer internationalen Arbeitsgemeinschaft von Mitgliedern aus Wissenschaft und Praxis in über zwanzig Ländern. Seit 2015 ist zudem PartKommPlus – Forschungsverbund für gesunde Kommunen in sechs deutschen Bundesländern aktiv. PartKommPlus ist das bisher größte PGF-Forschungsvorhaben in Deutschland.
Partizipative Gesundheitsforschung hat sich zu einem gesundheitswissenschaftlichen Ansatz entwickelt, der außerordentlich gut geeignet ist, Prozesse der Partizipation zu untersuchen und zu fördern. Als besonders nützlich erweist sich die PGF bei der Konzipierung und Durchführung von Maßnahmen für sozial benachteiligte Menschen, da hier die fehlende Teilhabe im Mittelpunkt der Problematik der ungleichen gesundheitlichen Chancen steht. Sie befindet sich international in einer Phase der Konsolidierung, bei der die wissenschaftlichen Kriterien sowie die Vor- und Nachteile dieses Ansatzes gegenüber anderen Ansätzen der gesundheitswissenschaftlichen Forschung erarbeitet werden. Hier nimmt die International Collaboration for Participatory Health Research eine zentrale Rolle ein. In enger Kooperation arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Praktikerinnen und Praktiker sowie andere Interessierte zusammen, um sowohl fachliche (methodologische und theoretische) als auch wissenschafts- und praxispolitische Fragen zu klären. Ziel ist es, den partizipativen Forschungsansatz stärker zu etablieren und zu verbreiten. Dadurch soll es möglich werden, PGF häufiger und effektiver einzusetzen und Menschen vor Ort dabei zu unterstützen, innovative Projekte zur Verbesserung der eigenen Gesundheit zu realisieren.
Kernkriterien der Partizipatorischen Gesundheitsforschung
Die folgenden elf Kernkriterien wurden von der International Collaboration for Participatory Health Research (ICPHR) formuliert (ICPHR 2013; Wright 2013). Diese Kriterien konkretisieren die PGF in der Praxis und sollen die partizipativ Forschenden in der kritischen Reflexion ihrer Arbeit unterstützen.
(1) PGF ist partizipativ. Das Kernprinzip der Partizipation unterscheidet sich wesentlich von anderen Formen der Gesundheitsforschung. Ihr Ziel ist ein Maximum an Partizipation all jener Menschen, deren Leben oder Arbeit beforscht wird. Die Partizipation umfasst den gesamten Forschungsprozess, von der Formulierung der Forschungsfrage und des Forschungsziels über die Entwicklung eines Forschungsdesigns, die Auswahl von Methoden der Datenerhebung und -auswertung bis hin zur Durchführung der Forschung und Verwertung der Forschungsergebnisse. Die Qualität der PGF wird maßgeblich dadurch bestimmt, inwieweit es gelingt, die Menschen, deren Leben oder Arbeit im Mittelpunkt der Forschung steht, am Forschungsprozess zu beteiligen. Diese Beteiligung darf sich nicht auf Einladungen beschränken, sondern soll sich der zahlreichen Methoden (Hartung u. a. 2020) bedienen, die in den letzten Jahren entwickelt worden sind, um Menschen in Forschungsprozesse einzubeziehen. Dies setzt ein intensives Engagement der Personen voraus, die ein Forschungsprojekt initiieren.
(2) PGF ist lokal situiert. Sie ist in den Alltag der Menschen eingebettet, deren Leben oder Arbeit beforscht wird. Dadurch ist die PGF stark vom spezifischen Forschungskontext abhängig. Das Forschungsprojekt wird in das Sozialsystem integriert, das vom Forschungsprozess unmittelbar profitieren soll. Ihr lokaler Charakter ist eine Stärke, die die Entwicklung lokaler Theorien fördert. Die lokale Ausrichtung beeinflusst nicht nur den Fokus von Forschungsprojekten, sondern auch die Auswahl der Forschungsmethoden.
(3) PGF ist ein kollektiver Forschungsprozess. Der Forschungsprozess wird in der Regel von einem Forschungsteam gesteuert, das sich aus verschiedenen Interessengruppen zusammensetzt (engagierte Bürgerinnen und Bürger, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, Fachkräfte aus dem Gesundheits-, Sozial- oder Bildungswesen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler u. a.). Eine partizipative Studie kann von all diesen Gruppen initiiert und geleitet werden. Die Bezeichnung „Forscherin“ oder „Forscher“ ist nicht nur den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten, sondern meint alle Mitglieder des Forschungsteams. Die Projektleitung beschränkt sich, anders als bei konventioneller Forschungsorganisation, auf die Moderation eines gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozesses im Team, um die Durchführung, Auswertung und Verwertung des Forschungsprojekts zu realisieren. Ein explizites Ziel der Moderation ist es, allen eine aktive Beteiligung zu ermöglichen.
(4) PGF-Projekte sind Eigentum aller Beteiligten. Ihre Projekte gehören allen Beteiligten (dem Forschungsteam und eventuell anderen formal eingebundenen Partnerinnen und Partnern). Das Team entscheidet gemeinsam, wie die Ergebnisse der Studie am besten berichtet und verbreitet werden, um die Forschungsziele erfüllen zu können.
(5) PGF fördert zivilgesellschaftliches Engagement, um Veränderungsprozesse zu unterstützen. Sie will Veränderungsprozesse zugunsten der Menschen fördern, deren Leben oder Arbeit Gegenstand der Forschung ist. Diese Prozesse können unterschiedliche Ziele haben: Verbesserung der gesundheitlichen Situation einer Bevölkerungsgruppe, Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen (soziale Determinanten von Gesundheit), Gesetzesänderungen, um Ausgrenzungsprozessen entgegenzuwirken (politische Determinanten von Gesundheit), oder Erhöhung der Qualität von Leistungen im Gesundheitswesen. Aktivitäten zur Verbesserung der Lage der beteiligten Menschen sind in den Forschungsprozess eingebettet. Sie sind Gegenstand der Untersuchung oder werden als Empfehlungen auf Grundlage der Studienergebnisse formuliert. Ein Qualitätsmerkmal der PGF ist die Kontinuität der Veränderung: Die beabsichtigten Veränderungen sollen über den Zeitraum des Forschungsprozesses hinausgehen, um eine nachhaltige Verbesserung der untersuchten Problematik zu ermöglichen.
(6) PGF fördert kritische Reflexivität. Kritische Reflexivität bedeutet eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Macht und Machtlosigkeit den Alltag der Menschen beeinflussen, deren Leben oder Arbeit beforscht wird. Diese Auseinandersetzung zielt auf ein kritisches Bewusstsein der Beteiligten ab (vgl. conscientização, Freire 1970). Kritische Reflexivität fordert Fachkräfte auf, ihre Funktion und ihr Wissen zu hinterfragen und dabei das Machtgefälle zwischen ihnen und den Nutzerinnen und Nutzern ihrer Angebote zu beachten. Dies gilt vor allem für die Zusammenarbeit mit Menschen, die stark sozial benachteiligt sind. Die kritisch reflektierte Fachkraft versteht eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Hilfesuchenden als Voraussetzung, um die eigene Expertenrolle auszuüben. Ihr Ziel ist es, eine Befähigung (Empowerment/Befähigung) der Personen im Rahmen der Hilfebeziehung zu unterstützen. Gesundheitsprobleme werden nicht nur als Folge biologischer, sondern auch sozialer Prozesse verstanden, die von der Person nicht kontrolliert werden können. Die kritisch-reflektierte Fachkraft arbeitet mit den Menschen zusammen, die ihre Hilfe suchen, um sowohl individuelle als auch kollektive Strategien zu entwickeln und umzusetzen und so die sozialen Determinanten von Gesundheit zu gestalten. Aus der Perspektive der beteiligten Bürgerinnen und Bürger kann kritische Reflexivität die Entwicklung kritischer Gesundheitskompetenzen (Nutbeam 2000) (Health Literacy/Gesundheitskompetenz) bedeuten. Dadurch sind sie in der Lage, sowohl individuell als vor allem auch kollektiv zu handeln, um Lebensbedingungen zu ändern, die ihre Gesundheit beeinflussen.
(7) PGF generiert Wissen, das lokal, kollektiv, kooperativ, dialogisch und multiperspektivisch ist. Üblicherweise werden neue Erkenntnisse in den Gesundheitswissenschaften von und für ein wissenschaftliches Publikum produziert. Die Vorgänge (Methodologie) und Berichterstattung sind für Nichtwissenschaftlerinnen und Nichtwissenschaftler nur schwer zugänglich. Die Umsetzung der Erkenntnisse in Handlungsansätze für Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sowie andere Interessierte werden dadurch sehr erschwert. Dieses Problem erfährt unter dem Stichwort Wissenstransfer (knowledge translation, translational research) international eine zunehmende Aufmerksamkeit. PGF-Projekte haben in der Regel einen lokalen Fokus, außerdem sind ihre Erkenntnisse in der (lokalen) Praxis anwendbar. Die Menschen, deren Lebensverhältnisse oder Arbeitsweisen im Mittelpunkt der Forschung stehen, können ihr lokales Wissen (auch implizites Wissen genannt) durch den Forschungsprozess explizieren, überprüfen und ergänzen. Lokales Wissen umfasst alles, was Menschen aufgrund eigener Erfahrungen und Erkundungen bereits über das Thema der Untersuchung wissen. Lokales Wissen wird gewöhnlich in Form von lokalen Theorien weitergegeben, die Gesundheitsthemen konkret und unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten beschreiben. Das aus der PGF entstehende Wissen ist koproduziert, dialogisch und multiperspektivisch. Der kollektive Forschungsprozess wird so gestaltet, dass dialogische Verfahren der Wissensproduktion in allen Phasen der Zusammenarbeit angewendet werden können. Die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten sollen im Rahmen dieser Verfahren berücksichtigt werden. PGF wird oft als Prozess der Konsensbildung missverstanden, bei dem die Perspektive hauptamtlicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler keine Rolle spielt. Die Stärke liegt aber gerade darin, dass verschiedene Standpunkte, auch die der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aufgedeckt und überprüft werden können, sodass im Forschungsverlauf eine Vielfalt an Perspektiven dargestellt wird.
(8) PGF zielt auf verschiedene Formen von Wirkung ab. Ein weiteres Kernmerkmal ist ihr Ziel, unmittelbar zu einer Verbesserung der Gesellschaft beizutragen. Lernen und Forschen sind untrennbar verbunden. Soziales Lernen (voneinander lernen) ist ein Grundpfeiler des Forschungsprozesses, der durch den fortdauernden Zyklus von „Beobachten – Reflektieren – Handeln“ charakterisiert ist und neue Erkenntnisse über Zusammenhänge hervorbringt. Es ist der Versuch, auf der Basis einer vertrauensvollen und empathischen Beziehung durch Dialog das Gegenüber zu verstehen. Was die Beteiligten als Mitforschende lernen, ist unterschiedlich. Im besten Fall bewirkt die Forschung einen Prozess des Umdenkens (transformatives Lernen), an dem alle Beteiligten teilhaben und der es ihnen ermöglicht, sich und ihre Umwelt anders zu sehen. PGF-Projekte können auf verschiedenen Ebenen wirken, z. B. auf die am Projekt Beteiligten, auf Formen des bürgerschaftlichen Engagements, auf Einrichtungen und Strukturen des Sozial-, Gesundheits- oder Bildungswesens oder auf die Politik.
(9) PGF erzeugt lokale Evidenz und neue Formen der Generalisierbarkeit. Das koproduzierte, kontextspezifische Wissen erfordert ein Umdenken in Bezug auf tradierte Vorstellungen der Generalisierbarkeit (Verallgemeinerbarkeit). Ein Ziel der PGF ist es, Maßnahmen in einem spezifischen historischen und räumlichen Kontext zu entwickeln, mit dem Fokus auf der lokalen, kleinräumigen Ebene. Dieses Vorgehen produziert eine lokale Evidenz (Evidenz = Beweis), die im Forschungsverlauf von den Beteiligten zusammengetragen und ausgewertet werden kann. Auf Basis der lokalen Evidenz werden Handlungen, die für das untersuchte Gesundheitsthema relevant sind, optimiert. Ob sich die produzierte lokale Evidenz auf andere lokale Kontexte übertragen lässt, hängt davon ab, ob ein Verständnis entwickelt werden kann für die Unterschiede zwischen dem ursprünglichen Kontext, in dem die Daten erhoben und ausgewertet worden sind, und dem neuen Ort, an dem die Handlungen umgesetzt werden sollen.
(10) PGF verfolgt spezifische Validitätskriterien. Sie verwendet sowohl qualitative als auch quantitative Methoden, je nachdem welche Daten für die Beantwortung der Forschungsfragen am besten geeignet sind. Die Methoden werden an die partizipativen Forschungsprozesse angepasst. Diese Anpassung führt oft zu Abweichungen von den Standards der nichtpartizipativen Gesundheitsforschung. Daher hat die PGF eigene Validitätskriterien festgelegt:
- Partizipative Validität beschreibt, inwieweit das partizipative Potenzial aller Beteiligten im Rahmen eines Forschungsprozesses realisiert wird.
- Intersubjektive Validität sagt aus, für wie glaubwürdig und sinnvoll die Beteiligten unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Perspektiven die Forschung halten.
- Kontextspezifische Validität bewertet, inwiefern die Forschung den lokalen Kontext berücksichtigt.
- Katalysatorische Validität ist ein Maß dafür, inwieweit die Forschung zur Verbesserung der Situation der Beteiligten beiträgt.
- Ethische Validität beurteilt, ob die Forschungsergebnisse (auch Veränderungsprozesse) – vor allem aus Sicht der Beteiligten – gerecht und ethisch vertretbar sind.
- Empathische Validität beschreibt, wie sehr die Forschung die Empathie der Beteiligten füreinander stärkt.
(11) PGF ist ein dialektischer Prozess, gekennzeichnet durch ein „kreatives Chaos“. Das Wissen und die Handlungen, die entwickelt werden, entstehen innerhalb eines moderierten, kollektiven Forschungsprozesses. Im Mittelpunkt dieses Prozesses steht der Dialog der Beteiligten, bei dem unterschiedliche Perspektiven an den Tag kommen. Dieser Dialog führt nicht unbedingt zu einem Konsens. Er kann in verschiedene Standpunkte zu einem Gesundheitsthema und damit in divergierende Handlungen münden. Der Dialog, dessen Grundlage die kritische Auseinandersetzung mit Fragen der Kausalität von Gesundheit und Krankheit ist, soll ein transformatives, gegenseitiges Lernen der Beteiligten fördern. Die Aushandlungen zwischen den verschiedenen Perspektiven führen oft zu unvorhersehbaren Änderungen im Forschungskonzept, die von den Beteiligten zunächst als chaotisch wahrgenommen werden können. Daraus entsteht jedoch eine neue Ordnung für die Zusammenarbeit, die die Vielfalt der Perspektiven berücksichtigt.
Projekt PartKommPlus
Die folgenden zwei Projekte zeigen exemplarisch die Bedeutung der PGF für die Entwicklung des Gesundheitswesens.
PartKommPlus – Forschungsverbund für gesunde Kommunen: PartKommPlus ist das bisher größte Forschungsvorhaben in Deutschland, das nach dem Ansatz der PGF arbeitet. PartKommPlus wurde von 2015 bis 2021 im Rahmen des Förderprogramms Präventionsforschung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Untersucht wurde die Partizipation in der kommunalen Gesundheitsförderung mit folgenden Schwerpunkten:
- Zusammenarbeit und Steuerung (Governance) der kommunalen Gesundheitsförderung im Sinne integrierter Strategien,
- Formen der Partizipation verschiedener Akteurs- (Verwaltung, Einrichtungen etc.) und Adressatengruppen in der kommunalen Gesundheitsförderung,
- Auswirkungen der Partizipation auf die kommunale Gesundheitsförderung,
- Beitrag der PGF zur kommunalen Gesundheitsförderung,
- Partizipative Epidemiologie/Gesundheitsberichterstattung und
- Zusammenarbeit in einem partizipativ forschenden Verbundprojekt.
Darüber hinaus wollte der Verbund die Möglichkeiten und Grenzen der PGF im Kontext deutscher Wissenschafts- und Praxisverhältnisse untersuchen. Die vielfältigen Ergebnisse sind in wissenschaftlichen Abhandlungen, Handlungsleitfäden für die Praxis der Gesundheitsförderung und Anleitungen für die Anwendung partizipativer Forschungsmethoden festgehalten.
Projekt GESUND!
GESUND! – Menschen mit Lernschwierigkeiten und Gesundheitsförderung: Dieses Teilprojekt im Verbund PartKommPlus forschte über sechs Jahre (2014 bis 2020) partizipativ zu Themen der Gesundheitsbildung und kommunalen Gesundheitsförderung. Menschen mit Lernschwierigkeiten (Synonym: Menschen mit geistiger Behinderung) galten zum Projektstart als eine Bevölkerungsgruppe, die in Forschungsvorhaben und Programmen zur Gesundheitsförderung selten adressiert wurde. Mittlerweile hat sich diese Situation, in Teilen angestoßen durch das Projekt GESUND!, etwas verbessert. Diese Entwicklung ist deshalb erfreulich, da Menschen mit Lernschwierigkeiten von den Folgen gesundheitlicher Ungleichheit in besonderer Weise betroffen sind und im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein höheres Krankheitsrisiko aufweisen.
Im Projekt GESUND! kooperierte die Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin mit einer Werkstatt für behinderte Menschen (Lichtenberger Werkstätten gGmbH). Mitarbeitende (und z. T. auch Studierende) der Hochschule bildeten zusammen mit Beschäftigten der Werkstatt ein inklusives Team, das in unterschiedlichen Konstellationen verschiedene Studien und Projekte umsetzte (Burtscher u.a. 2017; Becker, & Burtscher 2019; Allweiss, & das GESUND! Team 2020). Leitendes Arbeitsprinzip war die Partizipation der Menschen mit Lernschwierigkeiten an möglichst vielen Arbeitsschritten im Projektverlauf. Dabei wurde besonders auf die Schaffung von Begegnungsräumen geachtet, die die Kommunikation, Reflexion und Durchführung gemeinsamer Aktivitäten unterstützten. Alle Beteiligten gewannen einzigartige Einblicke, lernten von- und miteinander und stärkten ihre sozialen und fachlichen Kompetenzen. Vor allem bei den mitforschenden Menschen mit Lernschwierigkeiten konnte ein Zuwachs an Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit beobachtet werden.
Das inklusive Team entwickelte Empfehlungen und Materialien zur praktischen Umsetzung von Gesundheitsbildung, die für die Gruppe der Adressatinnen und Adressaten besonders relevant sind. Die besondere Bedeutung und Sinnhaftigkeit lässt sich dadurch erklären, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten den Forschungsprozess mitbestimmten. Ihre Interessen und Erfahrungen spiegeln sich in den Ergebnissen wider (siehe z. B. GESUND! Videokanal), verknüpft mit Fachwissen aus den Gesundheitswissenschaften. Mittels Nutzung vielfältiger Verbreitungswege, durch Publikationen, Präsentationen oder Schulungsangebote für Fachkräfte, konnte ein breites Publikum erreicht werden. Die partizipativ erarbeiteten Produkte und Angebote wurden dabei gut angenommen. Die mitforschenden Menschen mit Lernschwierigkeiten beteiligten sich auch an der Verbreitung der Ergebnisse, etwa indem sie auf wissenschaftlichen Tagungen auftraten oder als Co-Referentinnen und -referenten Gesundheitsseminare für Menschen mit Behinderung hielten. Für alle Beteiligten war es motivierend, die selbst gewonnenen Erkenntnisse zu vermitteln und die entwickelten Maßnahmen umzusetzen. Letztlich wurde das inklusive Team darin bestärkt, sich weiter für gesundheitliche Belange insbesondere von Menschen mit Lernschwierigkeiten einzusetzen.
Literatur:
Allweiss, T.; das GESUND! Team (2020). Gesundheitsfördernde Lernräume partizipativ gestalten. Arbeitsweisen und Erfahrungen aus dem Projekt GESUND!. In: heilpaedagogik.de, (3), S. 22–25.
Argyris, C.; Putnam, R.; Smith D. (1985). Action Science: Concepts, Methods, and Skills for Research and Intervention. San Francisco: Jossey-Bass.
Becker, K.-P.; Burtscher, R. (Hrsg.) (2019). Gemeinsam forschen – gemeinsam lernen. Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Partizipativen Gesundheitsforschung. Berlin: Stiftung Rehabilitationszentrum Berlin-Ost (Inmitten).
Burtscher, R.; Allweiss, T.; Perowanowitsch, M.; Rott, E. (2017). Gesundheitsförderung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Leichter lernen mit dem Projekt GESUND!. 2., aktualisierte Auflage. Berlin: vdek.
Chambers, R. (1981). Rapid Rural Appraisal-Rationale. Discussion Paper 155. Brighton: Institute of Development Studies.
Clar, C.; Wright, M. T. (2020). Partizipative Forschung im deutschsprachigen Raum – eine Bestandsaufnahme. Online verfügbar unter https://opus4.kobv.de/opus4-ash/frontdoor/index/index/docId/324 (Zugriff am 04.01.2021).
Cooperrider, D. L.; Whitney, D. (1999). Collaborating for Change: Appreciative Inquiry. San Francisco: Barrett-Koehler Communications.
Fetterman, D. M.; Kaftarian, S. J.; Wandersman, A. H. (1995). Empowerment Evaluation: Knowledge and Tools for Self-Assessment and Accountability. Los Angeles: Sage.
Freire, P. (1970). Pedagogy of the Oppressed. New York: Herder & Herder.
Friere, P. (1982). Creating Knowledge: A Monopoly. New York: Harper.
Guba, E.; Lincoln Y. (1989). Fourth Generation Evaluation. Thousand Oaks: Sage Publications.
Gustavsen, B. (1992). Dialogue and Development. Assen: van Gorcum.
Hartung, S.; Wihofszky, P.; Wright, M. T. (2020). Partizipative Forschung. Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Wiesbaden: Springer VS.
ICPHR – International Collaboration for Participatory Health Research (2013). Position Paper 1: What is Participatory Health Research? Version: May 2013. Berlin: International Collaboration for Participatory Health Research.
Lather, P. (1986). Research as Practice. In: Harvard Educational Review, 55(3), S. 290–300.
Lewin, K. (1948). Resolving Social Conflicts. New York: Harper.
McNiff, J. (1992). Action Research Principles and Practice. London: Routledge.
Nutbeam D. (2000). Health literacy as a public health goal: a challenge for contemporary health education and communication strategies into the 21st century. Health Promotion International, 15, S. 259–267.
Reason, P. (Hrsg.) (1998). Human Inquiry in Action. London: Sage Publications.
Wallerstein, N.; Duran, B.; Oetzel, J.; Minkler, M. (2018). Community-Based Participatory Research for Health: Advancing Social and Health Equity. San Francisco: Jossey-Bass.
Walter, U.; Nöcker, G.; Plaumann, M.; Linden, S.; Pott, E.; Koch, U.; Pawils, S.; Altgeld, T.; Dierks, M. L.; Frahsa, A.; Jahn, I.; Krauth, C.; Pomp, M.; Rehaag, R.; Robra, R. P.; Süß, W.; Töppich, J.; Trojan, A.; von Unger, H.; Wildner, M.; Wright, M. (2012). Memorandum zur Präventionsforschung – Themenfelder und Methoden (Langfassung). Das Gesundheitswesen, 74, e99–e113.
Wright, M. T. (2013). Was ist Partizipative Gesundheitsforschung? Positionspapier der International Collaboration for Participatory Health Research. Prävention und Gesundheitsförderung, 8(3), 122–131.
Weiterführende Quellen:
van der Donk, C.; van Lanen, B.; Wright, M. T. (2014). Praxisforschung im Sozial- und Gesundheitswesen. Bern: Hans Huber.
Hartung, S.; Wihofszky, P.; Wright, M. T. (2020). Partizipative Forschung. Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Wiesbaden: Springer VS.
von Unger, H. (2013). Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS.
Wright, M. T. (Hrsg.) (2010). Partizipative Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention. Bern: Hans Huber.
Wright, M. T.; Kilian, H.; Brandes, S. (2013). Praxisbasierte Evidenz in der Prävention und Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten. Das Gesundheitswesen, 75, 380–385.
Wright, M. T.; Kongats, K. (2018). Participatory Health Research: Voices from Around the World. New York: Springer.
Internetadressen:
Community-Campus Partnerships for Health: www.ccphealth.org
GESUND! Menschen mit Lernschwierigkeiten und Gesundheitsförderung: www.partkommplus.de/teilprojekte/gesund
GESUND! Videokanal: www.youtube.com/channel/UCntMMGlqfJYnOhNsVcmm2ng/videos
International Collaboration for Participatory Health Research: www.icphr.org
Netzwerk Partizipative Gesundheitsforschung: www.partnet-gesundheit.de
PartKommPlus – Forschungsverbund für gesunde Kommunen: www.partkommplus.de
Partizipative Qualitätsentwicklung: www.pq-hiv.de
Verweise:
Empowerment/Befähigung, Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung / Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheitskompetenz / Health Literacy