Systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell in der Gesundheitsförderung
Zitierhinweis: Blümel, S. (2024). Systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell in der Gesundheitsförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Das systemische Anforderungs-Ressourcen-Modell (SAR-Modell) versteht Gesundheit und Krankheit als Resultat von Anpassungs- und Regulationsprozessen zwischen einem Individuum und seiner Umwelt. Sowohl das Individuum als auch die Umwelt werden als komplexe Systeme aufgefasst, die sich wechselseitig beeinflussen. Sie stellen Anforderungen aneinander, auf die mit der Aktivierung oder Bereitstellung von Ressourcen geantwortet wird. Der Gesundheitszustand eines Menschen hängt davon ab, wie gut es ihm gelingt, externe und interne Anforderungen zu bewältigen. Gesundheitsförderung im Sinne des SAR-Modells versucht deshalb, externe (z. B. soziale Unterstützung) und interne Ressourcen (z. B. körperliche Fitness) zu stärken, um so die körperliche und seelische Gesundheit zu erhalten.
Schlagworte
Bewältigungsverhalten, Coping, Anforderungen, Ressourcen
Grundlagen des Modells
Gesundheit wird im SAR-Modell als Oberbegriff verstanden, der sowohl die körperliche als auch psychische Gesundheit umfasst. Der Gesundheitszustand einer Person lässt sich als deren Position auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum beschreiben. Die Prävention und Krankheitsprävention zielt darauf ab, zu verhindern, dass sich diese Position in Richtung Krankheit verschiebt. Sie umfasst die Bereitstellung und Nutzung von Schutzfaktoren gegenüber gesundheitlichen Gefahren bzw. Risikofaktoren (z. B. Schutzimpfungen, das Tragen von Schutzkleidung oder Sicherheitsgurten). Gesundheitsförderung ist hingegen darauf ausgerichtet, die Position eines Individuums in Richtung Gesundheit zu verschieben (Abb. 1).
Gesundheitsförderung (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen) bedarf eines theoretischen Rahmenmodells, innerhalb dessen unterschiedliche konzeptuelle und methodische Ansätze begründet und integriert werden können. Das von Becker entwickelte und im Folgenden skizzierte systemische Anforderungs-Ressourcen-Modell (SAR-Modell) liefert einen derartigen Rahmen (Becker 2003 und 2006). Es basiert auf Vorläufern, insbesondere dem Stressbewältigungsmodell (Stress und Stressbewältigung), dem salutogenetischen Modell (Salutogenese) von Antonovsky, bedürfnistheoretischen sowie systemischen (Systemische Perspektive in der Gesundheitsförderung) und ökologischen Perspektiven und Ansätzen (Ökologische und humanökologische Perspektive).
Funktionsweise des Modells
Im SAR-Modell werden Gesundheit und Krankheit (bzw. die Position eines Individuums auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum) aus systemischer bzw. ökologischer Perspektive als Resultat von Anpassungs- und Regulationsprozessen zwischen einem Individuum und seiner Umwelt konzipiert. Sowohl die Umwelt als auch das Individuum werden als komplexe hierarchisch strukturierte Systeme aufgefasst. Systeme bestehen aus Subsystemen (Systemelementen) und sind Teile übergeordneter Suprasysteme. Systeme und Systemelemente stehen in Interaktion und beeinflussen sich wechselseitig. Wichtige Beeinflussungsprozesse können mithilfe der Begriffe Anforderungen und Ressourcen beschrieben werden.
Systeme oder Systemelemente stellen an andere Systeme oder Systemelemente Anforderungen, auf die – im Fall gut funktionierender, wechselseitig aufeinander abgestimmter Systeme – mit der Aktivierung oder Bereitstellung von Ressourcen geantwortet wird. Im günstigen Fall kommt es zu einer wechselseitigen Bewältigung von Anforderungen durch die Nutzung oder den Austausch von Ressourcen. In Abb. 2 sind derartige Prozesse stark vereinfacht dargestellt.
So reagiert beispielsweise ein Individuum auf eine externe Anforderung mit der Aktivierung interner Ressourcen. Umgekehrt reagiert die (soziale) Umwelt auf die interne Anforderung eines Individuums mit der Bereitstellung externer Ressourcen. Analoge Austauschprozesse (Bereitstellungen von Ressourcen als Reaktion auf Anforderungen) finden sowohl innerhalb von Subsystemen des Individuums als auch zwischen (Sub-)Systemen in der Umwelt statt.
Grundlegend im SAR-Modell ist die folgende Annahme: Der Gesundheitszustand eines Menschen hängt davon ab, wie gut es diesem gelingt, externe und interne Anforderungen mithilfe externer und interner Ressourcen zu bewältigen.
Unter Anforderungen werden Bedingungen verstanden, mit denen sich ein Individuum auseinandersetzen muss. Externe Anforderungen sind solche in der Umwelt, z. B. berufliche oder soziale Anforderungen (etwa Wünsche des Partners bzw. der Partnerin nach gemeinsamen Aktivitäten). Interne Anforderungen resultieren aus den Bedürfnissen, Zielen, Werten und Normen des bzw. der Betreffenden. Zu den wichtigen Bedürfnissen des Menschen zählen neben physiologischen Bedürfnissen (z. B. nach Nahrung, Sauerstoff, Schlaf, Sexualität, Bewegung) die Bedürfnisse nach Erkundung der Umwelt und des Selbst, Selbstverwirklichung, Orientierung und Sicherheit, Bindung und Achtung (vor allem Selbstachtung und Achtung seitens anderer Menschen). Insbesondere sehr hohe, unter Umständen aber auch zu geringe Anforderungen – in Relation zu den verfügbaren Ressourcen – werden als belastend erlebt und können negative Emotionen und damit verbundene physiologische Reaktionen auslösen. Sie motivieren unter Umständen zum Handeln.
Zur Bewältigung von Anforderungen greift das Individuum auf Ressourcen zurück. Interne psychische und physische Ressourcen sind die zur Verfügung stehenden Handlungsmittel bzw. Eigenschaften (Fähigkeiten, Kompetenzen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Persönlichkeitseigenschaften, Kohärenzsinn etc.) und physischen Voraussetzungen (z. B. körperliche Fitness) einer Person. Unter externen Ressourcen werden solche in der Umwelt verstanden, insbesondere soziale Ressourcen (z. B. soziale Stützsysteme, gute Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen, Vereine, religiöse Gemeinschaften, Selbsthilfegruppen, soziales Ansehen), berufliche Ressourcen (z. B. Besitz eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, Kontrolle über die Arbeit, ergonomische Arbeitsbedingungen), materielle Ressourcen (z. B. hinreichendes Einkommen, gute Wohnbedingungen), gesellschaftliche Ressourcen (z. B. Bildungs-, Gesundheits- und Rechtssystem) und ökologische Ressourcen (z. B. saubere, intakte Umwelt, gesunde Nahrung).
Empirisch wurde das Modell vielfach bestätigt, wobei bei der Überprüfung durch den systemischen Ansatz (und die damit verbundene Annahme von verschiedenen wechselseitigen Systemebenen) die Verwendung zirkulärer Prozessmodelle anstatt einer einfachen Ursachen-Wirkungs-Analyse notwendig waren (Faltermaier & Hübner 2021).
Bedeutung für die Gesundheitsförderung
Im Rahmen des SAR-Modells kann Gesundheitsförderung charakterisiert werden als Verbesserung der Voraussetzungen zur Bewältigung externer und interner Anforderungen mithilfe externer und interner Ressourcen. Das Modell hat einen hohen Anwendungsbezug in der Gesundheitsförderung und stellt die Basis für viele multidisziplinäre Interventionen dar. Im Folgenden werden gesundheitsförderliche Maßnahmen exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgelistet:
1. Gesundheitsförderung, ausgehend von Anforderungen:
- Gesundheitsförderung kann zum einen durch Anpassung externer (psychischer und physischer) Anforderungen an die Voraussetzungen und individuellen Besonderheiten einer Person, d. h. eine Verbesserung der Person-Umwelt-Passung, erfolgen: Verringerung von Überforderungen, Unterforderungen und mentalen Belastungen am Arbeits- oder Ausbildungsplatz; Beseitigung physischer Stressoren am Arbeitsplatz (z. B. durch Maßnahmen der Arbeitsergonomie).
- Zum anderen sind interne (physische und psychische) Anforderungen zu berücksichtigen: Auf die Befriedigung von Bedürfnissen und damit verbundenes Wohlbefinden achten (z. B. durch Genuss- und Entspannungsübungen, Erholung, Aufbau und Aufrechterhaltung von Bindungen); Vermeidung von psychischer Selbstüber- oder Selbstunterforderung in Beruf, Ausbildung, Familie und Freizeit; Vermeidung der Über- oder Unterforderung physischer Systeme (z. B. aufgrund von Alkoholmissbrauch, Fehlernährung oder mangelnder Bewegung).
2. Gesundheitsförderung, ausgehend von Ressourcen:
- Gesundheitsförderung kann auch durch den Aufbau, die Bereitstellung und Nutzung externer (psychischer und physischer) Ressourcen erfolgen: Aufbau, Pflege und Nutzung sozialer Unterstützungssysteme (z. B. Partnerschaften, Freundschaften, Vereine, religiöse Gemeinschaften, Partnerschafts- und Familienberatung); Angebot gesunder Nahrung (z. B. in Kantinen); Bereitstellung und Vermittlung von Arbeitsplätzen (inkl. Qualifizierungsmaßnahmen); Gesundheitsaufklärung und -training in Elternhäusern, Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Arztpraxen oder Rehabilitationskliniken.
- Die Möglichkeiten der Gesundheitsförderung, die auf der Vergrößerung von internen Ressourcen basieren, umfassen u. a.: Verbesserung der körperlichen Fitness (z. B. durch regelmäßiges und richtig dosiertes Sporttreiben); Verbesserung der seelischen Gesundheit (z. B. durch Psychotherapie); Verbesserung der Kommunikations- und Konfliktlösungskompetenzen (z. B. durch ein Training zum Verzicht auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung); Verbesserung des eigenen schulischen, beruflichen oder gesundheitsbezogenen Wissens (z. B. durch Fortbildung).
Becker (2006) hält die Befriedigung von Bedürfnissen des Menschen für eine gesundheitsrelevante Schlüsselvariable. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Betrieblichen Gesundheitsförderung erläutert. Demnach sollten am Arbeitsplatz die Bedürfnisse der Beschäftigten durch die Bereitstellung folgender Ressourcen berücksichtigt werden:
Physiologische Bedürfnisse
- Ergonomische Arbeitsplätze
- Erholungspausen und Bewegungsangebote
- Erste Hilfe bei Unfällen und Verletzungen
- Gesundes Speisenangebot
Explorationsbedürfnis
- Vermeidung von Monotonie
- Gelegenheiten zu Kontakten und zum Informationsaustausch
Selbstaktualisierungsbedürfnis
- Förderung intrinsisch motivierter Tätigkeiten
- Gelegenheiten zu kreativen Problemlösungen
- Übertragung von Verantwortung
- Arbeitsbereicherung, Aufgabenvielfalt, sinnvolle Tätigkeiten
Bedürfnis nach Orientierung, Sicherheit und Kontrolle
- Arbeitsplatzsicherheit
- Mitbestimmungs-, Partizipationsmöglichkeit
- Kontrolle über Arbeitsausführung; hoher Entscheidungsspielraum
- Klare Aufgaben und Zuständigkeiten; transparente Informations- und Kommunikationsstrukturen
- Arbeitsschutzmaßnahmen
Bedürfnis nach Achtung und Wertschätzung, Bindung und guten Beziehungen
- Gutes Betriebsklima, vertrauensvolle Zusammenarbeit
- Wertschätzendes Verhalten sowie gegenseitige Unterstützung von Vorgesetzten und Arbeitskollegen bzw. -kolleginnen
- Anerkennung erbrachter Leistungen
- Aufstiegschancen
- Gute Bezahlung
Fazit
Fehldosierte Anforderungen sowie Defizite und Verluste von Ressourcen und daraus resultierende Misserfolge bei der Anforderungsbewältigung sind begleitet von negativen Gefühlen, Lebensunzufriedenheit, negative Veränderungen im Gesundheitsverhalten (z. B. erhöhter Konsum von Alkohol) und oftmals kurz- oder langfristigen Beeinträchtigungen der körperlichen und seelischen Gesundheit. Hingegen tragen wohldosierte Anforderungen und die Bewahrung oder Erweiterung von Ressourcen sowie die erfolgreiche Bewältigung externer und interner Anforderungen zu Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und körperlicher und seelischer Gesundheit bei.
Literatur:
Becker, P. (2003). Anforderungs-Ressourcen-Modell in der Gesundheitsförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung (S. 13–15). Schwabenheim a. d. Selz: Fachverlag Peter Sabo.
Becker, P. (2006). Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung. Göttingen: Hogrefe.
Faltermaier, T. & Hübner, I. (2021). Anforderungs-Ressourcen-Modell. In: Dorsch: Lexikon der Psychologie, 20. Auflage. Göttingen: Hogrefe. Zugriff am 15.01.2024 unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/anforderungs-ressourcen-modell.
Verweise:
Betriebliche Gesundheitsförderung, Gesundheit, Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Ökologische und humanökologische Perspektive, Prävention und Krankheitsprävention, Salutogenese, Stress und Stressbewältigung, Systemische Perspektive in der Gesundheitsförderung
Der Autor dankt Prof. Dr. Peter Becker für seine Vorarbeiten in früheren Ausgaben der Leitbegriffe.