Queere Vielfalt in Gesundheitsförderung und Prävention

Christoph Sonnefeld , Roswitha Piesch , Johannes Breuer

(letzte Aktualisierung am 14.03.2025)

Zitierhinweis: Sonnefeld, C., Piesch, R. & Breuer, J. (2025). Queere Vielfalt in Gesundheitsförderung und Prävention. In: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

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Zusammenfassung

Queere Vielfalt erfordert in Gesundheitsförderung und Prävention einen ressourcenorientierten Zugang. Dabei bestehen unterschiedliche Herausforderungen für die Umsetzung von Maßnahmen. Diese betreffen nicht nur den spezifischen Einbezug sexueller und geschlechtlicher Identitäten in ihrer Diversität, sondern auch die Berücksichtigung der Vielzahl von sozialen Umfeldern. Dies wird exemplarisch anhand des Schutzes vor Konversionsbehandlungen verdeutlicht und zeigt die Notwendigkeit von Partizipation und komplexen Interventionen.

Schlagworte

Sexuelle Gesundheit, Vielfalt, LGBTIQ*, Konversionsbehandlung, Sexuelle Orientierung, Geschlecht


Unter dem Begriff Vielfalt werden – oft auch analog zum Begriff der Diversity (> Diversity und Diversity Management/Vielfalt gestalten) – unterschiedliche Aspekte gebündelt, die Eigenschaften, Lebenssituationen und Spezifika von Menschen und/oder Gruppen beschreiben bzw. beschreibbar machen. Übergreifend werden oft unterschiedliche Ebenen wie Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht und Geschlechtsidentität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung und Identität sowie soziale Herkunft (vgl. Charta der Vielfalt, 2006) differenziert.

Auch die Beobachtung des Zusammenwirkens verschiedener Kategorien, etwa im Rahmen der Intersektionalitätsforschung (vgl. Degele & Winkler, 2007 oder Pöge et al., 2018) ist dabei zunehmend zentral. In einigen Zusammenhängen wird der Begriff Vielfalt zudem beschränkt auf die Beobachtung von Geschlecht und sexuelle Orientierung.

Definition und Hintergrund zu Vielfalt

Geschlecht und Geschlechtsidentität: Geschlecht kann als eine zentrale Strukturkategorie in der westlichen Welt betrachtet werden. Im Hinblick auf die Beobachtung von Geschlecht werden oftmals Dimensionen wie biologische, medizinische oder körperliche Merkmale sowie genuin soziologische Aspekte wie Rolle unterschieden. Spätestens seit den 1990-er Jahren setzt sich das Verständnis um die Konstruiertheit aller dieser Dimensionen durch (vgl. im Hinblick auf die Konstruiertheit von „sex“ Butler, 1993).

Geburtsgeschlecht/biologisches Geschlecht/sex: meist bei der Geburt aufgrund primärer Geschlechtsorgane zugeschriebenes und im Geburtenregister eingetragenes Geschlecht (mehrheitlich „männlich“ oder „weiblich“). Bei inter*-geschlechtlichen Menschen können die körperlichen Merkmale nicht eindeutig als weiblich oder eindeutig als männlich interpretiert werden. Hier kann in Deutschland im Geburtenregister der Geschlechtseintrag frei gelassen oder „divers“ eingetragen werden.

Geschlechtsidentität/gender: eigene Wahrnehmung und subjektive Identifikation mit einem, mit keinem oder mit mehreren Geschlechtern. Da auch die eigene Geschlechtsidentität individuell ist, kann sie auf ganz unterschiedliche Art und Weise beschrieben werden. Hier eine Auswahl:

  • Cis*-geschlechtliche Menschen erleben das bei der Geburt zugeschriebene Geschlecht als passend zu ihrer eigenen Geschlechtsidentität. Einer cis*-geschlechtlichen Person könnte beispielsweise bei der Geburt das Geschlecht weiblich zugeschrieben worden sein, und sie erlebt sich selbst auch als Frau.
  • Für trans*-geschlechtliche Menschen entspricht das bei der Geburt zugeschriebene Geschlecht nicht dem eigenen Erleben und Empfinden.
  • Non-binäre* Menschen fühlen sich weder (ausschließlich) als männlich noch als weiblich. Ihre Geschlechtsidentität kann (zeitweise) männliche oder weibliche Anteile haben, irgendwo dazwischen liegen oder auch ganz außerhalb dieser Kategorien.

Sexuelle Orientierung: Die sexuelle Orientierung ist – ebenso wie Geschlecht – eine zentrale Strukturkategorie in der westlichen Welt. Sie beschreibt im Allgemeinen das persönliche Empfinden und Erleben, ob und zu welchem Geschlecht oder zu welchen Geschlechtern Menschen sich hingezogen fühlen. Dabei umfasst sie unterschiedliche, in sich jedoch nicht zwangsläufig kongruente Dimensionen, zu denen das Sexualverhalten, das Selbstbild, die Fremdwahrnehmung und die Zugehörigkeit zu einer Community gehören. Hinsichtlich der emotionalen Ebene wird zunehmend auch die romantische Anziehung bzw. Orientierung differenziert.

Da die sexuelle Orientierung individuell ist, kann sie auf ganz unterschiedliche Art und Weise beschrieben werden, z. B.:

  • Heterosexuelle Menschen fühlen sich zu einem anderen Geschlecht hingezogen.
  • Homosexuelle Menschen fühlen sich zum eigenen Geschlecht hingezogen.
  • Bisexuelle Menschen fühlen sich zum eigenen Geschlecht und (mindestens) einem anderen Geschlecht hingezogen.
  • Pansexuelle Menschen fühlen Anziehung unabhängig von Geschlecht.
  • Asexuelle Menschen empfinden keine oder wenig sexuelle Anziehung zu anderen Menschen.

Der Begriff „queer“ hat eine komplexe Genealogie, die von unterschiedlichen Aneignungen geprägt ist (vgl. Kraß, 2003). Er umfasst einerseits die Zurückweisung der gesellschaftlichen Normen von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit, also die Beschränkung auf die beiden Kategorien Frau oder Mann. Andererseits wird der Begriff – wie auch hier – als Sammelbezeichnung genutzt.

Der Asterisk * verdeutlicht schriftlich und sprachlich, dass es eine große Vielfalt an persönlichen und gesellschaftlichen Verständnissen von Geschlechtern gibt, die auch über eine binäre oder dichotome Ordnung (zur Unterscheidung Binarität und Dichotomie vgl. Frye, 2000) hinausgehen. Mit dieser Schreib- und Sprechweise (letztere durch einen Glottisschlag für den Asterisk) werden alle Geschlechter und ihre Vielfalt sichtbarer gemacht.

Der Asterisk ist die barriereärmste Variante (auch im Unterschied zum Doppelpunkt, vgl. Koehler & Wahl, 2021) und ist als typografisches Zeichen im Unterschied etwa zum Paragrafen-Zeichen noch nicht regelhaft in seiner Verwendung festgelegt. Aufgrund der – auch gesundheitlich gravierenden – Konsequenzen, die eine nicht korrekte Zuordnung zu Geschlechtern haben kann (vgl. als Überblick zum Misgendern etwa Göth, 2021) und aufgrund der positiven Effekte, die eine geschlechtergerechte Sprache haben kann (vgl. etwa auf der Ebene der Pronomen für das Schwedische Tavits & Pérez, 2019), wird der Asterisk in diesem Leitbegriff sowohl bei Fachbegriffen als auch bei Personenbezeichnungen verwendet.

Gesundheitsförderung und queere Vielfalt

Queere Vielfalt hat im Kontext Gesundheit einen großen Stellenwert. So stehen gerade Menschen, die nicht heterosexuell und/oder nicht cis*-geschlechtlich sind, vor besonderen Herausforderungen im Hinblick auf gesundheitliche Aspekte, die teils miteinander verwoben sind. Zum Beispiel:

  • Spezifische Gesundheitsrisiken: Es existieren verschiedene gesundheitliche Gefährdungen, die auch innerhalb queerer Communities variieren. Zum Beispiel zeigen Mateanalysen, dass lesbische Frauen ein höheres Risiko haben, übergewichtig zu sein; schwule Männer hingegen haben ein höheres Risiko, untergewichtig zu sein – beides im Vergleich zu heterosexuellen Personen (Semlyen et al., 2019). Die Wahrscheinlichkeit für einen Suizidversuch ist bei trans*-Jugendlichen höher als bei schwulen, lesbischen und bisexuellen Jugendlichen, obgleich auch diese ein höheres Risiko aufweisen als heterosexuelle, cis*-geschlechtliche Jugendliche (Di Giacomo et al., 2018). Selbst Noncommunicable Diseases (NCDs) wie etwa Herzerkrankungen sind bei queeren Personen präsenter (Kasprowski et al., 2021).
  • Gesundheitsversorgung: Hinsichtlich der Versorgung kann festgestellt werden, dass Angebote oft nicht spezifisch an der Zielgruppe ausgerichtet sind, um den unterschiedlichen Bedarfen und Lebenswelten queerer Personen entgegenzukommen (Pöge et al., 2020). Teils bestehen große Lücken in der Versorgungslandschaft selbst (ebd.). Umgekehrt kann festgestellt werden, dass Interventionen für Fachkräfte, die Wissen um queere Vielfalt vermitteln, zu einer erheblichen Steigerung des Selbstvertrauens bei medizinischem Personal im Umgang mit queeren Patient*innen führen (Macedo et al., 2024). Aufklärungs- und Sensibilisierungsangebote können demnach zur Verbesserung der Versorgung beitragen, wenn sie (auch) spezifisch queere Vielfalt berücksichtigen.
  • Gesellschaftliche Aspekte: Gerade die Berücksichtigung gesellschaftlicher Kontexte hat im Fokus um queere Vielfalt ein besonderes Gewicht. Gesundheit lässt sich per se nicht ohne diese betrachten – für queere Vielfalt ist dies jedoch besonders zentral. Wie Minderheitenstress-Modelle plausibilisieren (Meyer, 2003), können queerfeindliche Erfahrungen zu Stress führen, die die körperliche und psychische Gesundheit beeinträchtigen und das Gesundheitsverhalten insgesamt negativ beeinflussen (Kasprowski et al., 2021). Da „die Lebensrealitäten von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten (…) weiterhin durch Benachteiligungen gekennzeichnet“ (Pöge et al., 2020, S. 9) sind, müssen gesellschaftlichen Aspekte bei der Gesundheitsförderung und Prävention mitbedacht werden. Es finden sich immer noch „heteronormativ ausgerichtete Gesellschaftsstrukturen und kulturelle Ordnungsmuster, die sich auf die Lebenssituation und damit auch auf die gesundheitliche Lage von LSBTI-Personen auswirken können.“ (ebd., S. 19). Dies betrifft sowohl rechtliche Faktoren als auch Pathologisierungen. Selbst queere Personen, die im Gesundheitswesen arbeiten (wollen), sind nach wie vor mit besonderen Herausforderungen und Barrieren in der Aus- und Weiterbildung konfrontiert (Danckers et al., 2024).

Gesundheitsressourcen und queere Vielfalt

Wie es die drei oben genannten Themenfelder exemplarisch zeigen, bedarf es einer spezifischen Perspektive auf queere Vielfalt. Allerdings ist zu beachten, dass nicht nur spezifische Herausforderungen in den Blick geraten, sondern auch gesundheitsfördernde Faktoren und spezifische Ressourcen berücksichtigt werden. Dies schließt an einen ressourcenorientierten Gesundheitsbegriff (> Gesundheit) an, der nicht das Fehlen von Krankheiten fokussiert, wie es spätestens seit den 1950-er Jahren im Sinne der WHO geschieht. Gesundheit wird hier als Wohlbefinden auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet – insbesondere auch im Hinblick auf soziale Aspekte (vgl. WHO, 2020 [1948]).

Die ressourcenorientierte Perspektive eröffnet verschiedene weiterführende Konzepte, etwa das der > sexuellen Gesundheit. Zugleich rücken spezifische Kompetenzen und Ressourcen in den Blick – auch wenn es um queere Vielfalt geht. So zeigt sich zum Beispiel, dass Personen, die sich als trans* oder non-binär* identifizieren, im Vergleich zur deutschen Allgemeinbevölkerung eine unterdurchschnittliche allgemeine Gesundheitskompetenz aufweisen, im Hinblick auf Mediennutzung zur Gesundheitsförderung jedoch höhere Kompetenzen haben (von der Warth et al., 2024). Es gibt Hinweise darauf, dass Lesben ein stärkeres soziales Netzwerk haben und so auch mehr soziale Unterstützung von ihren Partner*innen und Freund*innen im Vergleich zu heterosexuellen Frauen erhalten. Dies kann dazu beitragen, Stress zu reduzieren und die psychische Gesundheit zu fördern (vgl. Rostosky & Riggle, 2002). Übergreifend lässt sich konstatieren, dass Menschen, die ihre sexuelle und geschlechtliche Identität offen und diskriminierungsfrei leben, ein höheres Maß an psychischer Gesundheit aufweisen als Menschen, die dies nicht tun können (Pöge et al., 2020).

Mit einem derartigen ressourcenorientierten Zugang zu Gesundheit werden nicht nur unterschiedliche Aspekte beobachtbar, die auch für Gesundheitsförderung und Prävention ausschlaggebend sind. Zugleich verhindert er falsche und verkürzende Kausalschlüsse – etwa, dass die sexuelle Orientierung die Ursache für spezifische Gesundheitsrisiken sei; vielmehr ist in den Blick zu nehmen, dass etwa psychische Symptome aus negativen Konsequenzen von queerfeindlichen Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen entstanden sein können.

Mitunter erfordert es besonderer Maßnahmen bis hin zu gesetzlicher Unterstützung, um solche Diskriminierungserfahrungen gering zu halten.

Der Schutz vor Konversionsbehandlungen als Beispiel

Sogenannte Konversionsbehandlungen sind Maßnahmen, die darauf zielen, die sexuelle Orientierung und/oder die geschlechtliche Identität einer Person zu ändern oder zu unterdrücken. Sie stellen eine Gefährdung der individuellen Gesundheit und einen Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung dar. Dies gilt zum einen hinsichtlich der schädlichen Effekte auf die der „Behandlung“ ausgesetzten Personen, die bis zum Suizid reichen können. Zum anderen lösen Konversionsbehandlungen auch gesellschaftliche Stigmatisierungs- und Diskriminierungseffekte aus, etwa in Form von Minderheitenstress und die damit einhergehenden psychischen Belastungen. Schon die grundlegende Annahme einer Behandelbarkeit und Behandlungsbedürftigkeit sind nicht mit internationalen wissenschaftlichen Standards wie dem ICD 11 oder des Welt-Ärzte-Bundes (WMA, 2013), vereinbar (vgl. auch Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, 2019).

Vor diesem Hintergrund wurde in Deutschland Mitte 2020 das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen (KonvBehSchG) erlassen. Es verbietet die Durchführung von Konversionsbehandlungen für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren sowie für Personen, deren Einwilligung auf einem Willensmangel beruht. Auch das Vermitteln, das Anbieten und das Werben dafür sind untersagt.

Auf juristischer Ebene ist mit dem KonvBehSchG ein wichtiger Schritt zur Gesundheitsförderung queerer Personen gelungen, indem diese gesundheitsgefährdende „Behandlungen“ sanktioniert werden. Wenngleich in öffentlichen Diskursen mitunter Kritik an der Verspätung des Verbots geäußert wurde, nimmt Deutschland international eine Vorreiterposition in der rechtlichen Ahndung von Konversionsbehandlungen ein (vgl. Tab. 1).

Land

seit

Verankerung durch die Legislative

Verbot des Werbens und Vermittelns

Brasilien

1999

Nein

Nein

Ecuador

2012

Ja

Nein

Malta

2016

Ja

Ja

Deutschland

2020

Ja

Ja

Kanada

2022

Ja

Teilweise

Frankreich

2022

Ja

Nein

Griechenland

2022

Ja

Ja

Neuseeland

2022

Ja

Nein

Israel

2022

Nein

Ja

Vietnam

2022

Nein

Nein

Norwegen

2023

Ja

Ja

Island

2023

Ja

Nein

Zypern

2023

Ja

Ja

Spanien

2023

Ja

Teilweise

Tab. 1: Übersicht zum rechtlichen Schutz vor Konversionsbehandlungen international. Stand 02.01.2024.

Gleichzeitig wird die Präsenz von Konversionsbehandlungen oftmals unterschätzt. Die EU verweist darauf, dass 5 % der queeren Community bereits Konversionsbehandlungen angeboten wurden und 2 % Erfahrungen mit diesen Pseudotherapien haben (Mijatović, 2023). Etwa eine von vier Personen (24 %) in der EU hat Maßnahmen erlebt, die ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität ändern sollten; für Deutschland liegt diese Zahl – trotz des gesetzlichen Verbots – mit 28 % sogar ein wenig höher (FRA, 2024).

Betrachtet man die Verbreitung von Annahmen einer Behandelbarkeit und Behandlungsbedürftigkeit, sind sie nach wie vor äußerst verbreitet: Für Deutschland zeigt sich, dass 9,2 % der Bevölkerung ab 14 Jahren der Aussage „Homosexualität ist eine Krankheit, die geheilt werden kann“ zustimmen (Decker et al., 2020). Laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Küpper et al., 2017) sind es sogar 10,6 %, wobei der Anteil bei (eher) religiösen oder religiös-fundamentalistischen Befragtengruppen noch höher ist. Auch in professionellen Kontexten ist die Annahme einer Behandelbarkeit und Behandlungsbedürftigkeit in Deutschland weiterhin präsent, wie es Datenerhebungen im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (seit 13. Februar 2025 Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) zeigen, vgl. BZgA/LIEBESLEBEN, 2022).

Trotz des rechtlichen Verbots lässt sich festhalten, dass das Wissen über die Gefahren von Konversionsbehandlungen sowie Haltungen, die diese motivieren, nicht verschwunden sind, zumal die Abschreckungswirkung von Strafandrohung allgemein ohnehin eher gering ist (vgl. Spirgath, 2012).

Komplexität des Phänomens Konversionsbehandlungen

Konversionsbehandlungen bedrohen die Gesundheit, die Selbstbestimmung und die Existenz queerer Personen, indem sie – politisch, religiös und/oder pseudowissenschaftlich legitimiert – die Behandelbarkeit und Behandlungsbedürftigkeit queerer Vielfalt behaupten. Konversionsbehandlungen haben verschiedene Formen und bedienen sich unterschiedlicher Mechanismen. Abb. 1 nennt eine Auswahl von Konversionsbehandlungen und differenziert sie entlang ihrer Formalisierung bzw. Institutionalisierung. Um diesem spezifischen Gesundheitsrisiko zu begegnen und ressourcenorientiert Gesundheit für queere Menschen zu fördern, bedarf es eines Vorgehens, das der Komplexität des Phänomens gerecht wird.

Handlungsfelder und -ebenen

Mit der Komplexität des Phänomens gehen verschiedene Handlungsfelder einher, in denen der Schutz vor Konversionsbehandlungen sowie spezifische Maßnahmen eine besondere Rolle spielen (vgl. Abb. 2). Damit verbunden ist eine sehr große Stakeholder-Landschaft, die lokal noch weiter differenziert werden kann. Zu ihr gehören zivilgesellschaftliche Verbände, Fachgesellschaften, juristische Strukturen sowie Forschung und Behörden. Der Schutz vor Konversionsbehandlung ist somit ein Beispiel par excellence für den Health in all Policies-Ansatz (> Gesundheit in allen Politikfeldern/Health in All Policies [HiAP]).

Zielgruppen

Aus den unterschiedlichen Handlungsfeldern heraus lassen sich unterschiedliche Zielgruppen ableiten: (latent oder akut) gefährdete queere Personen, ihre privaten Umfelder, auch Mittler*innen sowie Fachstrukturen unterschiedlicher Professionen, ebenso wie die Gesamtgesellschaft.

Konsequenzen für die Praxis

Für die Umsetzung von Maßnahmen stellt sich mit der Komplexität des Phänomens, der Handlungsfelder und der Zielgruppen und mit queerer Vielfalt im Gesamten eine zentrale Frage: Wie lassen sich all diese Aspekte im Rahmen der Gesundheitsförderung umfassend und zugleich spezifisch berücksichtigen?

Zunächst eignen sich komplexe Intervention, da diese in einem ausgewogenen Medien- und Maßnahmen-Mix (> Gesundheitskommunikation und Kampagnen) synergetisch unterschiedliche kommunikative Ebenen und Zielgruppen adressieren. Sie können als Prozess betrachtet werden, der zu nachhaltigen Verhaltensveränderungen oder zur Stabilisierung von gesundem Verhalten sowie zur Schaffung und Erhaltung gesundheitsförderlicher Strukturen beiträgt. Dabei bedarf es einer genauen, evidenzbasierten und theoriegeleiteten Planung sowie Umsetzung, oftmals auch mithilfe von Erkenntnissen unterschiedlicher Disziplinen und Zugänge sowie unter Verwendung von transtheoretischen Modellen (> Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung).

Für den Schutz vor Konversionsbehandlungen wird außerdem dem ressourcenorientierten Zugang Gewicht verliehen, da Einzelmaßnahmen im Rahmen komplexer Interventionen konkret Ressourcen (> Systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell in der Gesundheitsförderung) stärken. Dies zum einen hinsichtlich der Wahrnehmung durch einzelne Personen, zum anderen auch strukturell im Zuge des Beitrags zur Bildung von Normen sowie zum Empowerment (> Empowerment/Befähigung) auf gesellschaftlicher Ebene. Das gilt ebenso für einzelne Settings (> Settingansatz/Lebensweltansatz). Daher ist es wichtig, nicht nur queere Personen zu adressieren, sondern auch ihre Umfelder (vgl. zur konkreten Umsetzung Breuer, 2024, Sonnefeld et al., 2024, Breuer & Lulei, 2024).

Neben der Notwendigkeit komplexer Interventionen erweist sich ein weiterer Aspekt für die Praxis als zentral: eine kontinuierliche Partizipation aller Stakeholder. Sie kann etwa durch Bedarfserhebungen und Pretestungen, aber z. B. auch durch den Austausch mit zivilgesellschaftlichen Vertretungen sinnvoll sein, denn „[a]lle bisherigen gesundheitswissenschaftlichen Befunde deuten darauf hin, dass Interventionen desto zielgenauer, zeitstabiler und wirksamer sind, je mehr Partizipation es gibt, und zwar auf allen Stufen“ (Rosenbrock, 2010, S. 11).

Partizipation (> Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger) erlaubt es überdies, Ressourcen zu identifizieren und sie in der Umsetzung von Maßnahmen gezielt einzusetzen. So können Interventionen noch grundlegender auch der Diversität queerer Vielfalt gerecht werden, denn die jeweils spezifischen Anliegen und Bedarfe werden auch in ihrer Unterschiedlichkeit sichtbar und damit einbeziehbar.

Literatur:

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Internetadressen:

BIÖG – Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit: LIEBESLEBEN. Queer in Deutschland – Wissen und Erfahrungen zu Konversionsbehandlungen: http://www.liebesleben.de/queer-in-deutschland

Diversity als Chance − Die Charta der Vielfalt für Diversity in der Arbeitswelt: https://www.charta-der-vielfalt.de/

Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen (KonvBehSchG): https://www.gesetze-im-internet.de/konvbehschg/BJNR128500020.html

Verweise:

Diversity und Diversity Management / Vielfalt gestalten, Empowerment/Befähigung, Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung, Gesundheit, Gesundheit in allen Politikfeldern / Health in All Policies (HiAP), Gesundheitskommunikation, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Settingansatz/Lebensweltansatz, Systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell in der Gesundheitsförderung