Verwirklichungschancen/ Capabilities
Thomas Altgeld , Uwe H. Bittlingmayer , Zeynep Islertas
Zitierhinweis: Altgeld, T., Bittlingmayer, U. & Islertas, Z. (2024). Verwirklichungschancen/Capabilities. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Der Capabilities-Ansatz ist eine gesundheitsrelevante Theorie sozialer Gerechtigkeit, die sich mit den Möglichkeiten von Menschen beschäftigt, einen eigenständigen Lebensentwurf zu entwickeln und zu verwirklichen. Der Beitrag skizziert die Relevanz und die aktuelle Thematisierung des Ansatzes im deutschen Public Health-Diskurs.
Schlagworte
Capability, Gesundheit, Gerechtigkeit, Verwirklichungschancen, Befähigung
Verwirklichungschancen ist im Bereich von Public Health die aktuell populärste deutsche Übertragung des englischen Begriffs „Capabilities“. Der so genannte Capabilities-Ansatz, hier als Verwirklichungschancen-Ansatz bezeichnet (andere Übersetzungen sind etwa Fähigkeiten-Ansatz, Opportunitäten-Ansatz oder der Befähigungs-Ansatz) wurde in den 1980er und 1990er Jahren vom Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen und der Philosophin Martha Nussbaum entwickelt und bezeichnet zunächst eine allgemeine Theorie sozialer Gerechtigkeit.
Sen (2000, S. 29) beschreibt als Kern des Capabilities-Ansatzes „die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten (»Capabilities«) von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt.“ Es geht also vor allem darum, positiv zu bestimmen, was Menschen an realen Freiheiten und Handlungsressourcen brauchen, um einen autonomen Lebensentwurf begründetentwickeln zu können. Außerdem geht es darum, wie sie dazu befähigt werden können, ihren Lebensentwurf umzusetzen. Der Aspekt der Befähigung und die Orientierung an vorhandenen Freiheiten sind der Ausgangspunkt für die deutsche Übersetzung des Capabilities-Ansatzes als Befähigungsgerechtigkeit.
Die enge konzeptionelle Klammer von Ökonomie, Sozialphilosophie und Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie ihre Verbindung zu einer Theorie komplexer sozialer Gleichheit im Verwirklichungschancen-Ansatz macht ihn besonders anschlussfähig für praxis- und interventionsbezogene Wissenschaften wie Public Health oder Soziale Arbeit und Sozialpädagogik. Auch für die Theorie und Praxis der Gesundheitsförderung ist er als relevanter theoretischer Bezugsrahmen etabliert (Abel & Frohlich 2012; Abel & Schori 2009; Bittlingmayer, Schumacher & Yüksel 2021; Boyer, Sauter & Loss 2021; Bozzaro, Rupp, Stolpe & Schulenburg 2023; Till, Abu-Omar & Gelius 2023).
Die Schnittstellen zwischen dem Verwirklichungschancen-Ansatz und der Theorie der Gesundheitsförderung sind zum Teil direkt, weil Sen das World Institute for Development of Economic Research (WIDER) mitbegründete, das Bestandteil der United Nations University (UNU) in Helsinki war. Er führte in den 1980er Jahren mehrere Projekte durch, in denen die 1986 verabschiedete Ottawa-Charta breit diskutiert wurde und Eingang in konkrete Gerechtigkeitsformulierungen des Verwirklichungschancen-Ansatzes fand.
Die Bedeutung von Gesundheit wird von Sen deutlich herausgestellt: „Gesundheit ist unter anderem eine Quelle des Wohlergehens (und hilft Schmerzen zu vermeiden). Es gibt viele Aspekte von Freiheit und Fairness in der Verteilung von Ressourcen (oder primären Gütern), die eng verbunden sind mit Gesundheit. Gesund zu sein kann zu unserer Fähigkeit beitragen, Dinge zu tun. Tatsächlich ist Gesundheit ganz allgemein mit der Erweiterung von Verwirklichungschancen verbunden, indem sie unsere vorhandenen Verwirklichungschancen vergrößert, Dinge zu tun, von denen wir annehmen, dass wir Gründe haben, sie zu tun.“ (Sen 2010, S. viii, eigene Übersetzung)
Verwirklichungschancen, Gerechtigkeit, gutes und gesundes Leben
Der Ansatz der Verwirklichungschancen wurde in enger Auseinandersetzung mit der Theorie der Gerechtigkeit des US-amerikanischen Philosophen John Rawls entwickelt, der die Freiheitsrechte des Subjekts − auch gegen den Staat − zum Ausgangspunkt nimmt. Rawls verbindet seinen freiheitstheoretischen Ansatz mit moralphilosophisch begründeten Forderungen nach Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen an Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer − zu wenig Handlungsressourcen zur Verfügung haben, um eine angemessene Vorstellung des guten Lebens umsetzen zu können.
Sen und Nussbaum fokussieren dabei insbesondere das Zusammenspiel von Ressourcen, Verwirklichungschancen und sozialen Ungleichheiten (wenn auch in der Regel sehr abstrakt und philosophisch). Aus ihrer Sicht stellen Ressourcen erstens – vor allem Geld − keinen Selbstzweck dar. Das bedeutet, dass es nicht darum geht, viel Geld zu besitzen, sondern dass Geld nur Mittel zum Zweck der individuellen Bedürfnisbefriedigung ist. Erst die tatsächliche individuelle Bedürfnisbefriedigung führt zu einem Zustand, der zu Recht als realisierte Freiheit bezeichnet werden kann.
Zweitens wird dem Ansatz der Verwirklichungschancen zufolge die bloße Gleichverteilung von Ressourcen der Unterschiedlichkeit von Menschen nicht gerecht. Wenn alle Menschen dasselbe an Ressourcen oder Geld zur Verfügung haben, bedeutet das nicht, dass auch alle das gleiche Maß an Bedürfnisbefriedigung und realisierter Freiheit besitzen. Es gibt Menschen, die zur Erfüllung etwa ihres Bedürfnisses auf Mobilität mehr Ressourcen benötigen, etwa weil sie auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Eine bloße Gleichverteilung an Ressourcen würde solche Unterschiede ignorieren und damit möglicherweise zu weiteren Ungerechtigkeiten führen. (Sen 2000)
Ressourcen liefern nach diesem Ansatz die Bedingung der Möglichkeit, ein gutes Leben führen zu können, für das sich die Individuen frei und aus guten Gründen entscheiden. Nussbaum geht gegenüber Sen einen für Public Health bedeutsamen Schritt weiter, indem sie eine Liste mit Verwirklichungschancen entwickelt hat, die eine Art Blaupause für Varianten eines guten Lebens darstellt, aber keine Idee des guten Lebens ausformuliert. Sie geht davon aus, dass Menschen notwendig auf ein Fundament von bestimmten Dingen zurückgreifen müssen, wenn sie eine eigenständige Idee des guten Lebens für sich selbst konzipieren und realisieren bzw. die Bedingungen der Möglichkeiten für das gesamte Spektrum an Realfreiheiten abstecken wollen. Diese Dinge fasst Nussbaum in zehn Fähigkeiten zusammen (Liste der zentralen Verwirklichungschancen [Central Capabilities] nach Nussbaum 2010, S. 112−114):
- Leben: Die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben; nicht frühzeitig zu sterben und nicht zu sterben, bevor dieses Leben so eingeschränkt ist, dass es nicht mehr lebenswert ist.
- Körperliche Gesundheit: Die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören.
- Körperliche Integrität: Die Fähigkeit, sich frei von einem Ort zum anderen zu bewegen; vor gewaltsamen Übergriffen sicher zu sein, sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt eingeschlossen; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung und zur freien Entscheidung im Bereich der Fortpflanzung.
- Sinne, Vorstellungskraft und Denken: Die Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlussfolgern − und dies alles auf jene „wahrhaft menschliche“ Weise, die von einer angemessenen Erziehung und Ausbildung geprägt und kultiviert wird, die Lese- und Schreibfähigkeit sowie basale mathematische und wissenschaftliche Kenntnisse einschließt, aber keineswegs auf sie beschränkt ist. Die Fähigkeit, im Zusammenhang mit dem Erleben und Herstellen von selbstgewählten religiösen, literarischen musikalischen und anderen Werken und Ereignissen die Vorstellungskraft und das Denkvermögen zu erproben. Die Fähigkeit, sich seines Verstandes auf Weisen zu bedienen, die durch die Garantie der politischen und künstlerischen Meinungsfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung geschützt werden. Die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen und unnötigen Schmerz zu vermeiden.
- Gefühle: Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst aufzubauen; die Fähigkeit, auf Liebe und Sorge mit Zuneigung zu reagieren und auf die Abwesenheit dieser Wesen mit Trauer; ganz allgemein zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und berechtigten Zorn zu fühlen. Die Fähigkeit, an der eigenen emotionalen Entwicklung nicht durch Furcht und Ängste gehindert zu werden. (Diese Fähigkeit zu unterstützen, heißt auch, jene Arten der menschlichen Gemeinschaft zu fördern, die erwiesenermaßen für diese Entwicklung entscheidend sind.)
- Praktische Vernunft: Die Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzudenken (hierzu gehört der Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit).
- Zugehörigkeit: (A) Die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen anzuerkennen und Interesse an ihnen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen der sozialen Interaktion einzulassen; sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. Der Schutz dieser Fähigkeit erfordert den Schutz jener Institutionen, die diese Formen der Zugehörigkeit konstituieren und fördern, sowie der Versammlungs- und Redefreiheit. (B) Über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und der Nichtdemütigung zu verfügen; die Fähigkeit, als Wesen mit Würde behandelt zu werden, dessen Wert dem anderer gleich ist. Hierzu gehören Maßnahmen gegen die Diskriminierung auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Kaste, Religion und nationaler Herkunft.
- Andere Spezies: Die Fähigkeit, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.
- Spiel: Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.
- Kontrolle über die eigene Umwelt: (A) Politisch: Die Fähigkeit, wirksam an den politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; ein Recht auf politische Partizipation, auf Schutz der freien Rede und auf politische Vereinigungen zu haben. (B) Inhaltlich: Die Fähigkeit, Eigentum (an Land und an beweglichen Gütern) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben, eine Beschäftigung auf der gleichen Grundlage wie andere zu suchen; vor ungerechtfertigter Durchsuchung und Festnahme geschützt zu sein. Die Fähigkeit, als Mensch zu arbeiten, die praktische Vernunft am Arbeitsplatz ausüben zu können und in sinnvolle Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung mit anderen Arbeitern treten zu können.
Nussbaum möchte damit explizit nicht Menschen bestimmte Ideen des guten Lebens vorschreiben oder nahelegen, sondern die Bedingungen der Möglichkeiten für das gesamte Spektrum an Realfreiheiten abstecken, das Menschen aus guten Gründen erreichen möchten. Die Liste veranschaulicht auch die inhaltlichen Überschneidungen zur Ottawa-Charta, etwa bei der Betonung der Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften oder der Kontrolle über die eigene Lebenswelt. Darüber hinaus sind die unmittelbaren Bezüge zu Gesundheit wie Lebensdauer, körperliche Gesundheit, Verfügbarkeit über Life Skills und die indirekten Bezüge wie Partizipation oder Sozialität klar ersichtlich (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen; Gesundheitsförderung 2: Entwicklung vor Ottawa 1986; Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa).
Gesundheit und Subjekt
Wenn basierend auf dem Capabilities-Ansatz der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gesundheit und Subjekt nachgegangen wird, wird deutlich, wie weit dieses Modell von der Idee der Bevormundung entfernt ist. Nach diesem Ansatz ist es Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Individuen für die Realisierung der in der Liste enthaltenen Verwirklichungschancen entscheiden können. Hier wird eine ähnliche Zielrichtung deutlich wie bei dem Empowerment-Ansatz (Empowerment), dessen zentrale Strategien die Förderung der Partizipationsfähigkeit (Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger) und der Strukturbildung (Capacity Building/Kapazitätsentwicklung) eine vergleichbare Verschränkung von Entscheidungsfähigkeiten von Individuen und unterstützenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beinhalten.
Außerdem besteht von Seiten der Gesellschaft zu keiner Zeit ein Anspruch darauf, dass sich Individuen für das eine oder andere entscheiden müssten. In Hinblick auf Gesundheit bedeutet das, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse so organisiert werden, dass sich ein Höchstmaß an Gesundheit für jeden einzelnen realisieren lässt. Ob dann Individuen sich auch dafür entscheiden, gesundheitsförderlich zu leben, bleibt ihnen überlassen.
Durch die Formulierung der Entscheidungsfreiheit und das Ziel, ein begründetes gutes Leben führen zu können, zeigt der Capabilities-Ansatz auch eine Schnittstelle zum Konzept der Salutogenese. Hier werden unter dem Begriff Kohärenzgefühl die Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit subsumiert. Außerdem wird ein Bezug zur nachvollziehbaren bzw. begründeten Entscheidungsfindung eines Individuums sowie seiner Gesundheit hergestellt.
Chancen und Grenzen des Capabilities-Ansatzes
Als eine bedeutende Chance des Ansatzes ist zu betrachten, dass die Komplexität der Fragen zu gesundheitlichen Ungleichheiten, politischen Programmatiken und gesundheitsfördernden Handlungsansätzen mit der Fokussierung verschiedener Lebensentwürfe dargestellt werden kann (Ruger 2010; Abel & Frohlich 2012; ausführlich Bittlingmayer & Ziegler 2012).
Eine besondere Herausforderung und Schwierigkeit liegt in der empirischen Operationalisierung und Konkretisierung der Verwirklichungschancen, da sie einen allgemeinen Optionsraum darstellen und es besonders schwer herauszufinden ist, ob sich die Chancen insgesamt für ein Individuum vergrößert haben. Denn prinzipiell gilt, dass dem Verwirklichungschancen-Ansatz zufolge auch bei gleichem beobachtbaren Verhalten eine Vergrößerung des Optionsraums vorhanden sein kann, das Subjekt es aber mit guten Gründen ablehnt, von dieser neu wahrgenommenen Option Gebrauch zu machen. Für vertiefende Ausführungen zu den Möglichkeiten und Herausforderungen der Messbarkeit der Verwirklichungschancen siehe Arndt, Dann, Kleimann, Strotmann & Volkert (2006), Sahrai & Bittlingmayer (2014), Schmale (2015) und Volkmann (2018).
Eine zweite Schwierigkeit liegt in der Aneignung des Ansatzes von sehr unterschiedlichen Seiten. Durch die Betonung des Subjekts und seiner Entscheidungsfreiheit − die als Schutz vor staatlichen Zumutungen dient, eine bestimmte Form des guten Lebens den Bürgern und Bürgerinnen vorzuschreiben − liegt das Argument nahe, dass die Situation von ressourcenschwachen Personen ihnen selbst angelastet werden kann. Sie haben in dieser neoliberalen Lesart im großen Optionsraum schlicht die falschen Entscheidungen getroffen.
Ein letzter Punkt betrifft die konkreten Umsetzungschancen des Ansatzes für die Public Health-Praxis. Public Health-Praktikerinnen und -Praktiker handeln dem Capabilities-Ansatz zufolge mit Notwendigkeit in einem Spannungsverhältnis: Sie haben die Absicht, die Gesundheit von Personen zu stärken, ihre Autonomie und zugleich ihre durch Sozialisation erworbenen − möglicherweise gesundheitsabträglichen − Gewohnheiten, Bedürfnisse und individuellen Vorstellungen vom guten Leben (adaptive Präferenzen) zu respektieren. Hier besteht die Gefahr, Personen durch bloße Überredung oder sogar Zwang zum gewünschten Verhalten zu bewegen (Paternalismus) (siehe Abbildung 1).
Der Capabilities -Ansatz in Theorie und Praxis der Gesundheitsförderung
Seit einigen Jahren wird der Verwirklichungschancen-Ansatz in Deutschland auch in den Gesundheitswissenschaften rezipiert. Vergleichsweise früh wurde hier auf die großen Potenziale des Ansatzes für den Public Health-Sektor hingewiesen, etwa in einem Beitrag von Abel und Schori (2009) oder z. B. durchgängig seit 2010 im Rahmen der Kongresse „Armut und Gesundheit“. Verwirklichungschancen stellen hier eine zentrale Argumentationslinie für eine wesentlich gerechtere Sozial- und Gesundheitspolitik dar. Vor allem mit Blick auf die gewollte Partizipation von Menschen würde eine auf Verwirklichungschancen ausgerichtete Sozialpolitik erst die Voraussetzungen schaffen, um Formen der Partizipation auch von ressourcenschwächeren Mitgliedern der Gesellschaft zu ermöglichen.
Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2009) hat erstmals den Verwirklichungschancen-Ansatz als theoretische Klammer für die engere Verknüpfung von Gesundheitsförderung und Jugendhilfestrukturen verwendet. Die Empfehlungen des Berichts laufen auf eine engere Verzahnung des Gesundheits-, Bildungs- und Jugendhilfesektors hinaus. Sie nehmen die Wechselbeziehungen zwischen Gesundheit und Bildung ernst und definieren sie vor dem Hintergrund der Verwirklichungschancen neu. Selbstbestimmtes Handeln wird hier an die strukturellen Bedingungen für die Ermöglichung von Selbstbestimmung gebunden. Allerdings ist die Kinder- und Jugendberichtserstattung des Bundes wieder vom Verwirklichungschancen-Ansatz abgerückt, gerade wegen der genannten Herausforderungen bei der Operationalisierung der Freiheits- und Ungleichheitsdimensionen.
Eine weitere Rezeptionslinie bestimmt den Verwirklichungschancen-Ansatz als Erweiterung bisheriger theoretischer und konzeptioneller Modelle. In der theoriebezogenen Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Sen und Nussbaum wird der Ansatz in der Regel ergänzend zu bestehenden Theorieangeboten innerhalb der Gesundheitswissenschaften diskutiert. So soll der Verwirklichungschancen-Ansatz zum Beispiel ein besseres Verständnis für die Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten ermöglichen, weil er weniger auf die Erklärung der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten angelegt ist (Abel & Frohlich 2012). In anderen Arbeiten wird der Capabilities-Ansatz als adäquate theoretische Rahmung des Empowerment-Ansatzes verstanden, weil sich auf seiner Grundlage schwierige normative Fragestellungen einer Praxiswissenschaft wie Public Health komplexer und gehaltvoller formulieren lassen (Bittlingmayer & Ziegler 2012; Sahrai & Bittlingmayer 2014).
Innerhalb des deutschen Public Health-Diskurses wird der Capabilities-Ansatz durch die Darstellung gesundheitsbezogener Relevanz in verschiedenen Kontexten behandelt oder im Zusammenhang der Gesundheit diverser Zielgruppen thematisiert:
- Versorgungsforschung (Remmers 2009)
- Verkehr und Gesundheit (Frahsa 2018)
- Resilienz im Arbeitskontext (Blum & Gutwald 2018)
- Nachhaltigkeit in der Medizin (Bozzaro, Rupp, Stolpe & Schulenburg 2023)
- Operationalisierung der Handlungsmöglichkeiten und Gesundheit von Seniorinnen und Senioren (Boyer, Sauter & Loss 2021; Kümpers 2012)
- Wohlbefinden und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (Sting 2011)
Die systematische Rezeption und die Umsetzung des Capabilities-Ansatzes in die Praxis der Prävention und Gesundheitsförderung weist aber noch deutliche Lücken auf, sodass sich über vereinzelte theoretische Verortungen hinaus bislang noch keine erfolgreichen Modelle guter Praxis finden lassen. Grundsätzlich besteht darüber hinaus bei der Implementation des Capabilities-Ansatzes in Public Health stets die Gefahr, dass der Erklärungsanspruch dieser allgemeinen Gerechtigkeitstheorie überdehnt wird, etwa indem er in eine Handlungstheorie transformiert wird, die dann an die Gesundheitsförderung angepasst wird.
Dass der Verwirklichungschancen-Ansatz insgesamt ein fruchtbarer Bezugspunkt ist, mit dem zuallererst das für Public Health konstitutive Spannungsverhältnis zwischen Autonomie, adaptiven Präferenzen und Paternalismus präzise dargestellt werden kann, sollte deutlich geworden sein. Auf diese Weise liefert der Capabilities-Ansatz einen belastbaren Rahmen für die Fragen nach den normativen Bezugspunkten innerhalb von Public Health.
Literatur:
Abel, T. & Frohlich, K. L. (2012). Capitals and capabilities: Linking structure and agency to reduce health inequalities. Social Science & Medicine, 74(2), 236–244.
Abel, T. & Schori, D. (2009). Der Capability-Ansatz in der Gesundheitsförderung: Ansatzpunkte für eine Neuausrichtung der Ungleichheitsforschung. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 34(2), 48–64.
Arndt, C., Dann, S., Kleimann, R., Strotmann, H. & Volkert, J. (2006). Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen) − Empirische Operationalisierung im Rahmen der Armuts− und Reichtumsmessung: Machbarkeitsstudie; Endbericht an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Köln: Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e. V. (IAW).
Bittlingmayer, U. H., Schumacher, F. & Yüksel, G. (2021). Gesundheit als Brücke zwischen Gesellschaftskritik und Gerechtigkeitstheorie. Plädoyer für eine Neuauflage des interdisziplinären Materialismus aus dem Geist von Public Health. In: H. Schmidt-Semisch & F. Schorb (Hrsg.). Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. Public Health (S. 493–511). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Bittlingmayer, U. H. & Ziegler, H. (2012). Public Health und das gute Leben: Der Capability−Approach als normatives Fundament interventionsbezogener Gesundheitswissenschaften? WZB Discussion Paper No. SP, 2012–2301.
Blum, C. & Gutwald, R. (2018). Gute Arbeit, resiliente Arbeiter? Psychische Belastungen im Arbeitskontext aus Sicht des Capability-Ansatzes. In: M. Karidi, M. Schneider & R. Gutwald (Hrsg.). Resilienz (S. 159–176). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
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Boyer, L., Sauter, A. & Loss, J. (2021). Messung von Handlungsmöglichkeiten (capabilities) zur Führung eines aktiven Lebensstil − Entwicklung und Erprobung eines Messinstruments für Senior/innen. Das Gesundheitswesen. Das Soziale in Medizin und Gesellschaft – Aktuelle Megatrends fordern uns heraus. 56. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Georg Thieme Verlag.
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Internetadressen:
Kongress Armut und Gesundheit: www.armut-und-gesundheit.de
Verweise:
Capacity Building / Kapazitätsentwicklung, Empowerment/Befähigung, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Gesundheitsförderung 2: Entwicklung vor Ottawa 1986, Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Salutogenese