Anwaltschaft - Vertretung und Durchsetzung gesundheitlicher Interessen
Zitierhinweis: Böhm, K. (2025). Anwaltschaft − Vertretung und Durchsetzung gesundheitlicher Interessen. In: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Fehlt Menschen die Möglichkeit, sich selbst im Kontext der eigenen Gesundheit ausreichend zu artikulieren oder um gesundheitliche Chancengleichheit allgemein zu verbessern, braucht es anwaltschaftliches Eintreten im Sinne einer Interessensvertretung. Es gibt inzwischen zahlreiche Handbücher und Anleitungen, die Advocacy-Strategien und Instrumente für die Gesundheitsförderung praxisnah beschreiben. Auch finden sich zunehmend anwaltschaftliche Zusammenschlüsse von Personen und Institutionen, die für die Ziele der Gesundheitsförderung im Sinne von Advocacy anwaltschaftlich eintreten. Die Umsetzung von Advocacy scheitert jedoch häufig an fehlenden Ressourcen und weil Interessenvertretung bislang kaum als Grundkompetenz der Gesundheitsförderung verstanden und gelehrt wird.
Schlagworte
Advocacy, Interessenvertretung, Lobbyarbeit
Anwaltschaft (englisch: advocacy) ist laut Ottawa-Charta eine der drei Handlungsstrategien der Gesundheitsförderung. Im Deutschen verwenden wir diesen Begriff eher selten und sprechen meist von Interessenvertretung. In der Public Health-Literatur lassen sich unterschiedliche Verwendungen des Advocacy-Begriffs finden (Cohen & Marshall, 2017). Carlisle (2000) hat ein vierdimensionales Konzept entwickelt, das unterschiedliche Ansätze integriert. Es unterscheidet zwischen der
- Interessenvertretung von Betroffenen(-gruppen) und
- genereller Anwaltschaft für die Gesundheit durch die Adressierung struktureller Ursachen.
In beiden Fällen kann Anwaltschaft mit dem Ziel verfolgt werden,
- Individuen oder Gruppen zu ermächtigen, selbst für ihre Interessen einzutreten (facilitational advocacy), oder
- stellvertretend für benachteiligte Individuen oder Gruppen einzutreten (representational advocacy).
Das eine Vorgehen schließt das andere nicht aus.
Eine spezifische Form der Anwaltschaft ist der Lobbyismus. Während Anwaltschaft jegliches Eintreten für die Interessen von Individuen oder Gruppen bzw. die Gesundheit der Bevölkerung umfasst, meint Lobbyismus das Einflussnehmen auf politische Entscheidungen bzw. staatliche Entscheidungsträgerinnen und -träger.
Interessenvertretung für Betroffene
Anwaltschaft wird eingesetzt als Arbeitsprinzip. Dabei vertreten fachlich, methodisch und sozial kompetente und von den Betroffenen legitimierte Personen oder Verbände die Interessen von Personen oder Gruppen, denen es (noch) an Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeiten mangelt. Dabei geht es um die Vermeidung bzw. Verringerung von Benachteiligungen, aber auch um die Entwicklung bzw. Erweiterung von Fähigkeiten, die eigenen Interessen zu vertreten.
Mit der Zunahme marktwirtschaftlicher Entwicklungen im Gesundheitssystem erhielt das Ziel der Patienten-Souveränität größere Aufmerksamkeit. Dabei wurde erkannt, dass es besonderer Institutionen bedarf, die einerseits stellvertretend Patienteninteressen vertreten (z. B. Beratungseinrichtungen, Patientenorganisationen, Verbraucherschutz) und andererseits Patientinnen und Patienten selbst dazu befähigen (> Empowerment/Befähigung).
Am besten etabliert ist Anwaltschaft als Methode der Anwaltsplanung. Dieser Ansatz (advocacy planning) stammt vor allem aus den USA. Er wurde Anfang der 1970-er Jahre in Deutschland bekannt als ein Verfahren der Beteiligung von Bewohnerinnen und Bewohnern in städtebaulichen Planungsprozessen. Anwaltsplanerinnen und -planer erstellen zusammen mit Bürger- bzw. Anwohnergruppen alternative Lösungen im Interesse ihrer Klientinnen und Klienten.
Anwaltschaft für die Gesundheit
Beim anwaltschaftlichen Eintreten für das Ziel Gesundheit gilt es, die politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, biologischen sowie Umwelt- und Verhaltensfaktoren im Sinne der Gesundheit positiv zu beeinflussen. Dies insbesondere mit Blick auf Einflussfaktoren auf gesundheitliche Chancengleichheit. Anders ausgedrückt geht es darum, die in der Ottawa-Charta formulierte Forderung nach einer > Gesundheitsfördernden Gesamtpolitik/Healthy Public Policy umzusetzen.
Umsetzung von Advocacy: Strategien und Instrumente
Obwohl Advocacy zur Erreichung von Zielen der Gesundheitsförderung essenziell ist und damit zur Grundkompetenz von Fachkräften in der Gesundheitsförderung gehören sollte, ist die Vermittlung von Advocacy-Kompetenzen meist nicht Teil der gesundheitswissenschaftlichen Ausbildung in Deutschland. In anderen v. a. angelsächsischen Ländern gehört die Advocacy-Rolle zum professionellen Selbstverständnis von Gesundheitsakteurinnen und -akteuren und ist zunehmend Teil der Curricula. Inzwischen gibt es zahlreiche Advocacy-Toolkits (z. B. Advocacy in Action, 2019; Public Health-Advocacy Toolkit, 2007), die Wissen über den Advocacy-Prozess praxisnah aufbereiten und einzelne Instrumente und Strategien anhand von Praxisbeispielen beschreiben.
Advocacy erfolgt im besten Fall strategisch, um die Wirksamkeit zu erhöhen. Unterstützen kann hierbei das Advocacy-Framework des Public Health-Advocacy Institute of Western Australia (Stoneham et al., 2019).

Das Handbuch gibt für jeden der einzelnen Schritte eine umfassende Anleitung zum Vorgehen und beschreibt praxisnah die Anwendung von 13 Advocacy-Instrumenten, darunter klassische Instrumente wie Öffentlichkeitsarbeit und das Verfassen von politischen Strategiepapieren. Zusätzlich finden sich dort auch Instrumente, die insbesondere auf kommunaler Ebene umgesetzt werden können, beispielsweise die Gewinnung einer prominenten lokalen Persönlichkeit für das Vorhaben.
Geht es um die Beeinflussung von politischen Entscheidungen, also Lobbyarbeit, braucht es gute Kenntnisse der Entscheidungsprozesse: Wer trifft wann welche Entscheidung und welche Faktoren haben Einfluss auf die Entscheidung? Zudem ist es hilfreich, ein Netzwerk politischer Kontakte zu haben, um rechtzeitig über relevante politische Prozesse und Entscheidungen informiert zu werden und zugleich Informationen einbringen zu können (z. B. durch das Verfassen von Hintergrundpapieren oder die Einladung als Expertin bzw. Experte bei Anhörungen).
Advocacy-Akteurinnen und Akteure der Gesundheitsförderung in Deutschland
Während im Englischen wie selbstverständlich von Public Health-Advocats gesprochen wird, verwenden wir im Deutschen den Begriff der Interessensvertretung. Die Interessen für die Gesundheitsförderung werden sowohl von Einzelpersonen als auch von Organisationen oder deren Zusammenschlüssen vertreten. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Organisationen und deren Zusammenschlüsse. Es gibt sie in Deutschland auf allen föderalen Ebenen.
Zentrale Advocacy-Akteurinnen und -Akteure auf Bundesebene sind:
- Die Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) ist der Dachverband von 134 Mitgliedsorganisationen, darunter vor allem Bundesverbände des Gesundheitswesens, die einen Arbeitsschwerpunkt im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung haben (z. B. die Bundesärztekammer, die Spitzenverbände der Krankenkassen, Verbände der Heil- und Hilfsberufe) sowie weitere Akteurinnen und Akteure aus dem Handlungsfeld (z. B. Landesvereinigungen/-zentralen für Gesundheit, Bildungsinstitutionen). Die BVPG setzt sich für den Strukturerhalt und Strukturverbesserungen in Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland ein und fördert v. a. die Vernetzung und Kooperation ihrer Mitglieder.
- Die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) ist ein Zusammenschluss von 21 wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, Verbänden und Forschungseinrichtungen, der sich mit Studien, Positionspapieren und politischen Appellen für nachhaltige Primärprävention in Deutschland einsetzt.
- Die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) ist ein Netzwerk von Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, über die gesundheitlichen Auswirkungen der Klimakrise aufzuklären und Gesundheitsberufe zu befähigen, die Transformation zu einer klimaneutralen Gesellschaft mitzugestalten. Hierfür werden Akteurinnen und Akteure über Sektorengrenzen hinweg vernetzt, Inhalte in die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen eingebracht und Impulse für die Öffentlichkeitsarbeit gegeben. Zudem hat KLUG 2021 gemeinsam mit der Stiftung Mercator das Center for Planetary Health Policy gegründet, um die Politik zu planetarer Gesundheit wissenschaftlich zu beraten.
- Das Gesunde-Städte-Netzwerk Deutschland (GSN) ist ein Zusammenschluss von 97 Kommunen (Städte, Stadtbezirke, Landkreise, Gemeinden und Regionen), die sich zur kommunalen Gesundheitsförderung bekennen. Das GSN ist Teil des 1986 von der WHO initiierten weltweiten Healthy Cities Network und „versteht sich als kommunales Sprachrohr auf der Bundesebene für die kompetente Gestaltung einer lebensweltlichen Gesundheitsförderung durch integrierte Handlungsansätze und bürgerschaftliches Engagement“ (GSN, 2025).
- Das Zukunftsforum Public Health ist ein Zusammenschluss von Organisationen und Personen aus Public Health-Wissenschaft und -Praxis, die sich für die Stärkung von Public Health in Deutschland einsetzen. Mit jährlichen Symposien und digitalen Austauschformaten vernetzen sie die Public Health-Akteurinnen und -Akteure. Über die Veröffentlichung von Positionspapieren und politische Arbeit werben sie für die Entwicklung einer Public Health-Strategie und die Umsetzung von Health in All Policies in Deutschland (> Gesundheit in allen Politikfeldern/Health in All Policies [HiAP]).
Die zentralen Interessensvertretungen für Gesundheitsförderung auf Landesebene sind die Landesvereinigungen bzw. Landeszentralen für Gesundheit(sförderung). Es gibt sie in allen Bundesländern mit Ausnahme von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Die gemeinnützigen Vereine stärken die Gesundheitsförderung in den Ländern durch die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen, Vernetzung, Beratung und Qualifizierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Zudem bringen sie sich in gesundheitsbezogene Prozesse ein oder organisieren sie. Viele von ihnen wirken nicht nur selbst als Advocacy-Akteure, sondern qualifizieren auch lokale Akteurinnen und Akteure für die Entwicklung und Umsetzung von Advocacy-Strategien.
Ein über alle drei föderalen Ebenen hinweg wirkende Struktur ist der seit 2003 bestehende, von der BZgA (seit 13.2.2025 Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit BIÖG) initiierte und maßgeblich unterstützte Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit. Ihm gehören (Stand April 2025) 75 Partnerorganisationen aus kommunaler Selbstverwaltung sowie dem Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich an. In allen 16 Bundesländern gibt es Netzwerke, die von den Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit (KGC) begleitet und unterstützt werden. In der Regel werden die Koordinierungsstellen jeweils zur Hälfte von den Bundesländern und kassenartenübergreifend von den Krankenkassen finanziert. Träger sind in der Regel die Landesvereinigungen für Gesundheit. Um die Gesundheitsförderung in Lebenswelten zu stärken, wird der Aufbau integrierter kommunaler Strategien durch den Partnerprozess Gesundheit für alle von der KGC unterstützt (> Präventionskette – Integrierte kommunale Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung und Prävention
Ergänzend zu nennen sind die zahlreichen gesundheitsbezogenen Selbsthilfeorganisationen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene (> Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung).
Anwaltschaftliche Vertretung durch Kooperationsgremien bedeutet oftmals, sich in andere Politikbereiche einzumischen und Gesundheitsbelange dort aktiv zu vertreten. Die Funktion der anwaltschaftlichen Interessenvertretung für Gesundheit im Sinne einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik kommt in den regionalen und kommunalen Gremien häufig zu kurz gegenüber der Organisation und Koordination von gesundheitsfördernden Angeboten und Anbietern. Auch erweist sie sich in vielen Fällen kaum als realisierbar, da das Gesundheitsressort vielfach politisch zu schwach ist, um Gesundheitsinteressen in anderen Politiksektoren zur Geltung zu bringen (z. B. in Stadtplanung und Verkehrspolitik, bei Gewerbeansiedlungen oder im Konflikt mit wirtschaftlichen Prestigeprojekten).
In allgemeiner Form hat sich Laverack (2010) mit der Frage befasst, inwieweit Gruppen des bürgerschaftlichen Engagements und Public Health-Fachleute Einfluss auf Politik nehmen können. Empirische Studien lassen ihn zu dem Schluss kommen, dass ein guter Zugang zu internen Politikzirkeln und Beiräten effektiv sein kann. Weiterhin gibt es Belege dafür, dass Einflussnahme umso erfolgreicher ist, je technokratischer die gewünschte Politik ist, je klarer die Ziele und je kürzer die Umsetzungsdauer sind. Im Umkehrschluss: Je komplexer die im Namen der Gesundheitsförderung befürwortete Politik ist, desto geringer sind die Erfolgsaussichten.
Literatur:
Carlisle, S. (2000). Health promotion, advocacy and health inequalities: a conceptual framework. Health Promotion International, 15(4), 369–376. https://doi.org/10.1093/heapro/15.4.369
Cohen, B. E. & Marshall S. G. (2017). Does public health advocacy seek to redress health inequities? A scoping review. Health and Social Care in the Community, 25(2), 309–328. https://doi.org/10.1111/hsc.12320
GSN − Gesunde Städte Netzwerk Deutschland (2025): Über uns – Wofür steht das Gesunde Städte Netzwerk, Zugriff am 12.04.2025 unter: https://gesunde-staedte-netzwerk.de/das-netzwerk/ueber-uns
Laverack, G. (2010). Influencing public health policy: to what extent can public action defining the policy concerns of government? Journal of Public Health, 18(1), 21–28. https://doi.org/10.1007/s10389-009-0274-5
Public Health-Alliance Ireland for the island of Ireland. (2007). Public health advocacy toolkit. Zugriff am 12.04.2025 unter https://phabc.org/wp-content/uploads/2015/07/Public-Health-Advocacy-Toolkit.pdf
Stoneham, M., Vidler, A. & Edmunds, M. (2019). Advocacy in action: A toolkit for public health professionals (4th ed.). Zugriff am 12.04.2025 unter https://nla.gov.au/nla.obj-2340108842/view
Weiterführende Quellen
Active Voice: Übersicht über verschiedene Advocacy-Toolkits www.activevoice.eu/collection
Internetadressen:
Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung: www.bvpraevention.de
Center for Planetary Health Policy: www.cphp-berlin.de/de
Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit: www.klimawandel-gesundheit.de
Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten: www.dank-allianz.de
Gesunde Städte Netzwerk: www.gesunde-staedte-netzwerk.de
Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit in den Bundesländern: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/kooperationsverbund/struktur/koordinierungsstellen-gesundheitliche-chancengleichheit
Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Zukunftsforum Public Health: www.zukunftsforum-public-health.de
Verweise:
Empowerment/Befähigung, Gesundheit in allen Politikfeldern / Health in All Policies (HiAP), Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Präventionskette – Integrierte kommunale Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung und Prävention, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung
Ich danke Frank Lehmann, Carolin Chwaluk und Alf Trojan für die Arbeit an der ersten Version dieses Textes, an die ich anknüpfen konnte.