Systemische Perspektive in der Gesundheitsförderung

Eberhard Göpel

(letzte Aktualisierung am 24.04.2015)

Zitierhinweis: Göpel, E. (2015). Systemische Perspektive in der Gesundheitsförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i120-1.0


Der Begriff System (von griech. systema: „das Zusammengestellte“) beschreibt einen geordneten Funktionszusammenhang von Dingen und Vorgängen in einer ganzheitlichen Betrachtung.

Die Elemente oder Teilfunktionen eines Systems stehen in wechselseitiger Abhängigkeit, ihre Beziehungen untereinander weisen eine beobachtbare Struktur und Kontinuität auf. Je nach Funktionsgrundlage werden natürliche, technische und soziale Systeme unterschieden.
Natürliche, lebende Systeme weisen eine hohe interne Komplexität auf, die ein „Eigenleben“ der Individuen gegenüber den jeweiligen ökologischen und sozialen Umwelteinflüssen unterstützt.

Das Konzept einer allgemeinen Systemtheorie lebender Organismen wurde in den 1930er-Jahren im Bereich der Biologie entwickelt (von Bertalanffy und von Ueküll).
Eine biologisch begründete Evolutionslehre untersucht in diesem Zusammenhang, wie sich im natürlichen Verlauf der Evolution komplexere Eigenschaften lebender Organismen aus physikalisch-chemischen Grundprozessen entwickeln konnten - in Gestalt spezifischer Strukturbildungen mit jeweils erweiterten („emergenten“) Funktionsfähigkeiten.  Die Fähigkeit zur Selbstreproduktion, zum Wachstum und zur Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen ermöglicht z.B. biologischen Systemen eine bedingte Selbstregulationsfähigkeit in Abgrenzung zu den jeweiligen Umwelteinflüssen. Der Aufbau eines eigenständigen, selbstregulativen inneren Funktionszusammenhangs wird durch eine selektive Abgrenzung gegenüber den äußeren Umwelteinflüssen unterstützt.

Auf dieser Grundlage werden z.B. im psychomentalen Bereich die Erfahrung einer menschlichen Willensfreiheit und die Behauptung einer persönlichen Identität möglich. Die systemische Perspektive markiert das Bemühen, das funktionale Zusammenspiel von inneren (physiologischen, psychischen und mentalen) Prozessen mit den jeweiligen äußeren ökologischen und sozialen Umweltwirkungen zu erkennen und zu beschreiben. Während bei einer sozialökologischen Perspektive die Aufmerksamkeit v.a. auf bedingende äußere Einwirkungen fokussiert wird, liegt bei einer systemischen Betrachtung die Aufmerksamkeit v.a. bei der Beobachtung der Wechselwirkungen zwischen inneren und äußeren Funktionszusammenhängen (System-Umwelt-Verhältnis).

In einer evolutionären Perspektive wird die Entstehung menschlichen Lebens beschrieben als eine emergente neue Qualität biologischer Systembildung durch die Ausbildung der Sprachfähigkeit und eines reflektierenden Bewusstseins bei den Menschen. Erst auf dieser Grundlage wird die Bildung von sozialen Systemen möglich, in denen Menschen ihr bewusstes Handeln gesellschaftlich-kommunikativ koordinieren.

In sozialen Systemen orientieren Menschen sich an den Erwartungen ihrer sozialen Umgebung und richten ihr persönliches Handeln auf die Selbstregulationsprozesse des jeweiligen sozialen Systems aus, dem sie sich zugehörig fühlen (z.B. Sprachgemeinschaft, Familie, Betrieb, Einkaufszentrum).

In der nachfolgenden Übersicht wird verdeutlicht, wie das Konzept einer evolutionären, emergenten Systembildung zum Verständnis einer zunehmend komplexeren gesellschaftlichen Strukturbildung für menschliche Lebensprozesse beitragen kann und auf welchen Systemebenen unterschiedliche Wissenschaften einen Beitrag zur Untersuchung der jeweils grundlegenden Systemfunktionen leisten können. Wirkungen zwischen verschiedenen Systemebenen können dabei in einer aufsteigenden Verursachungsvermutung („bio-psycho-sozial“) oder in einer absteigenden Verursachungsvermutung („sozio-psycho-somatisch“) - mit dem Ziel einer ganzheitlichen Betrachtung - beschrieben und untersucht werden (vgl. Abb. 1).

Der Vorteil der evolutionären Systemtheorie ist, dass sie biologische und gesellschaftlich-kulturelle Selbstregulationsprozesse unter analogen Funktionsgesichtspunkten beschreiben kann und damit eine konsistente Grundlage für eine ganzheitliche Beschreibung menschlicher Lebensfunktionen und eine entsprechende Gesundheitsförderung schafft, die die tradierten Trennungen zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Deutungen des Lebensprozesses überwindet.
Die Entwicklung zunehmend komplexerer sozialer Systembildungen in menschlichen Gesellschaften wird dabei als eine zukunftsoffene Gestaltung menschlicher Lebenszusammenhänge in einer globalisierten Weltgesellschaft verstanden.

Der Soziologe Niklas Luhmann hat mit seiner soziologischen Systemtheorie die historischen Differenzierungsprozesse gesellschaftlicher Systembildungen beschrieben und zu wesentlichen Erkenntnissen zum Verständnis sozialer Systemfunktionen im gesellschaftlichen Kontext beigetragen.

Soziale Systeme entstehen in dieser Sichtweise durch einen funktionalen Sinnzusammenhang von aufeinander bezogenen Kommunikationen, die sich von ihrer jeweiligen Umwelt in spezifischer Weise abgrenzen. Eine Familie, ein Verein, ein Betrieb, eine Stadt, ein Land sind somit als soziale Systeme zu verstehen, die einen je eigenen Sinnzusammenhang als Grundlage ihres funktionalen Zusammenspiels entwickeln. In der modernen Gesellschaft bewegen sich Menschen in vielfältigen sozialen Systemen mit je unterschiedlichen Sinn- und Erwartungsstrukturen, die sie in ihrem Alltag ausbalancieren müssen (z.B. „work-life-balance“).

Es gibt viele empirische Hinweise, dass es dabei häufig zu widersprüchlichen Anforderungen und zu öko-sozio-psycho-somatischen Überforderungen auf den verschiedenen Systemebenen kommt, die die individuelle Selbstregulations- und Kompensationsfähigkeit überschreiten. Sichtbar wird dies dann in der Form von Verhaltens- oder Funktionsauffälligkeiten oder als akute bzw. chronische körperliche Erkrankungsverläufe. In dieser Perspektive ist Gesundheit als körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden das eher Unwahrscheinliche, das einer besonderen persönlichen, gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Vorsorge bedarf.
Gesundheitsziele wie „Gesund aufwachsen“, „Gesund Bleiben“ oder „Gesund Altern“ sind daher höchst voraussetzungsvolle Ziele für die Gestaltung einer gesundheitsfördernden Alltagskultur, die sich der evolutionären Grundlagen menschlicher Gesundheit bewusst bleibt und diese für alle Menschen zu sichern sucht.

Ausgangspunkt der systemischen Perspektive in der Gesundheitsförderung ist daher die Frage, wie Menschen es schaffen, unter sich permanent ändernden und sie tendenziell überfordernden Umweltbedingungen ihr Leben erfolgreich zu stabilisieren und ihr Überleben in Wohlbefinden zu sichern. Die Tatsache, dass und die Frage wie relativ viele Menschen relativ lange Zeit relativ unversehrt überleben, lenkt die persönliche und öffentliche Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen einer erfolgreichen Selbstregulation menschlicher Lebensprozesse und die Notwendigkeit einer systematischen Gesundheitsförderungspolitik (Salutogenetische Perspektive), denn „Gesundheit entsteht und vergeht im Alltag der Menschen, dort, wo sie leben und lieben, spielen und arbeiten“ (Ottawa-Charta der WHO).

Die Bedeutung einer bewussten Gestaltung elementarer Lebensfunktionen, wie die Ernährung, die Bewegung oder die sozialen Beziehungen im Alltag für die menschliche Gesundheit wird gegenwärtig im Kontext einer (selbst-)zerstörerischen Konsumkultur und einer Epidemie chronischer Entgleisungsprozesse (z.B. Depressionen, Diabetes, Adipositas, Allergien, Krebs) neu entdeckt.

Mit systemtheoretischen Konzepten der Gesundheitsförderung wird versucht, grundlegende Funktionen der Selbstregulation von elementaren Lebensprozessen, der Stabilisierung von sinnhaften Lebenszusammenhängen und des kompetenten Austausches mit der ökologischen und sozialen Umwelt als Teil einer gesundheitsbewussten Alltagskultur gesellschaftlich zu verankern und nachhaltig zu sichern.

Die Definition der Gesundheitsförderung in der Ottawa-Charta der WHO (1986) und der dort erstmals formulierte Mehrebenenansatz der Gesundheitsförderung kann als Ausdruck einer systemischen Leitorientierung gedeutet werden. Die systemische Perspektive der Gesundheitsförderung richtet ihre Aufmerksamkeit v.a. auf die Möglichkeit, in und zwischen sozialen Systemen sinnstiftende Verständigungsprozesse anzustoßen. Diese sollen zu einer größeren Kohärenz der Selbstregulationsbemühungen der beteiligten Menschen gegenüber ihren jeweiligen Umweltanforderungen führen. Im Settingansatz der Gesundheitsförderung wird dies praktisch. Im Sinne des Empowermentkonzepts kann dies sowohl zu einer Erweiterung der Möglichkeitsbedingungen (z.B. durch Organisationsentwicklung) als auch der Aneignungskompetenzen (z.B. durch Gesundheitsbildung) führen.

Eine systemisch orientierte Gesundheitsförderung wirkt überwiegend in einem mittelbaren, kontextuellen Sinne salutogenetisch, indem sie die systemischen Rahmenbedingungen und Handlungskontexte der Beteiligten reflektiert und variiert und die Selbstbestimmung der Personen stärkt und stützt. Dabei wird zunächst versucht, die funktionale Bedeutung aktuellen Verhaltens in den jeweils bedeutsamen Handlungs- und Beziehungsstrukturen der Menschen zu identifizieren und dies zunächst positiv als persönliche Bewältigungsleistung zu deuten. Dort, wo dies gesundheitlich nachteilig für die beteiligten Personen ist, sollen durch Veränderung der Kontextbedingungen alternative Verhaltensmöglichkeiten mit den und durch die beteiligten Personen geprüft und ermöglicht werden. Gesundheitsförderung zielt dabei auf einen personalen, systemischen Vermittlungsprozess, der von den beteiligten Menschen bewusst gestaltet werden kann (vgl. Abb. 2).

In praktischer Hinsicht ist v.a. der Settingansatz der Gesundheitsförderung eine konzeptionelle Konsequenz dieser Sichtweise von Erkrankungs- und Gesundungsprozessen. Interventionen in einem Setting des Alltagslebens (z.B. Kindertagesstätte, Schule, Betrieb) sind darauf gerichtet, Beziehungs- und Erwartungsstrukturen zu stärken, die eine salutogenetische Selbstregulation der Beteiligten im Sinn- und Funktionszusammenhang des jeweiligen sozialen Systems wahrscheinlicher machen. Im Rahmen einer gesundheitsfördernden Organisationsentwicklung wird versucht, entsprechende Funktionszusammenhänge in den Organisationsroutinen und Umwelt-Gestaltungen dauerhaft zu verankern. Durch Praxisnetzwerke (s. Internetadressen) wird ein Informations- und Erfahrungsaustausch gestützt.

Als wirkungsvolle methodische Zugänge der Gesundheitsförderung in einer systemischen Perspektive haben sich z.B. erwiesen: das Mehrgenerationengespräch im Bereich der Familientherapie, das Instrument des Gesundheitszirkels im Bereich betrieblicher Gesundheitsförderung, Gesundheitsförderungskonferenzen auf der kommunalen Ebene (kommunalpolitische Perspektive), intersektorale Zusammenarbeit in der öffentlichen Politik und Verwaltung (z.B. im Bereich Umwelt und Gesundheit, Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik).

Literatur:

Göpel E (Hg.), Systemische Gesundheitsförderung, Frankfurt 2008;
Schwing R/Fryszer A, Systemisches Handwerk. Werkzeuge für die Praxis, Göttingen 2007
Simon, F.B,Einführung in systemische Organisationsentwicklung, 4.A.   Heidelberg 2013
Lambers, H, Reflektionsgrundlagen Sozialer Arbeit. Eine systemtheoretische Einführung, Weinheim 2014

Internetadressen:

http://www.systemagazin.com/
www.gesundheitliche-chancengleichheit.de

Verweise:

Empowerment/Befähigung, Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Salutogenese, Settingansatz/Lebensweltansatz