Psychosomatische Perspektive

Marius Binneböse , Jörg Frommer , Peter Franzkowiak , Florian Junne

(letzte Aktualisierung am 08.12.2022)

Zitierhinweis: Binneböse, M., Frommer, J., Franzkowiak, P. & Junne, F. (2022). Psychosomatische Perspektive. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i098-3.0

Zusammenfassung

Psychosomatische Erklärungsmodelle haben ihren Ursprung in der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, der Medizinischen Anthropologie und der Psychophysiologie. Die Psychosomatik als Krankheits- und Behandlungslehre erforscht den Zusammenhang von psychischen Prozessen und solchen Erkrankungen, bei denen keine klare organische Grundlage ermittelt werden kann (z. B. über serologische, zytologische, histologische oder radiologische Nachweise im Sinne des Biomedizinischen Modells) oder der Organbefund das Gesamtbild der Krankheit nicht hinlänglich erklärt. Sie nutzt ihre Erkenntnisse als Ansatzpunkt für eine umfassende Diagnostik und Behandlung der Krankheiten und Leidenszustände. Darüber hinaus wird auch ein Selbstverständnis als Gesamtkonzept der Heilkunde formuliert. Die Psychosomatik will als „Integrierte Medizin“ in alle Gebiete der Medizin hineinwirken. Sie bezieht sich dabei auf systemtheoretische und konstruktivistisch-zeichentheoretische Grundlagen und hat ein umfassendes, bio-psycho-soziales Erkenntnis- und Behandlungsmodell entwickelt.

Schlagworte

Funktionelle Beschwerden, Bio-psycho-soziales Krankheitsmodell, Somatopsyche


Definitionen

Es gibt kaum eine organische Gesundheitsstörung, die nicht auch psychische Anteile hat − in der Genese, in ihrer Verarbeitung, im sozialen Umfeld der betroffenen Menschen. Psychische und soziale Faktoren können dabei unterschiedlich wirken: kausal, mitauslösend, verlaufsstabilisierend, als Folgeerscheinungen und in Interaktion aller Wirkmöglichkeiten.

Psychosomatische Medizin definiert eine ärztliche Perspektive, die systematisch biologische, psychologische und soziale Einflussfaktoren auf die Entstehung, die Auslösung und den Verlauf von körperlichen Erkrankungen und funktionellen Körpersyndromen untersucht und behandelt (Hoffmann, Holzapfel, Eckhardt-Henn & Heuft 2009). Dazu ist die psychosomatische Medizin als „personenzentrierte Medizin“ nach Viktor von Weizsäcker zu verstehen. Damit ist die Fähigkeit des Behandlers zum Perspektivenwechsel gemeint, das heißt der Fähigkeit zum Oszillieren zwischen der eigenen Perspektive und der Perspektive des Anderen. Die personenzentrierte Medizin betont somit die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel in Übernahme der Perspektivität der Patientinnen und Patienten.

Zentrale Aufgabenfelder sind die Diagnostik und Therapie von häufig komorbiden somatischen Krankheiten und psychischen Störungen und Somatisierungssyndromen, die therapeutische Begleitung bei bedrohter Krankheitsverarbeitung und maladaptivem Krankheitsverhalten sowie die professionelle Unterstützung bei signifikanten psychologischen und psychosozialen Belastungen infolge langwieriger Krankheitsprozesse.

Aus internationaler Perspektive definieren Fava, Cosci & Sonino (2017) die Psychosomatik zwar fachlich vergleichbar, stellen aber die spezifische Wissenschaftlichkeit in Einheit mit den multidisziplinären und integrativen Aspekten der psychosomatischen Versorgung stärker in den Vordergrund: Psychosomatische Medizin ist ein breites interdisziplinäres Feld, das sich mit der Interaktion von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren bei der Regulierung der Balance zwischen Gesundheit und Krankheit beschäftigt. Als „Gesamtkonzept der Heilkunde“ (Uexküll und Wesiack 2012; Köhle et al. 2018) stellt sie einen konzeptionellen Rahmen dar für

  • „wissenschaftliche Untersuchungen zur Rolle der psychosozialen Faktoren, die individuelle Verwundbarkeiten/Vulnerabilitäten, den Verlauf und das Ergebnis jeder Art von Krankheit berühren,
  • die personalisierte und ganzheitliche Herangehensweise an die Patientin bzw. den Patienten mit Ergänzung und Erweiterung der medizinischen Standard-Untersuchungen um das psychosoziale Assessment,
  • die Integration psychologischer und psychiatrischer Therapien in die Prävention, Behandlung und Rehabilitation von medizinischer Krankheit und
  • eine multidisziplinäre Organisation der Gesundheitsversorgung, welche die künstlichen Grenzen der traditionellen medizinischen Fachgebiete überwindet.“ (Fava, Cosci & Sonino 2017, S. 13/14 − eigene Übersetzung)

Die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie hat das geschlossene naturwissenschaftlich-medizinische Konzept des menschlichen Organismus um das Seelische erweitert. Erleben, Verarbeiten und Verhalten der einzelnen Menschen werden systematisch in die Ätiologie und die Behandlung von körperlichen Beschwerden und Krankheiten einbezogen. Psychosomatik in der Medizin ist ein eigenständiger diagnostischer, therapeutischer, rehabilitativer sowie präventiver Ansatz. Er dient zum Verständnis und zur Behandlung von „leib-seelischen“ Zusammenhängen im Krankheitsgeschehen. Für die Beobachtung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten und Leidenszuständen werden psychologische und physiologische Verfahren verwandt.

Psychosomatische Störungen sind alle Organschädigungen oder Störungen körperlicher Funktionsabläufe, deren Entstehung oder Verlauf (Auslösung, Aufrechterhaltung, Verschlechterung) so stark durch psychische bzw. psychosoziale Faktoren beeinflusst sind, dass organmedizinische Ursachen allein das Geschehen nicht ausreichend erklären können. Hierzu zählt insbesondere der somatoforme Formenkreis (was in anderen medizinischen Fachgebieten auch als „funktionelle“ oder „nicht-spezifische“ Körperbeschwerden und Syndrome, im englischen Sprachgebrauch zusammenfassend als „medically unexplained physical symptoms [MUPS]“ bezeichnet wird; siehe im Einzelnen dazu die S-3-Leitlinie der AWMF). In Tabelle 1 werden exemplarische Krankheitsbilder aus der Praxis der Psychosomatischen Medizin systematisiert.

Psychosomatische Störungen und KrankheitenKrankheitsbilder (ausgewählte Beispiele)

Sichtbare organische oder fassbare funktionelle Veränderungen mit Symptomcharakter, bei deren Entstehung und Behandlung psychische Prozesse in der Person als (mit-)entscheidend angenommen werden

Akute und chronifizierte Magen-/Darmgeschwüre und -entzündungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn), Hautekzeme (Dermatitis), rheumatoide Arthritis, essenzieller Bluthochdruck, Asthma bronchiale, Essstörungen

Körperliche Beschwerdebilder ohne nachweisbaren krankhaften Organbefund (vegetative Reaktionen, funktionelle Störungen, somatoforme Störungen)

Herz(angst)neurosen, hypochondrische Störungen, Hyperventilationssyndrom, Reizdarmsyndrom, Cluster- und Spannungskopfschmerz, Fibromyalgie-Syndrom, sexuelle Funktionsstörungen

Seelische Reaktionsbildungen auf körperliche Leiden und traumatische Lebenserfahrungen

Angst- und Panikstörungen, depressive Störungen nach kritischen Lebensereignissen, Gewalt- oder Verlusterfahrungen, nach Unfällen, Operationen oder bei chronischen Krankheitszuständen (Angst und Depression nach Krebserkrankungen), akute Belastungsreaktionen

Tab. 1: Psychosomatische Störungen und exemplarische Krankheitsbilder (in Anlehnung an Bräutigam, Paul & von Rad 1997)

Modellbildungen und Perspektiven

Psychosomatische Erklärungen gehen von einem Kontinuitätsmodell von Gesundheit und Krankheit aus (Gesundheits-Krankheits-Kontinuum). Krankheiten werden nicht als isolierte Organstörungen oder lokalisierbare „Betriebsschäden“ im menschlichen Körper angesehen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer dauerhaften Überbeanspruchung, zuweilen auch des Versagens von körperlichen, seelischen und sozialen Bewältigungsfähigkeiten und Anpassungsreserven eines Menschen. Überforderungen, die auf der psychischen und/oder sozialen Ebene angesiedelt sind, können sich körperlich niederschlagen − und umgekehrt. Damit wird auch eine Revision des naturalistisch-biomedizinischen Begriffs der Kausalität im Krankheitsgeschehen vorgenommen.

Die psychosomatische Perspektive fußt maßgeblich auf dem von Engel (1977) postulierten bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell, das mittlerweile auf einer breiten wissenschaftlichen Evidenz fußt und entsprechende Weiterentwicklungen erfahren hat (vgl. Egle et al. 2020). Das Modell entstand aus der Reaktion auf die Kritik am biomechanischen („Medizin der seelenlosen Körper“) und biosemiotischen Modell („Medizin der körperlosen Seelen“) und entwickelte sich zu einem mehrdimensionalen System, das die vielschichtigen Wechselbeziehungen innerhalb und zwischen den einzelnen Dimensionen (bio-psycho-sozial) betont. Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell beschreibt Erkrankungen als Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt. Hier spielen die individuelle Sozialisation bzw. Biografie der Einzelnen eine maßgebliche Rolle. In dieser zusätzlichen Perspektive liegt der Kern der Psychosomatik.

Das ursprüngliche Verständnis von psychosomatischen Störungen entstammt aus psychoanalytischen Betrachtungen. Wurde früher noch von einer reinen Konfliktpathologie ausgegangen (ein innerseelischer Konflikt drückt sich auf körperlicher Ebene aus), gehen moderne Arbeiten häufig von einer Strukturpathologie aus. Dabei fehlt oder mangelt es Betroffenen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung an basalen Fähigkeiten, innere Konflikte und Gefühlszustände in Worte fassen (Symbolisierung) oder eigene und fremde Gefühlszustände wahrnehmen zu können (Alexithymie). Die hieraus entstehende innerseelische Spannung resultiert in einem Ausdruck körperlicher Symptome wie Schmerzen oder vegetativer Übererregung. Neben der psychoanalytisch bzw. psychodynamischen Perspektive hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch eine verhaltenstheoretische Perspektive etabliert.

Verhaltenstheoretisch, -medizinisch und -therapeutisch bedeutsam sind die einer fehllaufenden Stressreaktion zugrundeliegenden Emotionen und Kognitionen, die physiologischen Reaktionsmuster und verstärkenden Umweltfaktoren. Aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht entsteht eine psychosomatische Störung oder Krankheit insbesondere dann, wenn Menschen v. a. unter chronischer Belastung das natürliche Zusammenspiel von Körper und Seele nicht mehr verstehen. Sie erfahren beide Bereiche als voneinander getrennt, versuchen eine einseitige gesundheitsschädliche „Selbstbehandlung“ (auch „maladaptives Krankheitsverhalten“), z. B. in Form von Risikoverhalten, oder geraten in zwanghafte, sich einschleifende „Teufelskreise“ der Körperbeobachtung, ständiger Gesundheitssorgen, Medikamenteneinnahme etc. Dies führt aber zu neuen krankheitsbezogenen Problemen (Lernpsychologische Perspektive).

Häufige Störungsbilder

Tabelle 2 versammelt häufige somatoforme bzw. vegetative Störungen, die einen psychosomatischen Krankheitswert haben oder mit erhöhter Wahrscheinlichkeit einer nachfolgenden psychosomatischen Erkrankung einhergehen. Die WHO verzichtet in ihrer Internationalen Klassifikation psychischer Störungen auf die Verwendung des Begriffs „psychosomatisch“ (ICD-10-GM-2018; gleichermaßen in der ICD-11). Im Klassifikationssystem ICD-10 haben somatoforme Störungen ein eigenes Kapitel (F.45) und werden dort unterteilt in: Somatisierungsstörung (45.0), undifferenzierte Somatisierungsstörung (45.1), hypochondrische Störung (45.2), somatoforme autonome Funktionsstörung (45.3), anhaltende Schmerzstörung (45.4) und sonstige sowie nicht näher bezeichnete Somatisierungsstörungen (45.8 und 45.9).

Die ICD-11 verzichtet auf eine solche Unterteilung. Hier gibt es, neben der weiterhin bestehenden hypochondrischen Störung in Kapitel „Angst oder furchtbezogene Störungen“, in Kapitel „Störungen des körperlichen Erlebens oder der körperlichen Belastung“ das zusammenfassende Störungsbild „Körperstressstörung“, wobei explizit auf das Diagnosekriterium „keine ausreichende somatische Erklärung“ verzichtet wurde. Hierbei wurde der Entwicklung Folge getragen, dass die psychosomatische Perspektive zunehmend Einkehr in bisher eher rein somatisch betrachtete Erkrankungen erhält (siehe Abschnitt Somatopsyche).

Somatischer Störungsbereich

Mögliche Krankheitsbilder

Kreislauf

- Regulationsstörungen mit zu niedrigem Blutdruck, Schwindel beim Aufstehen und Neigung zum „Umkippen“ (hypotone oder orthostatische Dysregulation, synkopale Anfälle), Schwindel

- Vegetative Herzrhythmusstörungen wie Herzstolpern und -jagen (Extrasystolen, Tachykardie)

- Schmerzen und Engegefühl in der Brust

Atmung

- Kloßgefühl im Hals

- Atembeklemmung

- Zu schnelle und starke Atmung, gelegentlich mit Muskelkrämpfen (Hyperventilationstetanie)

Verdauung

- Übelkeit und Erbrechen

- Magen- oder Bauchschmerzen

- Sodbrennen

- Völlegefühl (Meteorismus)

- Durchfall (Diarrhö)

- Verstopfung (Obstipation)

Harn- und Geschlechtsorgane

- Nächtliches Einnässen (Enuresis nocturna)

- Menstruationsbeschwerden (Dysmenorrhoe)

- Sexuelle Funktionsstörungen

- Blasenschmerzen, ständiger Harndrang

- Prostatabeschwerden, Hodenschmerzen

Haut

- Juckreiz (psychogener Pruritus)

- Kribbelempfindungen

Bewegungsapparat

- Bewegungsschmerz und Verspannung der Muskulatur im Schulter-, Arm-, Wirbelsäulenbereich oder in den Beinen

Chronische Schmerzen

- Migräne, Spannungskopfschmerzen

Tab. 2: Häufige somatoforme bzw. vegetative Störungen (nach Lieb & von Pein 2018)

Bei den verstärkt auftretenden Störungen des Essverhaltens (v. a. psychogene Adipositas, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa als Versuche der Manipulation von Nahrungsaufnahme und Körpergewicht) spielen psychosomatische Faktoren eine wesentliche Rolle. Auch die massenhaft verbreiteten chronisch-degenerativen Zivilisationskrankheiten werden zunehmend unter psychosomatischen Gesichtspunkten betrachtet und behandelt.

Somatopsyche

In den letzten Jahren hat sich durch die zunehmende Einkehr von psychosomatischen Betrachtungsweisen in somatisch geprägten Fachrichtungen wie Innere Medizin und Chirurgie der Begriff „Somatopsyche“ als zweite Säule der Psychosomatik entwickelt. Es geht hierbei um Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten für primär körperlich Kranke bei der Bewältigung der Krankheit sowie den damit einhergehenden psychischen Folgen. Dadurch haben psychosomatische Aspekte zunehmend Eingang in Leitlinien für somatische Erkrankungen wie Herzinsuffizienz, koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus etc. gefunden. Hieraus entwickelten sich vielfältige Behandlungsfelder der Psychosomatik wie Psychokardiologie, Psychodiabetologie, Psychoonkologie, Psychodermatologie und viele mehr.

In der kardiologischen Rehabilitation wird gefordert, dass alle Interventionen und edukativen Angebote auf einer „psychosomatischen Gesamtdiagnose“ (Herrmann-Lingen 2008) beruhen sollten. Sie integriert alle somatischen und psychischen Befunde und macht sie zum Gegenstand eines multimodalen, patientenzentrierten Gesamtbehandlungsplans, der sowohl der kardialen Organerkrankung als auch den psychosozialen Kontextfaktoren und Folgeproblemen Rechnung trägt. Entsprechend soll die Behandlung in chronischen Phasen in Einheit von ambulanter haus- bzw. fachärztlicher Versorgung und psychosomatischer Grundversorgung (Konsiliar- und Liaisondienste) durchgeführt werden.

In der Transplantationsmedizin ist ein Facharzt bzw. eine Fachärztin für Psychosomatische Medizin an vielen Standorten zu einem festen Bestandteil der interdisziplinären Transplantationskonferenz geworden. Das Transplantationsgesetz etwa fordert „vor und nach einer Organübertragung Maßnahmen für eine erforderliche psychische Betreuung der Patienten im Krankenhaus sicherzustellen“ sowie eine Stellungnahme bezüglich möglicher Listung zur Transplantation. Die psychosomatische Perspektive hat somit auch auf institutioneller Ebene Einzug in die somatischen Fachbereiche gefunden.

Neuere Entwicklungen, Verbindungen zu Neurosciences

Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele sowie zwischen Person und Umwelt verläuft vor der manifesten Erkrankung in etlichen Stadien, während derer jedes Teilsystem nicht nur eindimensional reagiert, sondern mehrere Optionen offen hat. Neuere, mit integrativem Anspruch auftretende Konzepte der Psychosomatik verbinden sich mit der Psychoneuroimmunologie, Psycho(patho)physiologie und -endokrinologie, Neurobiologie sowie der (Epi-)Genetik und sind stark von einer systemischen Perspektive geprägt.

Fünf führende schweizerische Psychosomatiker haben 2018 − im Kontext der Entwicklung und Veröffentlichung von fachlich verpflichtenden „Begutachtungsleitlinien Psychosomatische Medizin“ − eine erneuerte Definition vorgestellt, die das integrative Krankheitsverständnis ausdrücklich mit neurowissenschaftlichen Grundlagen und Erkenntnissen rückkoppelt: „Auf Basis neurowissenschaftlicher und psychobiologischer Erkenntnisse hat sich ein integratives Krankheitsverständnis von psychosomatischen Erkrankungen in der Medizin entwickelt. Die Pathophysiologie dieser Erkrankungen ist komplex und vielschichtig. Nach heutigem Wissen handelt es sich um körperliche Symptome, die sich im Rahmen von übergeordneten Perzeptions-, Regulations- und Prägungsprozessen des Zentralnervensystems erklären lassen. Das Störungsniveau liegt dabei wesentlich in der Interaktion des Zentralnervensystems mit peripheren Organen. Diese Interaktion unterliegt einem neuroendokrinen, immunologischen und autonomen Wechselspiel, welches maßgeblich durch das psychische Erleben beeinflusst wird.“ (Egloff et al. 2018, S. 427)

Für die Erhebung von Diagnosen ergibt sich daraus: „Geprüft werden Hinweise veränderter Körperperzeption, vegetativer Dysregulation, neuropsychischer Stresssymptome, psychischer Symptome, veränderter Verarbeitungs- und Verhaltensmuster sowie des biographischen Prägungsprofils. Psychische Komorbiditäten kommen gehäuft bei psychosomatischen Körpersymptomstörungen vor. Diese sind aber weder Krankheitsvoraussetzung noch primäre Entstehungsursache der Körperfunktionsstörungen, sondern oftmals genauso Folge derselben anhaltenden psychobiographischen Stressbelastungen wie die Körpersymptomstörung selbst. Die Lebensgeschichte und das Verhalten der Patienten zeigen entsprechend regelhaft Merkmale und Muster einer ungünstigen stressbiographischen Prägung, welche die psychischen und psychosomatischen Beschwerden gleichermaßen plausibilisieren.“ (ebd.)

Umsetzungen in Prävention, Gesundheitsförderung, Rehabilitation, Recovery

Für die Praxis der Gesundheitsförderung sind psychosomatische Aspekte nicht nur für individuelle und gruppenbezogene Maßnahmen, sondern auch für Interventionen in Settings bedeutsam. So findet in der Arbeitswelt ein rasanter Belastungsstrukturwandel statt, der sich u. a. in Prozessen der Technisierung, Beschleunigung und Aufsplitterung von Arbeitsprozessen äußert. Dadurch wachsen die Anforderungen an Selbstregulation, Flexibilität und Mobilität; in zunehmendem Maße droht dauerhafte Unsicherheit um den Arbeitsplatz.

Epidemiologisch auffällig ist die − in den jährlichen Gesundheits- und Fehlzeitenreports der gesetzlichen Krankenkassen sowie den Jahresberichten der Deutschen Rentenversicherung dokumentierte − stetige Zunahme und Häufung von Krankheitsausfällen und Frühberentungen wegen stressbezogener Überlastungsproblemen, depressiven Störungen einschließlich Burn-Out-Syndrom, psychosomatischen Beschwerdebildern und Suchtproblemen. Dieses Panorama verlangt von der betrieblichen Gesundheitsförderung und dem Gesundheitsschutz (Gesundheitsförderung im Betrieb) auch eine verstärkt psychosomatische Ausrichtung.

Neben den klassischen arbeitsbedingten Gefährdungen und Belastungen werden psychosoziale Belastungen und (Über-)Beanspruchungen, die „vitale Erschöpfung“, Stress-(Fehl-)Bewältigungs-Syndrome im Kontext von Arbeitsprozessen zu Anlässen von Interventionen. Die zielen personal auf die Förderung von Bewältigungskompetenzen und Ressourcenstärkung oder unterstützen die Wiedereingliederung nach Behandlung und Rehabilitation. Strukturelle Interventionen wirken auf die Arbeitsorganisation ein, z. B. durch Abbau von Zeitdruck, Verbesserung von Kommunikation und der Vermeidung von chronischer Über- bzw. Unterforderung.

Die psychosomatische Perspektive − v. a. ihr bio-psycho-soziales Krankheitsmodell und ihre Kontinuitätskonzepte − haben eine Brückenfunktion zwischen klassisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsmodellen und integrativen Gesundheits-Krankheits-Modellen wie der Stress- und Stressbewältigungs-Perspektive (Stress und Stressbewältigung) und der Salutogenese. Sie begründen die Notwendigkeit von multimodalen, gesundheitsfördernden Maßnahmen zur individuellen Kompetenzerweiterung und sozialen Netzwerkförderung in Einheit mit der beständigen Erweiterung von Ressourcen (Resilienz und Schutzfaktoren).

Der „leibseelische Spannungsausgleich“ durch Bewegung, Entspannung und eine Vielzahl weiterer spannungsregulierender Methoden hat zentrale Bedeutung für die Prävention chronisch-degenerativer Massenerkrankungen – sowohl in Form des individuellen Gesundheitshandelns als auch im Rahmen von professionell angeleiteter Gruppenarbeit (Patientenberatung).

Literatur:

AWMF − Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (Hrsg.). S2k-Leitlinie „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“. Zugriff am 08.12.2022 unter https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-029 und S3-Leitlinie „S3-Leitlinie Funktionelle Körperbeschwerden“. Zugriff am 08.12.2022 unter https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-001.

Bräutigam, W., Paul, C. & von Rad, M. (1997). Psychosomatische Medizin. Stuttgart: Thieme.

Bundesärztekammer (2018). Weiterbildungsordnung Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (hier zitiert nach: Weiterbildungsordnung LÄK BW [WBO 2006]).

Egle, U. T., Heim, C., Strauss, B., von Känel, R., Herrmann-Lingen, C., Albus, C. & Titscher, G. (2020). Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell – revisited. In: U. T. Egle, C. Heim, B. Strauß & R. von Känel (Hrsg.) Psychosomatik – neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert (S. 39−48). Stuttgart: Kohlhammer.

Egloff, N. et al. (2018). Begutachtungsleitlinien Psychosomatische Medizin. In: Schweizerische Ärztezeitung, 13−14, 99, S. 425−428. Zugriff am 08.12.2022 unter https://saez.ch/article/doi/saez.2018.06502.

Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. In: Science, Apr 8;196(4286), S. 129−136. doi: 10.1126/science.847460.

Fava, G. A., Cosci, F. & Sonino, N. (2017). Current psychosomatic practice. In: Psychotherapy and Psychosomatics 1, (86), S. 13−30.

Herrmann-Lingen, C. (2008). Psychosomatik der koronaren Herzkrankheit. In: Psychotherapeut 53, S. 143−156.

Hoffmann, S. O., Holzapfel, G., Eckhardt-Henn, A & Heuft, G. (Hrsg.) (2009). Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin. Mit einer Einführung in die Psychodiagnostik und Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer.

Köhle, K et al. (Hrsg.) (2018). Uexküll −Psychosomatische Medizin: Theoretische Modelle und klinische Praxis. 8. Auflage, München: Elsevier.

Lieb, H. & von Pein, A. (2018). Der kranke Gesunde. 6. Auflage, Stuttgart: Trias.

Uexküll, T. & Wesiack, W. (2012). Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: Ein bio-psycho-soziales Modell. In: K. Köhle et al. (Hrsg.). UexküllPsychosomatische Medizin: Theoretische Modelle und klinische Praxis (S. 3−40). 7. Auflage, München: Elsevier.

Weiterführende Literatur:

Herzog, W., Kruse, J. & Wöller, W. (2022). Psychosomatik. Stuttgart: Thieme.

Rief, W. & Henningsen, P. (2015). Psychosomatik und Verhaltensmedizin. Stuttgart: Klett Cotta.

Internetadressen:

Bundesärztekammer: www.bundesaerztekammer.de

Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e.V. (DGPM): www.dgpm.de

Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information: ICD-10-GM-2018 und ICD-11: www.dimdi.de

European Association of Psychosomatic Medicine: www.eapm.eu.com

European Network on Psychosomatic Medicine: www.enpm.eu

Verweise:

Betriebliche Gesundheitsförderung, Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, Lernpsychologische Perspektive, Resilienz und Schutzfaktoren, Salutogenese, Stress und Stressbewältigung