Geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und Gender Mainstreaming
Thomas Altgeld , Gabriele Klärs
Zitierhinweis: Altgeld, T. & Klärs, G. (2024). Geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und Gender Mainstreaming. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Adressatengerechtes Arbeiten und Partizipation sind ein zentrales Qualitätsmerkmal von Gesundheitsförderung und Prävention. Geschlechterspezifische soziale und kulturelle Prägungen sowie Zuschreibungen spielen sowohl beim Gesundheitsbewusstsein als auch beim gesundheitsbezogenen Handeln im Alltag eine große Rolle. Bislang wird das soziale Geschlecht in der Gesundheitsforschung und -versorgung sowie in Prävention und Gesundheitsförderung nicht systematisch berücksichtigt. Das Präventionsgesetz und internationale Strategien liefern dafür jedoch erste nachhaltige Handlungsansätze.
Schlagworte
Soziales Geschlecht, Männergesundheit, Frauengesundheit, Public Health Action Cycle, Wohlbefinden, Geschlechtervielfalt
Neben Alter und sozio-ökonomischem Status (Bildung und Einkommen) ist Geschlecht eines der zentralen Differenzierungsmerkmale für den Gesundheitsstatus und gesundheitsbezogenes Verhalten. In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass es viele körperliche, psychische und soziale Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, die sich z. B. auf die Betroffenheit von Erkrankungen, deren Symptome und Verläufe sowie die Verträglichkeit und Wirksamkeit von Medikamenten beziehen (z. B. RKI 2014; RKI 2020; Kolip & Hurrelmann 2016). Unterschieden wird zwischen der biologischen und der sozialen Dimension von Geschlecht, die im englischen Sprachraum als sex und gender bezeichnet werden. Mit sex ist das biologische Geschlecht, d. h. Anatomie, Physiologie, Morphologie, Hormone und Chromosomen gemeint. Gender bezieht sich auf das soziale Geschlecht im Sinne von sozialen und kulturellen Prägungen und Zuschreibungen.
Aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Konstruiertheit sind Geschlechterzuschreibungen veränderbar. Die jeweiligen Vorstellungen und Praktiken von Geschlechtstypiken und Erwartungen werden im Rahmen von Sozialisationsprozessen vermittelt und in alltäglichen Interaktionsprozessen inszeniert. So sind auch körperbezogene Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse sowie der Grad der Bereitschaft, sich gesundheitsförderlich zu verhalten, von Geschlechterzuschreibungen geprägt.
Es herrscht daher Konsens darüber, dass die Kategorie Geschlecht in Gesundheitspolitik, -forschung und -versorgung sowie in Prävention und Gesundheitsförderung berücksichtigt werden muss.
Gleichstellungspolitik der WHO
Die Berücksichtigung von Geschlecht ist nicht nur ein Erfordernis des Gesundheitsbereichs, sondern betrifft verschiedene Politikfelder. Um Geschlecht systematisch in politische Entscheidungen und organisationale Prozesse zu integrieren, wurde die Strategie des Gender Mainstreaming entwickelt. Dieses Vorgehen wurde zunächst von der Vierten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen1995 in Peking verabschiedet und als Konzept in der Politik der Vereinten Nationen (UN 1996; UN ECOSOC 1997) verankert. Mit ihrer Zustimmung verpflichteten sich die 189 Mitgliedstaaten dem Leitbild der Geschlechtergerechtigkeit und der Umsetzung von Gender Mainstreaming als Arbeitsprinzip.
Der Begriff Mainstreaming (von engl. mainstream = Hauptstrom, Hauptrichtung) beinhaltet, bei sämtlichen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lebenssituationen und Interessen der Geschlechter von Beginn an und systematisch zu berücksichtigen. Die Umsetzung von Gender Mainstreaming hat damit den Charakter einer Querschnittsaufgabe. Mit dem Amsterdamer Vertrag vom 1. Mai 1999 (Europäisches Parlament 1999) wurde Gender Mainstreaming als rechtliche Strategie der Europäischen Union verankert. Die Mitgliedsländer verpflichteten sich, bei allen politischen Programmen, Maßnahmen und Dienstleistungen die Lebenssituationen und Interessen der Geschlechter zu prüfen und zu bewerten.
Das am 14. September 2001 von der WHO verabschiedete Madrid Statement (WHO 2002) hat unterstrichen, wie eng Versorgungsqualität mit der Berücksichtigung von biologischen Geschlechterunterschieden und Geschlechterrollen verknüpft ist und Gender Mainstreaming neben geschlechterspezifischen Maßnahmen die effektivste Strategie ist, um Chancengleichheit (equity) der Geschlechter zu erreichen. Dennoch muss kritisch angemerkt werden, dass die Translation der Zustimmung auf internationaler Ebene in die nationale Politik seither nur sehr zögerlich erfolgt.
Gleichstellungspolitik der EU
Auf EU-Ebene wurde Gender Mainstreaming in dem am 13. Dezember2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon (Europäisches Parlament 2009) erneut bekräftigt. In Artikel 8 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)ist festgelegt, dass die EU bei all ihren Tätigkeiten darauf hinwirken soll, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Da es sich bei Gender Mainstreaming um eine Top-down-Strategie handelt, ist v. a. die Führungs- und Leitungsebene in der Verantwortung. Aufgabe ist, Leitbilder, Prozesse und Entscheidungen aus Geschlechterperspektive zu überprüfen und durch den Aufbau von Genderkompetenz einen Wandel von Organisationsstrukturen und -kulturen hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit herbeizuführen.
Um diese Entwicklung zu unterstützen, wurde eine Reihe von Handreichungen und Anleitungen vorgelegt. Beispielhaft sei hier das Manual „Gender Mainstreaming for health managers“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2011) genannt. Ziel ist neben der Sensibilisierung für die Bedeutung der Kategorie Geschlecht, Kompetenzen für die konkrete Umsetzung aufzubauen. Im Rahmen von drei Modulen, die workshopartig bearbeitet werden können, werden die Prozesse der gendersensiblen Analyse und Planung von gesundheitsbezogenen Interventionen durchlaufen und die einzelnen Schritte mit Informationen, Instrumenten (z. B. mit der Gender Analysis Matrix oder dem Gender Assessment Tool), Lernaktivitäten und Reflexionsmöglichkeiten unterstützt.
Gleichstellungspolitik in Deutschland
Für Deutschland ergibt sich die Verpflichtung zur Umsetzung einer effektiven Gleichstellungspolitik im Sinne des Gender Mainstreaming sowohl aus dem internationalen Recht als auch aus dem nationalen Verfassungsrecht. Geschlechtergerechtigkeit als Leitprinzip ist seit dem 26. Juli 2000 in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung vereinbart. Seit 2001 sind alle Ministerien der Bundesregierung verpflichtet, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Gender Mainstreaming zu schulen und Pilotprojekte zu seiner Erprobung durchzuführen. Die einzelnen Schritte zur Implementierung von Gender Mainstreaming – von der Personalentwicklung über die Gesetzesfolgenabschätzung bis zur Überprüfung des Haushalts auf Geschlechtergerechtigkeit – wurden in den Ministerien im Rahmen von 33 Pilotprojekten bis Dezember 2003 umgesetzt (Sellach et al. 2003). Seit 2005 gibt es jedoch keine Aktivitäten der Implementierung mehr (Lewalter et al. 2009) bzw. fehlen systematische Bestandsaufnahmen (Stiegler 2016).
Die Ansätze wurden nur teilweise weiterentwickelt, so dass Geschlechteraspekte bei der Definition von Politikzielen und Handlungsschwerpunkten der Ressorts nach wie vor kaum systematisch berücksichtigt werden. Um den aktuellen Stand der Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland zu ermitteln und neue Impulse für die Gleichstellungspolitik zu erhalten, wird seit 2008 in jeder Legislaturperiode durch eine Sachverständigenkommission, die seit 2021 bei der Bundesstiftung Gleichstellung angesiedelt ist, ein Gleichstellungsbericht erstellt, der durch Handlungsempfehlungen (Gutachten) ergänzt wird.
Im Juli 2020 verabschiedete die Bundesregierung außerdem erstmals eine ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie, die gleichstellungspolitische Ziele der gesamten Bundesregierung formuliert und Maßnahmen nennt, die jeweils durch die federführenden Ressorts umgesetzt werden. Der Umsetzungsstand wird fortlaufend dokumentiert und veröffentlicht (BMFSFJ 2021).
Forschung und Praxis zur Gesundheit von Frauen
Ihren Anfang nahm die Thematisierung von frauengesundheitsbezogenen Themen im Zuge der Frauenbewegung der 1970-er und 1980-er Jahre. Die Frage nach der Asymmetrie der Geschlechterverhältnisse und die kritische Reflexion der Konstruktionen von Weiblichkeit und Geschlecht wurden Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung. Neben der theoretischen und empirischen Bearbeitung von frauenbezogenen Themen in Wissenschaft und Forschung waren Ausgangspunkte der Frauengesundheitsbewegung die Kritik an männerdominierter Gynäkologie und Geburtshilfe, Medikalisierung des weiblichen Körpers und Gewalt gegen Frauen sowie die Forderung zur Abschaffung des § 218, StGB als Kristallisationspunkt für die Einforderung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen über den eigenen Körper. Neben Frauenzentren, Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen gründeten sich in dieser Zeit Frauengesundheitszentren als spezifische Anlaufstellen für Frauen zur Gesundheit. Sie boten Selbsthilfe und Beratung für Frauen und Mädchen zu gesundheitlichen Themen an und brachten die Perspektive und Anliegen von Frauen in gesundheitspolitische Debatten ein. So ging von ihnen die politische Forderung aus, die gesundheitlichen Implikationen der Lebenslagen von Frauen zu verstehen und Gesundheitsversorgung und -politik frauengerecht zu gestalten (Boehm 2024). Heute existieren in Deutschland noch zwölf Frauengesundheitszentren. Politisch war das Thema Frauengesundheit zunächst in der Frauenpolitik verortet, wie der erste Frauengesundheitsbericht verdeutlicht, der im Jahr 2001 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) veröffentlicht wurde. Die daraufhin eingerichtete und vom BMFSFJ von 2001 bis 2004 finanzierte Bundeskoordination Frauengesundheit sollte die Umsetzung der im Bericht formulierten Handlungsempfehlungen unterstützen sowie Wissenstransfer und Vernetzung fördern. Auch auf Landesebene erfuhr das Thema Frauengesundheit politischen Auftrieb; es fand Eingang in gesundheitspolitische Debatten und es wurden zahlreiche Aktivitäten auf den Weg gebracht. Mehrere Bundesländer legten Gesundheitsberichte zur gesundheitlichen Situation von Frauen vor (z. B. Nordrhein-Westfalen im Jahr 2000, Berlin im Jahr 2003) und gründeten Netzwerke zur Frauengesundheit (z. B. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen).
Gleichzeitig wurden unter dem Dach Gender verstärkt Aspekte der Gesundheit von Männern diskutiert. In Nordrhein-Westfalen wurde durch den Landtag die Enquete-Kommission „Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in Nordrhein-Westfalen“ (2001 bis 2004) eingerichtet und das Feministische Frauengesundheitszentrum Köln als einer von zwei Trägern beauftragt, das vom Gesundheitsministerium geförderte Kompetenzzentrum Frauen und Gesundheit NRW zu etablieren. Ihr Auftrag war, die Akteurinnen und Akteure im Gesundheitssystem für die Relevanz von Geschlecht zu sensibilisieren und konkrete Aktivitäten zu unterstützen. Auf diese Weise gelang das Thema zwar stärker in den Fokus, von einer systematischen Verankerung kann jedoch bis heute keine Rede sein.
Auch auf der Bundesebene wurde die Gesundheitsberichterstattung, die bis dahin weitgehend geschlechtsblind war, weiterentwickelt. Das Robert Koch-Institut (rki) bereitet seit dieser Zeit Daten geschlechterdifferenziert auf und stellte die zentralen geschlechtsspezifischen Daten in Form eines Männergesundheitsberichts (2014) und eines Frauengesundheitsberichtes (2020) zusammen. Beide Berichte machen auf Basis von umfangreichem Zahlenmaterial deutlich, welche Handlungsbedarfe auch für Deutschland bestehen.
Forschung und Praxis zur Gesundheit von Männern
Das Handlungsfeld Gesundheit von Männern ist erst spät beforscht und aufgegriffen worden. Während der erste Frauengesundheitsbericht auf nationaler Ebene 2001 vom Bundesfamilienministerium veröffentlicht wurde, kam der erste Männergesundheitsbericht des Robert Koch-Instituts erst 2014 (RKI 2014) heraus.
Auf internationaler Ebene ist das Themenfeld Männergesundheit entscheidend durch das WHO-Regionalbüro für Europa (WHO/Europa) vorangetrieben worden. Das Büro hat 2018 in seiner ersten Strategie zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Männern in der Europäischen Region klar benannt, dass effektive männergerechte Gesundheitsförderung auf Stärken und positiven Bildern von Männern aufbauen und eben nicht Männer als hinsichtlich ihres Gesundheitsbewusstseins defizitäre Wesen begreifen sollte. Die Strategie benennt drei Grundvoraussetzungen (WHO/Europe 2018):
- Aufbauen auf einem positiven Bild von Jungen und Männern und dieses fördern, unabhängig von deren Alter, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, ethnischer Zugehörigkeit, Kultur und Religion.
- Verzicht auf Verwendung von geschlechtsspezifischen Vorurteilen, die zu einem Fortbestehen von ungleichen und schädlichen Rollenbildern und Verhaltensweisen beitragen.
- Entwicklung stützender Umfelder, die einen positiven, ganzheitlichen Ansatz gegenüber der Rolle von Männern als Väter, Partner, Kollegen und Betreuer fördern.
Richtungsweisend ist bei der WHO-Strategie der Perspektivenwechsel weg von der Betrachtung einzelner Risikoverhaltensweisen und vermeintlich gesundheitlicher Defizite bei Männern hin zu Wohlbefinden und positiven Männerrollen. Außerdem ist die enge Verknüpfung mit Gleichstellungsfragen bemerkenswert. Länder mit einer ausformulierten Männergesundheitsstrategie, beispielsweise Australien oder Neuseeland, erfüllen diese Voraussetzungen bereits seit Jahren (Altgeld 2016).
Das einzige europäische Land, das die WHO-Strategie umsetzt, ist Irland. Irland hat einen „National Men’s Health and Action Plan. Healthy Ireland – Men HI-M 2017−2021“ (Health Service Executive 2016) mit dem programmatischen Untertitel verabschiedet: „Working with men in Ireland to achieve optimum health and wellbeing“. Der Aktionsplan will Männergesundheit in breiten Politikfeldern verankern und ist Teil einer „Gesunden Irland-Gesamtstrategie“, wie nachfolgendes Schaubild verdeutlicht:
2021 wurde die Gesamtstrategie erweitert um einen „Women’s Health Action Plan“, der bis einschließlich 2025 umgesetzt werden soll. Kein anderes europäisches Land hat bislang eine vergleichbar umfassende geschlechtersensible Politikstrategie für beide Geschlechter entwickelt.
Geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland
Bis dato (Stand 2024) hat sich in Deutschland trotz verbesserter Datenlagen und Verankerung von Gender Mainstreaming in Grundsatzpapieren und einzelnen Förderprogrammen noch keine wirklich geschlechtergerechte Gesundheitsförderungs- und Präventionslandschaft entwickelt. Auch die Umsetzungspraxis der gesetzlichen Verpflichtung der Krankenkassen im Rahmen von § 2b und § 20, SGB V ist im Bereich der Primärprävention und Gesundheitsförderung über die vier geförderten Projekte nicht wesentlich hinausgekommen. Über die gemeinsam geförderten Modellprojekte hinaus gab es nur sehr wenige Projekte von Einzelkassen mit geschlechtsspezifischem Ansatz, z. B. zu männergerechtem betrieblichen Gesundheitsmanagement der Techniker Krankenkasse oder ein Primärpräventionsprogramm für Alleinerziehende und ihre Kinder von der BARMER.
Beispiel für gute Praxis kommunaler geschlechtsspezifischer Gesundheitsförderung
Ein Beispiel guter Praxis kommunaler geschlechtsspezifischer Gesundheitsförderung sind die Angebote des „Instituts für Frauen- und Männergesundheit“ in Wien. Ihr Ansatz und die Umsetzung sind einzigartig im deutschsprachigen Raum. Das Institut will gesundheitsbewusste Lebensstile von Frauen und Männern unterstützen. Gesundheit wird dabei als soziales, psychisches und physisches Wohlbefinden gesehen. In drei Gesundheitszentren (zwei für Frauen und eines für Männer) an sechs Standorten über die Stadt Wien verteilt, werden vielfältige Angebote für vulnerable Jungen, Mädchen, Männer und Frauen gemacht. Das Angebotsspektrum reicht von Selbstwertstärkung für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, über interkulturelle Männerwerkstätten bis hin zur Begleitung zu Gesundheitschecks in Arztpraxen.
In Deutschland gibt es seit den 1970-er Jahren in zwölf größeren Kommunen Frauengesundheitszentren (z. B. Berlin, Hannover, Köln, München), die auch präventive Angebote vorhalten, u. a. frauenspezifische Bewegungs- und Entspannungskurse oder Selbstverteidigungskurse für Mädchen. Ein vergleichbarer Ansatz für Männer findet sich bislang nur in Nürnberg mit dem Projekt „Kommunale Koordination von Jungen- und Männergesundheit“ (im Aufbau). Es soll auf die Bedarfe von Jungen und Männern in schwierigen Lebenslagen fokussieren, vor allem in sozioökonomisch stark belasteten Stadtteilen. Es ist auf drei Jahre (2021 bis 2024) angelegt und wird von der Techniker Krankenkasse gefördert.
Das Gros der Projekte zur Primärprävention in Kitas und Schulen sowie der Individualprävention agiert im deutschen und europäischen Raum nach wie vor relativ geschlechtsneutral.
Gleichstellung in der Gesundheitsförderung
In der Gesundheitsförderung bilden adressatengerechtes Arbeiten und Partizipation zentrale Qualitätsmerkmale. Um Interventionen an die Bedürfnisse und Lebenslagen der Adressatinnen und Adressaten anpassen zu können, ist die Berücksichtigung von Geschlecht unerlässlich. Eine maßgeschneiderte gendersensible Gesundheitsförderung verfolgt darüber hinaus geschlechter- und gleichstellungspolitische Ziele: Sie will gesundheitliche Ressourcen der Geschlechter fördern, einen Beitrag zur Verminderung geschlechtlich bedingter Ungleichheit leisten sowie traditionelle Geschlechterzuschreibungen kritisch reflektieren, um diese letztlich aufzuweichen oder zu erweitern. Als Qualitätsmerkmal hat Geschlecht Eingang in verschiedene Systeme der Qualitätssicherung gefunden.
Die vom Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheitentwickelten zwölf Good Practice-Kriterien haben sich als fachlicher Rahmen für die Planung und Umsetzung von Maßnahmen der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung etabliert. Die Kriterien bilden Anforderungen an die Konzeptqualität und umfassen neben u. a. Konzeption, Settingansatz (Settingansatz/Lebensweltansatz) und Evaluation den Zielgruppenbezug, der die Differenzierung nach geschlechtlicher Zuschreibung beinhaltet (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2021).
Planung und Umsetzung gesundheitsförderlicher gendersensibler Interventionen
Die Planung und Umsetzung gesundheitsförderlicher Interventionen orientiert sich idealerweise am Public Health Action Cycle/Gesundheitspolitischer Aktionszyklus. Dieses Instrument zur systematischen Konzeptionierung von Interventionen der Gesundheitsförderung und Prävention umfasst in seiner erweiterten Variante (Rosenbrock & Gerlinger 2014) die relevanten Prozessschritte von der Problemanalyse über die Definition von Gesundheitszielen, die Auswahl von Strategien und Maßnahmen sowie deren Umsetzung bis zur Evaluation. Bei jedem Prozessschritt sind geschlechterbezogene Aspekte zu berücksichtigen (siehe Abb. 2).
Seit 2001 betreibt die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, die von Kantonen und Versicherern finanziert wird und den gesetzlichen Auftrag hat, Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit und zur Verhütung von Krankheiten anzuregen, zu koordinieren und zu evaluieren,das Qualitätssystem „quint-essenz“, das Methoden und Instrumente für das Projektmanagement und die Qualitätsentwicklung der Gesundheitsförderung und Prävention entwickelt hat und sie Akteurinnen und Akteuren zur Verfügung stellt. Die 21 Qualitätskriterien (Gesundheitsförderung Schweiz 2014) beziehen sich auf verschiedene Prozessschritte von der Projektgründung, über -planung, -organisation und -steuerung bis zur Evaluation sowie Qualitätsdimensionen. Jedes Kriterium ist mit Indikatoren hinterlegt, die in Form von Checklisten für die konkrete Projektarbeit genutzt werden können. Die Checkliste zur Genderperspektiveermöglicht über alle Projektschritte hinweg systematisch zu überprüfen, ob und in welcher Weise Geschlechteraspekte berücksichtigt wurden.
Die beispielhaft genannten Instrumente können in der Planungsphase eingesetzt werden, um die Kategorie Geschlecht zu berücksichtigen. Sie können darüber hinaus hilfreich für die Überprüfung der Konzeptqualität aus der Geschlechterperspektive sein, wenn es beispielsweise um die Einschätzung der Förderungswürdigkeit von Projekten geht.
Geschlechtsspezifische Besonderheiten nach dem Präventionsgesetz
Mit dem am 25. Mai 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetz werden die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, geschlechtsspezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Diese Verpflichtung gilt für das gesamte Leistungsspektrum, das über die gesetzliche Krankenversicherung finanziert wird. Für den Bereich der Primärprävention wird diese Verpflichtung noch einmal ausdrücklich in der Neufassung des § 20, SGB V verankert: „Die Leistungen sollen insbesondere zur Verminderung sozial bedingter sowie geschlechterbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen.“
Nach der Verabschiedung des Präventionsgesetzes veröffentlichte das Bundesministerium für Gesundheit eine Rahmenbekanntmachung mit dem Schwerpunkt „Geschlechtsspezifische Besonderheiten in der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung“ (BMG 2018). Die Ergebnisse der in diesem Rahmen dann ab Anfang 2020 geförderten sieben Forschungsvorhaben und fünf Modellprojekte sollen dazu beitragen, „geschlechtsbedingte gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren und die Qualität von Angeboten in der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung zu verbessern“ (ebd., S. 2). Unter anderem wurden die Entwicklung einer gendersensiblen psychischen Gefährdungsbeurteilung und eine geschlechtsspezifische Diabetesprävention als Forschungsvorhaben gefördert.
Bei den Modellprojekten akzentuieren zwei Projekte die Übertragung erfolgreicher männerspezifischer Programme aus dem angelsächsischen Raum auf deutsche Kontexte: „Men’s Sheds“ („Männerschuppen“) und „Healthy Dads – Healthy Kids“. Obwohl ein Großteil der geförderten Projekte bereits Ende 2023 ausgelaufen ist oder bis zum 1. Quartal 2025 ausläuft, finden sich bislang kaum Ergebnisberichte oder Zwischenpublikationen aus den geförderten Projekten.
Auch das im Rahmen der Umsetzung des Präventionsgesetzes gegründete, kassenartenübergreifende GKV-Bündnis für Gesundheit suchte Ende 2020 im Rahmen einer bundesweiten Ausschreibung geeignete Projekte zu geschlechtergerechten Ansätzen und fördert die Erforschung geschlechtsspezifischer Besonderheiten bei der Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten. Seit Mitte 2021 werden über einen Zeitraum von drei Jahren vier Modellprojekte gefördert.
Die Förderbekanntmachungen des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, der seit 2016 Projekte fördert, „die innovative Ansätze für die gesetzliche Krankenversicherung erproben und neue Erkenntnisse zum Versorgungsalltag gewinnen“ sollen, hatten bis 2024 keinen Genderschwerpunkt. Erst die laufende Förderbekanntmachung 2024 benennt als eines von acht ausgeschriebenen Themen die Forschung für eine bedarfsgerechte Versorgung im Hinblick auf geschlechtsbedingte Unterschiede unter Berücksichtigung weiterer Determinanten (intersektionaler Ansatz).
Geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und Vielfalt der Geschlechter
Sarah Payne (Payne & WHO/Europe 2009) ist in einem Grundsatzpapier für die Weltgesundheitsorganisation der Frage nachgegangen, wie Chancengleichheit über das Gesundheitssystem hergestellt werden kann. Dabei hat sie drei zentrale Strategien zur Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit benannt, die auch für den Gesundheitsförderungssektor entscheidend sind: regulatorische Ansätze (z. B. Gesetzgebung), organisatorische Ansätze (z. B. Gender Impact Assessments) und informationelle Ansätze (z. B. gendersensitive Gesundheitsindikatoren). Payne sieht in der Schaffung eines politischen Rückhalts den Dreh- und Angelpunkt für Fortschritte in Genderfragen: Nur so ließen sich Strukturen verändern und Ressourcen mobilisieren. Der Status quo des Beschreibens von geschlechtsspezifischen Auffälligkeiten und der Verankerung von Gender Mainstreaming in Präambeln oder Querschnittsanforderungen bei unveränderter geschlechtsneutral agierender Praxis würde bislang zu wenig kritisiert.
Komplexer werden die politischen Genderdiskussionen aktuell auch durch die sichtbarer werdende Vielfalt der Geschlechter. So haben seit 2017 nicht-binäre Menschen mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Dritten Option ein Recht auf Anerkennung ihrer nicht-binären Geschlechtlichkeit sowie ein Recht erkämpft, gegenüber anderen Geschlechtern nicht benachteiligt zu werden.
Literatur:
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BMFSFJ − Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/ministerium/berichte-der-bundesregierung/dritter-gleichstellungsbericht/gleichstellungsberichte-der-bundesregierung/die-gleichstellungsberichte-der-bundesregierung-118040
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Feministisches FrauenGesundheitsZentrum Hagazussa e. V. Köln: https://www.frauengesundheitszentrum-koeln.de
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Verweise:
Präventionsgesetz, Public Health Action Cycle / Gesundheitspolitischer Aktionszyklus, Settingansatz/Lebensweltansatz