Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung
Christopher Kofahl , Alf Trojan
Zitierhinweis: Kofahl, C. & Trojan, A. (2021). Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
In der gesundheitsbezogenen gemeinschaftlichen Selbsthilfe werden die Kompetenzen von Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen und ihrer Angehörigen vereint. Impulsgeber für Selbsthilfegruppen waren ursprünglich insbesondere medizinische und rechtliche Informationsdefizite, mangelnde Patientenorientierung sowie der Wunsch nach psychosozialer Unterstützung und Kontrollgewinn. Heute ist die Selbsthilfe als „vierte Säule“ des Gesundheitswesens etabliert, sozialrechtlich verankert und wichtiger Akteur in Politik und Versorgung.
Schlagworte
Selbsthilfegruppe, Selbsthilfeorganisation, Empowerment, Patientenvertretung, Patientenbeteiligung
Selbsthilfe dient der Bedarfsdeckung, Bedürfnisbefriedigung oder Beseitigung von Defiziten jenseits der durch staatliche oder marktwirtschaftliche Aktivitäten vermittelten Fremdhilfe. Mit Beginn des industriellen Zeitalters entstanden die sogenannten Arbeiterselbsthilfekassen als Vorläufer der heutigen Krankenkassen. In anderen Bereichen behauptete sich die Selbsthilfe über lange Zeit als selbstverständliches Prinzip, so z. B. bei der Wohnungsversorgung. Hier gab es immer schon ein starkes Element der selbstorganisierten Errichtung von neuen Bauten und der Instandsetzung von Altbauten. Dies geschah und geschieht immer noch vor allem durch Wohnbau-Genossenschaften.
Die Anfänge der Selbsthilfe in der Gesundheits- und Sozialpolitik
Seit etwa Mitte der 1970er-Jahre hat das Prinzip der Selbsthilfe in der Gesundheits- und Sozialpolitik zunehmend größere Bedeutung bekommen. Ursachen hierfür waren:
- Die Knappheit öffentlicher Mittel für die Versorgung mit professionell organisierten Dienstleistungen
- Die zunehmende Kritik an der „Entmündigung“ der Bürgerinnen und Bürger durch vielfältige Formen professioneller Hilfe
- Die zunehmende Verrechtlichung, Monetarisierung und Bürokratisierung der staatlich organisierten Hilfen in der Sozialpolitik
- Versorgungsmängel, Vernachlässigung der psychosozialen Dimension in der Medizin, neue Erkrankungen
In der Sozialpolitikforschung wurde daraufhin dem System der professionellen Versorgung das zwar weniger sichtbare, aber kaum weniger bedeutungsvolle „Laiensystem“ gegenübergestellt, das im Wesentlichen auf dem Prinzip der Selbsthilfe beruht.
Der Begriff „Laie“ leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet so viel wie „zum Volk gehörig“. Heutzutage wird jemand – eigentlich wertneutral – damit benannt, die oder der über keine in einem gegebenen Bereich spezifischen Fachkenntnisse verfügt. Im Kontext der Selbsthilfe unterscheiden die Akteurinnen und Akteure deshalb auch zwischen den „Fachkundigen“ als Bezeichnung für entsprechend qualifizierte Expertinnen und Experten (Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, Sozialrechtlerinnen und Sozialrechtler etc.) und den „Sachkundigen“ als Bezeichnung für die Betroffenen und ihre Angehörigen ohne formale Qualifikation in einem Indikationsgebiet oder Themenfeld, die dann auch unter dem Namen „Expertinnen und Experten in eigener Sache“ auftreten. Diese Rolle ist auch die wesentliche Legitimation für den Großteil der Patientenvertreterinnen und -vertreter etwa im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und anderen Gremien des Gesundheitswesens (Kofahl, 2019; s. u.).
Familiäre Selbsthilfe und Ehrenamt
Untersuchungen zur Inanspruchnahme des Systems der gesundheitlichen Versorgung zeigen weltweit ein beachtliches, jedoch kaum genutztes Potenzial von Hilfebereitschaft in der Bevölkerung. Eine überragende Rolle spielt hier die familiäre Selbsthilfe. Vor allem in der Pflege von chronisch kranken und alten Menschen sind Frauen europaweit mit ca. 80 % die wesentlichen Trägerinnen der familiären Selbsthilfe (Lüdecke, Mnich, Melchiorre, & Kofahl, 2006). Im weit verstandenen Sinne werden der Selbsthilfe auch die unentgeltlichen „ehrenamtlich“ erbrachten Hilfeleistungen im Rahmen von Nachbarschaftshilfe oder im Rahmen der Aktivitäten von Wohlfahrtsverbänden zugerechnet.
Gesundheits-Selbsthilfe wird als Grundlage für neue Ansätze in der besseren Bewältigung von Krankheiten, der Selbstbestimmung des Individuums, der aktiven Beteiligung am Gemeinwesen sowie in der Humanisierung der medizinischen Versorgung betrachtet. Horst Seehofer sprach in seiner Zeit als Bundesgesundheitsminister (1992–1998) gar von der „Vierten Säule“ des Gesundheitssystems (neben der ambulanten und stationären Versorgung sowie dem ÖGD). In jüngerer Zeit wird zunehmend stärker der Beitrag der Gesundheits-Selbsthilfe zur Steigerung des Selbstmanagements und der Gesundheitskompetenz diskutiert und untersucht (Dierks, & Kofahl, 2019; Kofahl, Haack, Nickel, & Dierks, 2019).
Selbsthilfe kann individuell oder in sozial organisierter Weise, d. h. kollektiv in Form solidargemeinschaftlicher Gegenseitigkeitshilfe (Schulz-Nieswandt, & Langenhorst, 2015) erbracht werden. Für die Gesundheitsförderung haben sich besonders die kollektiv organisierten Formen der Selbsthilfe als bedeutsam erwiesen (Hundertmark-Mayser, Möller, Balke, & Thiel, 2004).
Die wachsende Bedeutung der Laien- und Selbsthilfe wurde schon im Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002) deutlich. Band 1 stellt die Nutzerinnen und Nutzer, ihre Kompetenzund Partizipationim Gesundheitswesen heraus und betont insbesondere die hohe Relevanz, die die Nutzerinnen und Nutzer für die Prozess- und Ergebnisqualität des Gesundheitssystems haben (Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement).
Selbsthilfe ist nicht voraussetzungslos. Sie bedarf gewisser Kompetenzen, wie z. B. Artikulations- und Kommunikationsfähigkeit. Für Personen mit geringen Kompetenzen können daher Befähigung und Aktivierung zur Selbsthilfe notwendige Unterstützungsleistungen (Empowerment/Befähigung; Gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit; Health Literacy/Gesundheitskompetenz) sein. Einzelne aktive „Selbsthelferinnen und „Selbsthelfer“ und auch Selbsthilfegruppen vertreten zumeist nicht nur ihre persönlichen Belange, sondern darüber hinaus die Interessen weiterer vom jeweiligen Problem Betroffener. Auf diese Weise fungieren sie oft als eine Lobby für benachteiligte Menschen und helfen so, in Formen des bürgerschaftlichen Engagements die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zu verringern (Anwaltschaft – Vertretung und Durchsetzung gesundheitlicher Interessen).
Selbsthilfegruppen und -organisationen
Selbsthilfegruppen (SHG) und Selbsthilfeorganisationen (SHO) werden unter den Oberbegriffen Selbsthilfezusammenschlüsse oder Selbsthilfevereinigungen zusammengefasst.
Selbsthilfezusammenschlüsse haben nicht nur für die individuelle Bewältigung von Problemen und Krankheiten eine große Bedeutung, sondern auch für die multisektorale Politik der Gesundheitsförderung. Selbsthilfezusammenschlüsse unterschiedlichster Art sind an vielen Programmen insbesondere auf lokaler Ebene beteiligt. Sie treten z. B. ein für eine Neuorientierung und Verbesserung von Gesundheitsdiensten, engagieren sich in der sozialen Beratung, kämpfen für eine bessere Lebensqualität im Stadtteil und setzen sich an vielen Stellen für ökologische und Umweltbelange ein. In den Strukturen der Gesundheitsförderung verkörpern sie das Element von Bürgerbeteiligung und Partizipation (Dierks, Seidel, Horch, & Schwartz, 2006). Insbesondere die Partizipation gewinnt zunehmend an Bedeutung, nicht zuletzt sichtbar an den Ausschreibungsbedingungen der EU und der Bundesministerien in der Gesundheitsforschung: Betroffene sind wo immer möglich grundsätzlich zu beteiligen.
Selbsthilfegruppen: Im Allgemeinen wird heute mit dem Begriff Selbsthilfegruppen ein weites Feld von selbstorganisierten Zusammenschlüssen bezeichnet. "Selbsthilfegruppen sind freiwillige, meist lose Zusammenschlüsse von Menschen, deren Aktivitäten sich auf die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, psychischen oder sozialen Problemen richten, von denen sie – entweder selbst oder als Angehörige – betroffen sind. Sie wollen mit ihrer Arbeit keinen Gewinn erwirtschaften. Ihr Ziel ist eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände und häufig auch ein Hineinwirken in ihr soziales und politisches Umfeld. " (DAG SHG, 1987, S. 5) Im Rahmen der Fördermöglichkeiten z. B. durch die gesetzliche Krankenversicherung nach SGB V § 20h (s. u.) ist ihnen eine Gewinnorientierung sogar untersagt, ebenso durch das Vereinsrecht bei den überwiegend als gemeinnützig anerkannten Selbsthilfezusammenschlüssen.
In der regelmäßigen Gruppenarbeit betonen SHG Authentizität, Gleichberechtigung, gemeinsames Gespräch und gegenseitige Hilfe. Ein enges Verständnis der SHG begreift diese als „Psychologisch-therapeutische Gesprächsgruppen“ (Moeller, Daum, & Matzat, 1994). Wichtigste Merkmale solcher Gesprächsgruppen sind:
- Alle Gruppenmitglieder sind gleichgestellt
- Jede und jeder bestimmt über sich selbst
- Die Gruppe entscheidet selbstverantwortlich
- Jede und jeder geht um ihrer bzw. seiner selbst willen in die Gruppe
- Es gibt eine Gruppenschweigeverpflichtung
- Kostenlose Teilnahme
SHG werden nicht von professionellen Helferinnen oder Helfern geleitet; manche greifen jedoch auf (kommunikations-)psychologische Hilfe bei ihrer Gruppengründung zurück oder ziehen gelegentlich Expertinnen und Experten zu bestimmten Fragestellungen hinzu (Selbsthilfeförderung und Unterstützung). Insbesondere Einrichtungen zur Unterstützung von Selbsthilfe (Selbsthilfekontaktstellen und -büros) nehmen hier eine zentrale Rolle ein. Einer Umfrage von 2013 mit knapp 1.200 SHG zufolge sind die Selbsthilfekontaktstellen mit fast 90 % der am häufigsten genannte Kooperationspartner (Kofahl, Schulz-Nieswandt, & Dierks, 2016). Von den SHG gibt es fließende Übergänge zu Bürgerinitiativen, zu alternativen (Selbsthilfe-)Projekten und zu bestimmten Formen von Laienhelfergruppen, die häufig aus SHG entstanden sind.
Die Zahl der SHG in der Bundesrepublik wird auf rund 100.000 mit 3 bis 3,5 Millionen Mitgliedern geschätzt. Diese Hochrechnungen sind trotz sich abzeichnender rückläufiger Tendenzen in einigen Selbsthilfeorganisationen seit zwei Jahrzehnten stabil. Verschiedenen Repräsentativerhebungen zufolge waren zwischen 8 % und 9 % aller Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens schon einmal Mitglied einer SHG, etwa die Hälfte von ihnen in ihrer Rolle als Angehörige bzw. Angehöriger eines betroffenen Familienmitglieds (Gaber, & Hundermark-Mayser, 2005; FORSA, 2016).
Selbsthilfeorganisationen: Von Selbsthilfeorganisationen spricht man, wenn Selbsthilfegruppen einen höheren Grad an organisatorischer Komplexität entwickeln. Am ältesten und bekanntesten sind die SHO bzw. Selbsthilfeverbände von Behinderten und chronisch Erkrankten, von denen einige bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurden und manche heute über 100.000 Mitglieder haben. Inzwischen gibt es nicht nur für fast alle chronischen Krankheiten wie z. B. Asthma, Diabetes, Krebs, Rheuma, Multiple Sklerose oder Zöliakie entsprechende Organisationen bzw. Verbände, sondern insbesondere seit den 1990er-Jahren auch zunehmend mehr, meist kleinere SHO für seltene Erkrankungen sowohl auf Bundes- wie auch auf Länderebene.
Ein weiterer großer Bereich mit langjähriger Tradition ist das Gebiet der Suchterkrankungen. Letztere haben durch die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entstandenen und nach Europa gelangten Abstinenzvereine die längsten Traditionslinien. Obgleich diese Bewegungen mehr oder weniger professionelle fürsorgliche Fremdhilfe waren, hatten sie schon von Anfang an das Prinzip der gemeinschaftlichen Selbsthilfe von Betroffenen integriert (Kofahl, Schulz-Nieswandt, & Dierks, 2016).
Auf Bundesebene existieren heute über 300 gesundheitsbezogene SHO. Der größte Teil von ihnen ist in Dachverbänden wie der Bundesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE e. V., beim PARITÄTISCHEN oder in der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. organisiert. Für den Bereich der seltenen Erkrankungen ist hier die ACHSE (Allianz chronischer seltener Erkrankungen e. V.) hervorzuheben, für den Bereich chronisch kranker und behinderter Kinder und den entsprechenden Eltern-Initiativen das Kindernetzwerk e. V.
Zu ihren Kernaufgaben zählen die SHO Informations- und Aufklärungsarbeit, Gruppeninitiierung und -betreuung, Beratung und Schulung der Mitglieder sowie Lobbyarbeit bis hin zur Patienteninteressenvertretung, u. a. im Gemeinsamen Bundesausschuss und seinen Unterausschüssen (nach § 140 SGB V) (Kofahl, Schulz-Nieswandt, & Dierks, 2016).
Die neuen Aufgaben des Selbsthilfesystems
Die neuen Aufgaben des Selbsthilfesystems spiegeln sich in der Neugestaltung der §§ 20c und 140 im Sozialgesetzbuch V wider. Hintergrund ist das im Jahr 2004 in Kraft getretene GKV-Modernisierungsgesetz(GMG): Seitdem haben von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen entsandte Patientenvertreterinnen und -vertreter auf Basis des § 140f Rede- und Antragsrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss. Die Mitwirkung der Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter ist durch die eigens dafür geschaffene Patientenbeteiligungsverordnung geregelt (Bundesgesetzblatt I., 2013, S. 277).
Darüber hinaus wurde mit dem § 140h die Institution einer oder eines Patientenbeauftragten geschaffen. Ihre Aufgaben bestehen in der Wahrung der Rechte von Patientinnen und Patienten insbesondere auf umfassende und unabhängige Beratung und objektive Information durch Leistungserbringer, Kostenträger und Behörden im Gesundheitswesen sowie auf die Beteiligung bei Fragen der Sicherstellung und qualitativen Verbesserung der medizinischen Versorgung (Partizipation: Mitendscheidung der Bürgerinnen und Bürger).
Mit der größeren Bedeutung der SHG und SHO als Akteurinnen im Gesundheitswesen sind auch Versuche anderer Akteurinnen und Akteure (insbesondere der Pharmaindustrie) gewachsen, SHG und SHO für ihre Interessen einzuspannen. Die Dachverbände der organisierten Selbsthilfe haben aus diesem Grund Leitsätze für die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen mit Selbstverpflichtungscharakter erarbeitet. Während für die SHG Kontakte zur Industrie mit knapp 5 % nur von untergeordneter Bedeutung sind, unterhalten 26 % der SHO Kooperationsbeziehungen mit Unternehmen der Privatwirtschaft (Kofahl, Schulz-Nieswandt, & Dierks, 2016).
Kontrovers wird die Bedeutung der neuen Medien (Web 2.0, Social media, virtuelle Selbsthilfe) diskutiert. Sie schaffen einerseits neue Formen und zusätzliche Zugänge zu Selbsthilfe und Laienpotenzial, werden andererseits aber auch als Bedrohung für die Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen gesehen („Konsumentenhaltung“, Passivität, soziale Isolation). Allerdings sind die SHO in den letzten Jahren den digitalen Entwicklungen gefolgt und bieten nicht nur allesamt eigene Internetauftritte. Mehr als jede zweite SHO unterhält auch Online-Foren und Angebote in sozialen Medien (Nickel et al., 2020). Mit der Einführung des Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG) Ende 2019 wurde der § 20h SGB V dahingehend erweitert, dass nun auch rein digitale Selbsthilfezusammenschlüsse unter bestimmten, allerdings noch zu klärenden Voraussetzungen, durch die gesetzliche Krankenversicherung gefördert werden dürfen.
Selbsthilfeförderung und -unterstützung
Selbsthilfeaktivitäten und bürgerschaftliches Engagement brauchen gewisse unterstützende Rahmenbedingungen, um sich entfalten und entwickeln zu können. Für die Förderung von individueller und kollektiver Selbsthilfe sind rechtliche Regeln, Informationen und Entlastungsleistungen für die Betroffenen und ihre Angehörigen von besonderer Bedeutung. Für SHG und SHO existieren in Deutschland verschiedene Unterstützungsinstrumente. Direkte finanzielle Unterstützungsmaßnahmen werden unter dem Begriff Selbsthilfeförderung zusammengefasst, fachliche und indirekte Hilfen unter dem Begriff Selbsthilfeunterstützung.
Selbsthilfeförderung existiert zum einen durch die öffentliche Hand (Bund und Länder), zum anderen durch die Träger der Sozialversicherung. Der Bund fördert mit ca. 2 Millionen Euro pro Jahr, die Förderung durch die Länder liegt in der Summe bei ca. 11 Millionen Euro pro Jahr, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den Ländern. Die Fördersumme der Deutsche Rentenversicherung liegt jährlich bei ca. 3,5 Millionen Euro pro Jahr (vgl. NAKOS, 2019).
Seit 1993 existiert eine gesundheitsbezogene Selbsthilfeförderung durch die gesetzlichen Krankenkassen auf der Basis des SGB V § 20 Abs. 4. Voraussetzung für die Förderfähigkeit war und ist die direkte oder indirekte (d. h. von Angehörigen) Betroffenheit durch eine chronische Erkrankung oder Behinderung entsprechend dem Verzeichnis der Krankheitsbilder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). 2004 wurde dieser Paragraf von einer Kann- in eine Soll-Regelung umformuliert und mit Beginn des Jahres 2008 stringenter in einen eigenständigen Unterparagrafen gefasst (§ 20c). Nach Protesten der Vertreterinnen und Vertreter der Selbsthilfe wegen der zu geringen Mittelweitergabe durch die Krankenkassen wurde hier außerdem eine Muss-Regelung formuliert. Seitdem werden pro Versicherter bzw. Versichertem und Jahr von den gesetzlichen Krankenkassen ein bestimmter Betrag ausgegeben bzw. bei Nichtausgabe im darauffolgenden Jahr zusätzlich an die Institutionen der Selbsthilfe ausgeschüttet. Das am 1.1.2016 in Kraft getretene Präventionsgesetz brachte der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe einen weiteren Förderanstieg. Der § 20c fand einen neuen Platz im § 20h, die Selbsthilfeförderung durch die gesetzliche Krankenversicherung wurde von 0,64 Euro pro Versicherten in 2015 auf 1,05 Euro pro Versicherten in 2016 angehoben. Dieser Betrag wird jährlich angepasst und liegt nun (2021) bei 1,19 Euro, in Summe sind dies 87,3 Millionen Euro.
Die Gesamtförderung der Selbsthilfe durch Bund, Länder und Sozialversicherungen (ohne Pflegeversicherung) hat somit an den Gesamtausgaben des Gesundheitssystems einen Anteil von rund 0,03 %. Weitere Zuwendungen an die Selbsthilfezusammenschlüsse speisen sich im Wesentlichen aus Mitgliedsbeiträgen. Diese tragen bei den SHO zu 36 % und bei den SHG zu 22 % zur Finanzierung der Kosten bei (Kofahl, Schulz-Nieswandt, & Dierks, 2016). Auch Spenden und Stiftungen spielen eine erhebliche Rolle. Von herausragender Bedeutung ist hier beispielsweise die Stiftung Deutsche Krebshilfe, die die Bundesverbände der Krebs-Selbsthilfe mit jährlich über 4 Millionen Euro pro Jahr fördert.
Ein Beispiel für eine implizite Selbsthilfeförderung ist die 1995 in Kraft getretene Soziale Pflegeversicherung (SGB XI), die den Versicherern Beratungspflichten für Betroffene auferlegt, finanzielle Entlastungen, Unfallversicherungsschutz und Rentenansprüche für pflegende Angehörige vorsieht und die Nutzung bestimmter entlastender Dienste wie Tages- oder Kurzzeitpflege ermöglicht. Darüber hinaus besteht seit dem 1. Juli 2008 durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz im SGB XI die Möglichkeit einer Förderung „von Selbsthilfegruppen, -organisationen und -kontaktstellen, die sich die Unterstützung von Pflegebedürftigen, von Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf sowie deren Angehörigen zum Ziel gesetzt haben.“ (SGB XI § 45d) Dieser Paragraf schließt sich an § 45c an, der die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen in Form niedrigschwelliger Betreuungsangebote oder Modellvorhaben regelt.
Die Selbsthilfeförderung ist auch ein Kernelement anderer komplexer Strategien der Gesundheitsförderung, wie z. B. der Gesundheitsbezogenen Gemeinwesenarbeit, des Empowerments oder der Netzwerkförderung.
Selbsthilfe und Gesundheitsförderungspolitik
Die SHG haben sich als ein Schlüsselelement für eine gezielte lokale und manchmal auch überregionale Gesundheitsförderungspolitik herausgestellt (Braun, Kettler, &, Becker, 1997). Eine wichtige Basis der Selbsthilfeunterstützung sind die mehr als 300 Einrichtungen zur Unterstützung von Selbsthilfe, die mit zusätzlichen Zweigstellen in 346 Orten in Deutschland vertreten sind (Stand: Oktober 2020, www.nakos.de). Diese haben sich seit Mitte der 1980er-Jahre zu einem wesentlichen Infrastrukturelement entwickelt. Ca. 40.000 SHG sind bei den Selbsthilfekontaktstellen angesiedelt.
In der Begleitforschung von Modellprogrammen für solche Kontaktstellen (Forschungsverbund Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe, 1987) hat sich gezeigt, dass die Selbsthilfeunterstützung in Städten und Gemeinden auf drei Säulen beruht:
- Direkte SHG-Förderung durch Geld und Sachmittel (wie die Bereitstellung von geeigneten Räumlichkeiten bzw. Treffpunkten)
- Information, Beratung und Kontaktvermittlung durch die Selbsthilfekontaktstellen, abgekürzt als KISS („Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen“) oder mit ähnlichen Kürzeln wie SEKIS, KIBIS, IKOS u. a. m.)
- Ein Beirat bzw. ein Kuratorium für die Schaffung eines selbsthilfefreundlichen Klimas
Eine seit Jahren insbesondere von den Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen vorangetriebene Initiative ist das Konzept der Selbsthilfefreundlichkeit im Gesundheitswesen (www.selbsthilfefreundlichkeit.de) (Trojan, Bellwinkel, Bobzien, Kofahl, & Nickel, 2012). Ziel des Konzepts ist die Verbesserung der Kooperation zwischen Versorgungseinrichtungen und SHG und SHO sowie eine bessere Integration der SHG in die Versorgungseinrichtungen. Kriterien der Selbsthilfefreundlichkeit sind inzwischen in die Qualitätsmanagementsysteme der Kliniken und Arztpraxen eingegangen (Trojan, 2019).
Für die inhaltliche und fachliche Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Selbsthilfeunterstützung sind in besonderem Maße verantwortlich die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. (DAG SHG) als Fachverband der Selbsthilfeunterstützung und -förderung sowie die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) als nationales Zentrum. Selbsthilfekontaktstellen sind ein unverzichtbares Element lokaler Gesundheitsförderungspolitik geworden, weil das Prinzip der Bürgerbeteiligung mit Hilfe der Kontaktstellen einfach und umfassend verwirklicht werden kann (Gesundheitsförderung und Gesunde – Soziale Stadt – Kommunalpolitische Perspektive; Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger; Gesundheitskonferenzen).
Literatur:
Braun, J., Kettler, U., & Becker, I. (1997). Selbsthilfe und Selbsthilfeunterstützung in der Bundesrepublik Deutschland: Aufgaben und Leistungen der Selbsthilfekontaktstellen in den neuen und alten Bundesländern (ISAB-Berichte aus Forschung und Praxis, 50). Köln: Institut für sozialwissenschaftliche Analysen und Beratung (ISAB).
Bundesgesetzblatt (25.02.2013). Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.02.2013. Teil I Nr. 9, S. 277.
DAG SHG – Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. (1987). Selbsthilfegruppen-Unterstützung. Ein Orientierungsrahmen. Gießen: DAG SHG.
Dierks, M.-L., & Kofahl, C. (2019). Die Rolle der gemeinschaftlichen Selbsthilfe in der Weiterentwicklung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 62(1), 17–25.
Dierks, M.-L., Seidel, G., Horch, K, & Schwartz, F. W. (2006). Bürger- und Patientenorientierung im Gesundheitswesen. In: Robert Koch-Institut (Hrsg.). Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 32, Berlin: RKI.
Forsa (2016). Forsa-Studie Selbsthilfe: Umfrage im Auftrag der DAK. Zugriff am 10. 07.2018 unter www.dak.de/dak/download/forsa-studie-selbsthilfe-2016-1835300.pdf.
Forschungsverbund Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe (Hrsg.) (1987). Gesundheitsselbsthilfe und professionelle Dienstleistungen. Berlin: Springer.
Gaber, E., & Hundertmark-Mayser, J. (2005). Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen – Beteiligung und Informiertheit in Deutschland. Ergebnisse des Telefonischen Gesundheitssurveys 2003. Gesundheitswesen 67, 620–629.
Hundertmark-Mayser, J., Möller, B., Balke, K., & Thiel, W. (2004). Selbsthilfe im Gesundheitsbereich, In Robert Koch-Institut (Hrsg.), Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 23, Berlin: RKI.
Kofahl, C. (2019). Kollektive Patientenorientierung und Patientenbeteiligung durch gesundheitsbezogene Selbsthilfe. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 62(1), 3–9.
Kofahl, C., Haack, M., Nickel, S., & Dierks, M.-L. (Hrsg.) (2019). Wirkungen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe (Reihe Medizinsoziologie, Band 29). Münster: LIT.
Kofahl, C., Schulz-Nieswandt, F., & Dierks, M.-L. (Hrsg.) (2016). Selbsthilfe und Selbsthilfeunterstützung in Deutschland (Reihe Medizin-Soziologie, Band 24). Münster: LIT.
Lüdecke, D., Mnich, E., Melchiorre, G. M., & Kofahl, C. (2006). Familiale Pflege älterer Menschen in Europa unter einer Geschlechterperspektive. Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, 2 & 3, 85–101.
Moeller, M. L., Daum, K.-W., & Matzat, J. (1994). Psychologisch-Therapeutische Selbsthilfegruppen. Stuttgart: Kohlhammer.
NAKOS (Hrsg.) (2019). NAKOS Studien. Selbsthilfe im Überblick 6. Zahlen und Fakten 2019. Berlin: NAKOS.
Nickel, S., Bremer, K., Dierks, M.-L., Haack, M., Schwinn, S., Borgetto, B., & Kofahl, C. (2020). Digitalisierung in der gesundheitlichen Selbsthilfe – Ergebnisse einer Online-Umfrage bei Selbsthilfeorganisationen. In: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (Hrsg.), Selbsthilfegruppenjahrbuch 2020 (S. 142–152), Gießen: DAG SHG.
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (Hrsg.) (2002). Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit (Band I, Gutachten 2000/2001). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
Schulz-Nieswandt, F., & Langenhorst, F. (2015). Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland. Zu Genealogie, Gestalt, Gestaltwandel und Wirkkreisen solidargemeinschaftlicher Gegenseitigkeitshilfegruppen und der Selbsthilfeorganisationen. Berlin: Duncker & Humblot.
Trojan, A. (2019). Selbsthilfefreundlichkeit in ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung. Wird die Kooperation mit der Selbsthilfe in Qualitätsmanagementsystemen berücksichtigt? Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 62(1), 40–48.
Trojan, A., Bellwinkel, M., Bobzien, M., Kofahl, C., & Nickel, S. (Hrsg.) (2012). Selbsthilfefreundlichkeit im Gesundheitswesen. Wie sich selbsthilfebezogene Patientenorientierung systematisch entwickeln und verankern lässt. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW.
Internetadressen:
www.achse-online.de/ (Allianz chronischer seltener Erkrankungen)
www.patientenbeauftragter.de (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten)
www.bag-selbsthilfe.de (Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe)
www.kindernetzwerk.de/ (Dachverband von Eltern-Initiativen und chronisch kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen)
www.dag-shg.de (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.)
www.dhs.de (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. [DHS])
www.uke.de/shild (Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland)
www.nakos.de (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen, umfassendste Quelle für weitere Materialien und aktuelle Daten)
www.selbsthilfefreundlichkeit.de (Netzwerk Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen)
Verweise:
Anwaltschaft - Vertretung und Durchsetzung gesundheitlicher Interessen, Empowerment/Befähigung, Gesundheitskompetenz / Health Literacy, Gesundheitskonferenzen, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement, Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung