Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

Peter Franzkowiak

(letzte Aktualisierung am 19.05.2022)

Zitierhinweis: Franzkowiak, P. (2022). Gesundheits-Krankheits-Kontinuum. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i026-1.0

Zusammenfassung

Zwischen Gesundheit und Krankheit bestehen vielfache, dimensionale Wechselbeziehungen. Der Salutogenese entstammt der Ansatz, Gesundheit und Krankheit nicht als alternative, dichotome Zustände, sondern als gedachte Endpunkte in einem gemeinsamen Kontinuum von HE („health-ease“) und DE („dis-ease“) zu verstehen. In einem solchen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum können auch teilweise oder vollständige Gesundheitsbeeinträchtigungen in ihrer jeweiligen Balance zwischen gesunden und kranken Anteilen abgebildet werden. Der Kontinuumsansatz hat vielfältige Vorläufer und konzeptionelle Nachbarschaften: von der Integrativen Medizin über Verhaltenstheorien und Stress-Modelle bis zur Wellness-Bewegung. In Forschung und Praxis der anglo-amerikanischen Mental Health wird seit Längerem versucht, die dynamische Dimensionalität auf mehrfache Ebenen und ihre Kovariation auszuweiten (z. B. im „Dual Continua Model of Mental Health“). Aktuell werden alternative dimensionale Klassifikationen psychischer Störungen entwickelt, die sich konsequent an Kontinua orientieren.

Schlagworte

Gesundheit, Krankheit, Salutogenese, Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, HE-DE-Kontinuum, Mental Health, Dual Continua Model, HiTOP, kategoriales vs. dimensionales Denken


Wie immer man Gesundheit, Gesundheitsrisiken und Krankheit betrachtet und zu systematisieren versucht, ob aus primär körperlicher, seelischer, sozialer oder ökologischer Perspektive betrachtet, bestehen stets Wechselbeziehungen mit fließenden Übergängen. Diese Wechselwirkungen werden beeinflusst durch Anlagefaktoren (genetische und physiologische Dispositionen), natürliche Alterungs- und Abbauprozesse, lebensgeschichtlich erworbene Erfahrungen und psychosoziale Vulnerabilitäten bzw. Resilienzen, Motivationen und Handlungsbereitschaften (Lebensweisen/Lebensstile) sowie durch soziokulturelle, ökonomische und umweltbezogene Rahmenbedingungen (Lebenslagen und Lebensphasen; Determinanten von Gesundheit).

Gesundheit und Krankheit im Kontinuumskonzept

Aufbauend auf der salutogenetischen Perspektive versteht die Gesundheitsförderung Gesundheit und Krankheit nicht als alternative, dichotome Zustände, sondern als gedachte Endpunkte eines gemeinsamen Kontinuums. Es gibt fließende Übergänge zwischen Gesundheit und Krankheit. Außerdem existiert kein strenges zeitliches Nacheinander, sondern oftmals eine Gleichzeitigkeit von eher gesunden und eher kranken Anteilen des Wohlbefindens. Das Kontinuum ist durch zahlreiche Zwischenstadien gekennzeichnet, die sowohl die subjektive als auch die objektive Befindlichkeit angeben. Bereits die Alltagssprache kennt vielfältige Differenzierungen: gesund sein, gesund bleiben, wieder gesund werden, sich krank fühlen, krank werden, akut krank sein, chronisch krank sein, behindert sein, sich von einer Krankheit erholen, mit Behinderung leben, bedingt gesund sein etc. (Gesundheitsverhalten, Krankheitsverhalten, Gesundheitshandeln).

Das Kontinuum ist gedacht zwischen einem imaginären Gesundheitspunkt (engl.: total well-being bzw. health-ease, abgekürzt: HE) und einem imaginären Krankheitspunkt (engl.: total illness bzw. health dis-ease, abgekürzt: DE) und wird daher auch als HE-DE-Kontinuum bezeichnet (Antonovsky 1979; Blättner 2007; Franke 2012; Faltermaier 2017).

Die Gesamtkonzeption ist mehrdimensional. Neben Gesundsein-Kranksein existieren weitere Befindens-Dimensionen, die ebenfalls als Kontinua zu denken sind und auf die Grunddimension einwirken, mit dieser korrelieren. An jedem Punkt besteht ein labiles, immer wieder neu auszubalancierendes komplexes Gleichgewicht zwischen salutogenetischen Prozessen (welche die körperliche, seelische und soziale Regulationsfähigkeit sichern bzw. unterstützen) und pathogenetischen Vorgängen (welche die körperliche, seelische und soziale Regulations- und Anpassungsfähigkeit überlasten, überfordern bzw. hemmen). In einer BZgA-Expertise formulierten Bengel, Strittmatter & Willmann als Kernthese: „Die Frage ist nicht mehr, ob jemand gesund oder krank ist, sondern wie weit entfernt bzw. nahe er den Endpunkten Gesundheit und Krankheit jeweils ist.“ (2001, S. 32; gleichsinnig: Faltermaier 2017)

Für die Verortung eines Menschen auf dem HE-DE-Kontinuum (siehe Abbildung 1) werden gleichermaßen medizinische Befunde wie auch Indikatoren des subjektiven Befindens herangezogen. Menschen sind nicht „nur“ gesund oder krank. Sie befinden sich zu einer bestimmten lebensgeschichtlichen Zeit auf einem Punkt des Kontinuums zwischen den Polen − und dies hinsichtlich vielfältiger subjektiver und objektiver Dimensionen.

Abbildung 1 und viele ihr ähnliche Veranschaulichungen (siehe weiter unten) sind – notgedrungen – noch schematisch-eindimensionale Darstellungen. Die konzeptionelle und (lebens-)praktische Multidimensionalität der Pole und die vielfältigen Bewegungen auf ihnen können nicht hinreichend abgebildet werden. Dringend notwendige, zur Mehrdimensionalität fähige Veranschaulichungen stehen national wie international aus. Die weiter unten vorgestellten orthogonalen Modellierungen zu Kontinua der psychischen Gesundheit stellen erste Schritte zur Abschwächung dieses Dilemmas dar.

Welche Position(en) eine Person einnimmt, ist Ergebnis der prozesshaften Wechselwirkung zwischen persönlichen und umweltgebundenen Risikofaktoren und Protektivfaktoren bei der Bewältigung von Belastungen und im Rahmen der produktiven Realitätsverarbeitung. Dabei besteht eine Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen Rahmen und der Lebensgeschichte des Menschen. Die Balance zwischen Salutogenese und Pathogenese entscheidet, ob man für einen gewählten Zeitpunkt von optimaler Gesundheit spricht, von einem unauffälligen Gesundheitsstatus, von einer relativen, bedingten Gesundheit, von akutem Kranksein, von chronischer Krankheit bzw. Behinderung, von finalen Krankheitszuständen.

Krankheit ist im Kontinuumskonzept kein abgrenzbares pathologisches Ereignis, nicht allein ein Ausfall des Organismus, eine Schwächung ausgewählter Organe oder physiologischer Systeme. Sie wird vielmehr als lebensgeschichtlich eingebetteter Prozess einer „Ent-Gesundung“ (Franke 2012, S. 172) verstanden – ganz im Sinne von DE („health dis-ease“). Die Begründer der deutschen Medizinischen Anthropologie und Integrativen Medizin prägten hierfür das Bild einer „Blockierung der Gesundheitserzeugung“ (Uexküll 1990, S. 1277 – in Fortführung von Weizsäcker 1930 und 1986). Das Verständnis dieses Prozesses gelingt durch ein möglichst umfassendes Wissen über eine Person. Dabei müssen nicht nur allein die biochemische Pathologie, sondern immer auch die gesamte biographisch gewordene innere und äußere Situation sowie Ressourcen und Stärken, d. h. die Gesundheit erhaltenden und fördernden Anteile, berücksichtigt werden (Gesundheit). Zu beachten bleibt: eine Entwicklung in Richtung Gesundheit ist „von jeder Position aus möglich, d. h. selbst in einer palliativen Situation“ (Blättner 2007, S. 70; gleichsinnig: Franke 2012, 172 ff.).

Integration gesundheitlicher Beeinträchtigungen und Einschränkungen

Im Kontinuum können auch teilweise reversible bzw. vollständig irreversible Gesundheitsbeeinträchtigungen in ihrer jeweiligen, immer wieder veränderbaren Balance zwischen gesunden und kranken Anteilen abgebildet werden. Hierzu zählen akute oder chronische Krankheiten bis hin zu chronischen funktionellen Einschränkungen mit psychischen und sozialen Beeinträchtigungen, wie z. B. Diabetes mellitus, depressive Störungen oder Leben nach einem Herzinfarkt, nach einer (überwundenen) Tumorerkrankung, mit unfallbedingten Verletzungen oder andauernden Infektionsfolgen. Hurrelmann hat dieses Prinzip am Beispiel eines an Diabetes erkrankten Menschen veranschaulicht. In seinem hypothetischen Gesundheitsprofil wird nach den körperlichen, psychischen und sozialen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit unterschieden, wobei innerhalb dieser drei Dimensionen objektive und subjektive Einschätzungen miteinander kontrastiert werden können (Abbildung 2).

Huber und Kolleginnen und Kollegen haben Mitte der 2010er Jahre eine eigene Visualisierung von sechs Gesundheitsdimensionen vorgestellt (Abbildung 3). Anders als bei Hurrelmann und Richter liegt der Fokus primär auf der subjektiven Einschätzung einer Person über ihren (positiven) Gesundheitsstatus – bezogen auf Funktionsfähigkeit, einem Kernbegriff aus der ICF-Klassifikation (Gesundheit).

Die mehrdimensionale Perspektive kann nicht nur auf eine Krankheit angewandt werden. In Form von Überlagerungen und Wechselwirkungen gilt sie auch für Multimorbidität, d. h. für das Vorhandensein mehrerer Beeinträchtigungen und Krankheiten v. a. in späten Lebensphasen.

Vorläufer und analoge Konzeptionen

Für die Konzeption des Kontinuums gibt es wissenschaftliche Vorläufer in der Medizinischen Anthropologie, der Psychosomatischen und Integrativen Medizin, den Lern- und Verhaltenstheorien, der Sozial- und Verhaltensmedizin, der Gesundheitspsychologie und den Belastungs-Bewältigungsmodellen (siehe ausführlich: Franke 2012; Hurrelmann & Richter 2013).

Ein spezieller Vorläufer, oder vielmehr ein Parallelkonzept, stammt aus den frühen 1970er Jahren, entwickelt von dem US-amerikanischen Mediziner Travis, einem „Impulsgeber der Wellness-Bewegung“ (Cassens 2014, S. 92). Travis publizierte erstmals 1972 sein „Illness-Wellness-Kontinuum“. Ausgehend von einem gedachten neutralen mittleren Punkt, soll es die möglichen Stufen und Bewegungen von persönlichem Wohlbefinden vs. Krankheit anzeigen: zwischen den Polen Wellness auf hohem Niveau und vorzeitigem Tod (siehe Abbildung 4). Travis weist der Wellness-Richtung drei aufsteigende Stufen zu (Bewusstheit, Bildung, Wachstum), dem Weg zu vorzeitigem Tod drei absteigende Stufen (Krankheitszeichen, Symptome, Einschränkung/Behinderung). Das „Illness-Wellness-Kontinuum“ (seit den 2000er Jahren z. T. auch mit salutogenetischen Anleihen aufgefüllt und erweitert) spielt bis heute eine zentrale Rolle in der konzeptionellen Fundierung von Interventionen und Geschäftsfeldern in den weltweiten Wellness-Bewegungen und Lifestyle-Trends (Travis & Ryan 1981, 2004; Global Wellness Institute 2022; Deutscher Wellness Verband 2022). Es wurde noch nicht ins Deutsche übertragen.

Travis entwickelte und publizierte sein Kontinuumskonzept einige Jahre vor Antonovskys Hauptwerk „Health, Stress and Coping“ (1979), und es erfuhr bereits in den 1970er Jahren weite Verbreitung in den USA. Obwohl zumindest grafisch und in Teilen auch paradigmatisch durchaus ähnlich, rekurrierten beide Konzeptionen nicht aufeinander. Cassens erklärt dies damit, dass sie letztlich getrennte „Ergebnisse zweier eher unterschiedlicher Forschungsrichtungen und Wissenschaftsprovenienzen waren“ (2014, S. 92).

Relevanz, Weiterentwicklungen und Erweiterungen

Hurrelmann und Richter bescheinigen dem salutogenetischen Denken in Polen auf einem Kontinuum, es sei für die moderne Gesundheits- und Medizinsoziologie „von bahnbrechender Bedeutung“ gewesen (2013, S. 124). Hiermit würde die engführende kategorische Trennung von Gesundheit und Krankheit aus naturalistischen Modellen wie der biomedizinischen Perspektive überwunden. Allerdings muss die interdisziplinäre Theorie und Gesundheitsforschung den Mischtypen von objektiver und subjektiver Gesundheit erheblich mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Davon sind praktische Hilfestellungen insbesondere für Gesundheitsförderung bei funktionalen Einschränkungen, Behinderungen und chronischen (Mehrfach-)Erkrankungen zu erwarten.

In der britischen und kanadischen „Mental Health Promotion and Protection“ sind entsprechende Weiterentwicklungen erkennbar. Aufbauend auf Vorarbeiten von Tudor und Keyes ist dort das – noch nicht ins Deutsche übertragene – „Dual Continua Model of Mental Health“ seit mehreren Jahrzehnten eine weithin akzeptierte heuristische und praxisanleitende Richtschnur für Vorsorge und Behandlung/Unterstützung. Das Doppel-Kontinuum enthält eine vertikale Achse für Ausprägungen des „flourishing“ (Blühen, Gedeihen) bzw. „languishing“ (Welken, Verkümmern) von seelischer Gesundheit, gekreuzt von einer horizontalen Achse zum Kontinuum seelischer Störung/Krankheit. Somit ergeben sich vier Quadranten mit einem inneren Kreis aus sechs Sektoren, in denen sich die vielfältigen Formen von Prozessen und Zuständen seelischer Gesundheit, Gefährdung, Risikoausprägung, Störung, akuter oder chronischer Krankheit abbilden lassen (Abbildung 5).

Das orthogonale Modell eines doppelten Kontinuums der Mental Health ist besonders hilfreich wegen seiner Unterscheidung (und gleichzeitiger Verbindung) zwischen dem Kontinuum psychischer Krankheit/Gefährdung und dem Kontinuum psychischer Gesundheit. Veränderungen auf dem einen Kontinuum können einerseits verbunden mit, andererseits aber auch losgelöst von der Position auf dem anderen Kontinuum stattfinden. Modelle wie diese werden vorwiegend genutzt, um Positionen und Entwicklungsverläufe einzelner Individuen zu identifizieren. Prinzipiell ist der Rahmen aber auch auf soziale Gruppen oder ganze Populationen sowie auf weitere Gesundheitsdimensionen wie der somatischen Gesundheit bzw. Krankheit übertragbar (Wettstein 2020).

Wie schon beim HE-DE-Kontinuum sind die theoretische und empirische Forschung zur (Public) Mental Health gefordert, v. a. die sozialen Determinanten von seelischer Gesundheit, Gefährdung und Krankheit stärker zu thematisieren. Die Position eines Individuums oder einer Gruppe in den Quadranten ist unterkomplex erklärt, wenn diese nicht auch auf ihren sozialen Status bzw. auf Statuspassagen und auf die dadurch gegebenen bzw. eingeschränkten Gesundheitschancen bezogen wird. Public Health-Interventionen zur Verminderung sozialer Ungleichheiten verringern die Rate manifester psychischer Störungen. Sie erhöhen damit die Aussicht auf „flourishing“, also auf eine hohe und stabile psychische Gesundheit aller.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Orientierung an Gesundheits-Krankheits-Kontinua zeigt eine tiefgreifende Veränderung des kategorialen Denkens in Medizin und Gesundheitswissenschaften an. Es geht nicht mehr um das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer spezifischen Gesundheitsstörung, sondern um ein dynamisch-dimensionales Denken. Jede Person ist gesund und ist krank, ihr gegenwärtiges Sein („being“) befindet sich variabel zwischen Gesundheit als umfassendem Wohlbefinden („well-being“) bis Krankheit in allen Dimensionen („disease“/“illness“).

Allerdings besteht in der gegebenen medizinischen Versorgung noch ein massives, strukturell angelegtes „gesellschaftliches Heilhindernis“ (Nolte 2020, S. 133). Das Beurteilungs- und Abrechnungssystem schon in der ambulanten, v. a. aber in der stationären Versorgung und Rehabilitation kennt und verfestigt Gesundheit vs. Krankheit als Antagonismen, als dichotome Diagnosen und Ausschluss-Kategorien, als Verkürzung feiner, kontinuierlicher Ausprägungen auf binäre Kategorien. Diese systemische Barriere gilt es im Kern von Medizin und ihrem Teilgebiet Psychiatrie, in ihren Klassifikationen und Diagnoseschlüsseln (ICD-10 bzw. ICD-11; DSM 5) zu überwinden.

Entsprechende Bewegung und Initiativen zur Veränderung gibt es seit anderthalb Jahrzehnten in der Mental Health-Forschung und psychiatrischen Diagnosebildung (Clark, Cuthbert, Lewis-Fernandez et al. 2017; Kotov, Krueger, Watson et al. 2017; Kelly, Clarke, Cryan & Dinan 2018). Kurz nacheinander sind zwei Initiativen angetreten: (a) Der 2009 vom US-National Institute of Mental Health angestoßene dimensionale Forschungsrahmen der Research Domain Criteria (RDoC) mit primär neurobiologischer und biogenetischer Stoßrichtung, (b) die seit 2015 von einem globalen Verbund („HiTOP Consortium“) entwickelte und fortschreitend validierte, primär psychologisch daten- und statistikbasierte „Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie“ (HiTOP). Der HiTOP-Ansatz beansprucht für sich, durch konsequente Orientierung an Kontinua das immer wieder beklagte Problem willkürlicher Schwellenwerte und diagnostischer Instabilität innerhalb der persönlichkeitspsychologischen und klinisch-psychiatrischen Diagnostik aufzulösen. Als alternatives Diagnosesystem „dekonstruiere“ es die traditionellen Nosologien und ihre Kategorien im DSM und der ICD und stelle sie in Form von Dimensionsprofilen neu dar (Conway, Krueger & HiTOP Consortium Executive Board 2021; Krueger, Hobbs, Conway et al. 2021).

Eine Stärkung des dimensionalen Denkens hat in alltäglichen wie auch professionellen Kontexten der (psychischen und psychosomatischen) Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung deutlich antidiskriminierende, toleranzfördernde Auswirkungen. Neuere empirische Studien belegen, dass Menschen, die von einem Kontinuum zwischen Gesundheit und psychischer Krankheit ausgehen, konsistent weniger zu stigmatisierenden Einstellungen gegenüber Menschen mit psychischen Problemen neigen als Personen mit kategorialen Überzeugungen (Meyer, De Ruyter, Grewal et al. 2020; Peter, Schindler, Sander et al. 2021).

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Verweise:

Determinanten der Gesundheit, Gesundheit, Gesundheitsverhalten, Krankheitsverhalten, Gesundheitshandeln, Lebenslagen und Lebensphasen, Lebensweisen/Lebensstile