Gesundheitspolitik

Susanne Hartung , Anja Dieterich , Rolf Rosenbrock

(letzte Aktualisierung am 04.04.2024)

Zitierhinweis: Hartung, S., Dieterich, A. & Rosenbrock, R. (2024). Gesundheitspolitik. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i058-3.0

Zusammenfassung

Gesundheitspolitik umfasst die Gesamtheit der staatlichen und nicht staatlichen Anstrengungen und Auseinandersetzungen im Hinblick auf bevölkerungs- bzw. gruppenbezogene Interventionen zur Förderung, Erhaltung und (Wieder-)Herstellung von Gesundheit sowie zur Bewältigung von Krankheit und ihrer Folgen. In der expliziten Gesundheitspolitik im engeren Sinne geht es um die Frage, ob und wie Programme, Strukturen und Prozesse für die Prävention, Gesundheitsförderung, Krankenversorgung sowie Rehabilitation durchgeführt werden. Eine konzeptionell wünschenswerte gesundheitsförderliche Gesamtpolitik ist auch mit dem Präventionsgesetz noch lange nicht umgesetzt. Zudem gibt es aktuelle Herausforderungen sowohl für die Steuerung des deutschen Gesundheitssystems als auch für die internationale politische Zusammenarbeit für Gesundheit.

Schlagworte

Krankenversicherung, Gesundheitssystem, Zugang zu Gesundheitsleistungen, Gesundheitswissenschaften, Public Health, Prävention, Gesundheitsförderung, Kuration/Krankenversorgung


Die Gesundheitswissenschaften/Public Health einschließlich der Medizin versuchen Antworten zu geben auf die Frage „Was ist gut und was ist schlecht für die Gesundheit?“ (Kolip & Razum 2020). In der Gesundheitspolitik geht es um das „Ob“ und „Wie“ der Umsetzung der dazu gewonnenen Erkenntnisse in Programme, Strukturen und Prozesse (policy) sowie um die auf dem Weg zur Umsetzung stattfindenden Auseinandersetzungen (politics) im Rahmen der dafür maßgeblichen Normen, Institutionen und kulturellen Orientierungen (polity).

Gesundheitspolitik ist demnach die Gesamtheit der – keineswegs nur staatlichen – Anstrengungen und Auseinandersetzungen im Hinblick auf bevölkerungs- bzw. gruppenbezogene Interventionen zur Förderung, Erhaltung und (Wieder-)Herstellung von Gesundheit sowie zur Bewältigung von Krankheit und ihrer Folgen. Wesentliche Elemente der Gesundheitspolitik sind die Zielformulierung, Finanzierung, Maßnahmengestaltung, Qualitätssicherung und -entwicklung (Public Health Action Cycle/Gesundheitspolitischer Aktionszyklus). Dazu gehört auch die Gestaltung, Steuerung, Qualifizierung und Finanzierung der damit befassten Institutionen und Berufsgruppen (Gerlinger & Rosenbrock 2024).

Theorie und Praxis der Gesundheitspolitik

Das normative Ziel von Gesundheitspolitik ist die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung. Das schließt Interventionen zur Senkung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten (Prävention und Krankheitsprävention; Gesundheitsförderung) durch die Minderung pathogener Belastungen und die Förderung salutogener Ressourcen (Salutogenese) ebenso ein wie die Gestaltung und Steuerung der Krankenversorgung einschließlich der Rehabilitation. Wie in der Medizin soll dabei eine Maßnahme nur dann ergriffen werden, wenn die erwünschten Wirkungen hinreichend sicher eintreten können und mögliche unerwünschte Wirkungen eindeutig übertreffen oder die unerwünschten Wirkungen insgesamt tolerabel sind.

Darüber hinaus sollen die Grundsätze der Selbstbestimmung des Individuums (z. B. durch Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger), des Schutzes Benachteiligter (im Sinne von Maßnahmen zur Chancengleichheit; Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung/Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit) sowie der Empowerment/Befähigung (von Individuen und von Gruppen, durch eine ermöglichende professionelle Haltung) gelten.

Gesundheitspolitik findet dort statt, wo durch die Gestaltung von Verhältnissen, Verhaltensbedingungen oder Verhaltensanreizen populationsbezogen Wahrscheinlichkeiten von Erkrankung, ihre Progredienz und Chronifizierung gesundheitsförderlich beeinflusst werden sollen. Die gilt ebenso für die Bewältigung krankheitsbedingter Einschränkungen der Lebensqualität und vorzeitigem Tod.

Gesundheit als Querschnittsthema der Politik

Konzeptionell ist eine umfassende gesundheitsförderliche Politik, verstanden als die Beeinflussung der Determinanten von Gesundheit durch eine Zusammenarbeit verschiedener Politikbereiche (Health-In-All-Policies, „implizite“ Gesundheitspolitik, intersektorale Politik) wünschenswert. Mit der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (WHO 1986) wurde Gesundheit als ein Querschnittsthema definiert, das eine Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik/Healthy Public Policy erfordert. Seitdem haben auch in Deutschland Bemühungen um nichtmedizinische Primärprävention und Gesundheitsförderung an Kraft und Vielfalt gewonnen. Sie werden von einer Vielzahl staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen und Organisationen getragen.

Nachdem sich in der öffentlichen Diskussion Gesundheitspolitik lange Zeit auf Fragen der Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung reduziert hat, sind Prävention und Gesundheitsförderung inzwischen regelhafter Bestandteil der politischen Agenda. Erkennbar ist dies z. B. an dem nach jahrzehntelangem Ringen 2015 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG); ebenso an der breiten (und kontroversen) Diskussion zum im Oktober 2023 angekündigten neuen Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM), in das 2025 die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Teile des Robert Koch-Instituts eingegliedert werden sollen.

Bisher löst die Gesundheitspolitik den Anspruch einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik jedoch kaum ein. Relevante Politikbereiche einer impliziten Gesundheitspolitik, z. B. die Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Verkehrspolitik oder die Klimapolitik oder Armutsbekämpfung, werden als Gesundheitspolitik im engeren Sinne als eine umfassende Health-In-All- Policies-Strategie nur zögerlich umgesetzt (Gesundheitsförderung 5: Deutschland; Gerlinger 2024; Kickbusch & Hartung 2014). Im engeren Handlungsfeld der Organisation des Gesundheitssystems ist außerdem zu beachten, dass explizite Gesundheitspolitik einen relevanten Wirtschaftszweig (über 10 % des Bruttoinlandsprodukts) reguliert – mit sehr heterogenen Akteurinnen und Akteuren und vielen in dieses Politikfeld involvierten Interessen.

Im Vergleich zu anderen Feldern der Sozialpolitik führt die hohe Komplexität der Formulierung und Umsetzung von Gesundheitspolitik dazu, dass gesundheits- und gemeinwohlbezogene Problemlösungen nicht immer im Vordergrund stehen. Gesundheitspolitische Entscheidungen werden häufig von diversen weiteren (Wirtschafts-, Status- etc.) Interessen überlagert.

Gesundheitspolitik zur Organisation des Gesundheitssystems

Explizite Gesundheitspolitik umfasst jene Regelungen und Interventionen, die sich auf die Organisation von Dienstleistungen für Kranke und Gesunde im Rahmen des Gesundheitssystems beziehen.

Im deutschen Gesundheitswesen findet sich eine Mischung aus staatlichen, verbandlichen (korporatistischen) und marktlichen Steuerungselementen. Im Gesundheitssystem ist eine Vielzahl an Akteurinnen und Akteuren mit eigenen Interessen tätig, u. a. Krankenkassen, Therapieberufe, Ärztinnen und Ärzte, Versicherte, Patientinnen und Patienten, Pflegepersonal, Krankenhäuser, Arzneimittelhersteller und Medizintechnikunternehmen (Simon 2021; Schwartz et al. 2022).

Seit 2009 besteht in Deutschland eine Versicherungspflicht für alle Personen. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als Teil der sozialen Sicherung versichert ca. 90 % der Wohnbevölkerung. Die im 19. Jahrhundert wesentlich von Bismarck unter Berücksichtigung der katholischen Soziallehre und der protestantischen Leistungsethik konzipierte GKV beruht auf einem Steuerungsmodell, das auf fünf Grundentscheidungen aufbaut:

  • Der Staat übernimmt die Verantwortung für die materielle Bewältigung gesundheitlicher und sozialer Notlagen. Er fungiert gewissermaßen als Ausfallbürge.
  • Zugleich entlastet sich der Staat weitgehend von Steuerungs- und Gestaltungsaufgaben in der GKV durch Delegation nach dem Grundsatz der Selbstverwaltung: Die konkrete Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung erfolgt durch Krankenkassen. Sie sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts weder unmittelbar staatliche Einrichtungen, noch gehen sie einem privaten Erwerbszweck nach. Vielmehr sind sie als „mittelbare Staatsverwaltung“ einem gesetzlich definierten, öffentlichen Auftrag verpflichtet. In dieser Funktion haben sie durch Organe der Selbstverwaltung, zusammengesetzt aus Versicherten und Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, Entscheidungskompetenzen z. B. im Hinblick auf organisationbezogene Fragen, satzungsmäßige Mehrleistungen oder die Festlegung des Beitragssatzes. Hiervon zu unterscheiden ist die Gemeinsame Selbstverwaltung: Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenhausgesellschaften arbeiten hier auf Bundesebene und in gemeinsamer Verantwortung zur Konkretisierung gesetzlicher Rahmenvorgaben zur Gesundheitsversorgung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zusammen.
  • Die Beiträge werden nicht nach dem individuellen Risiko, sondern nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (in Form eines festen Prozentsatzes vom Bruttoeinkommen) erhoben (Solidarprinzip). Sie sind seit 2019 wieder paritätisch von den Versicherten und von den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern zu zahlen. Dadurch entsteht ein dauernder Ausgleich nicht nur zwischen Gesunden und Kranken, sondern auch zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Männern und Frauen, Alleinlebenden und Familien. Ein Sonderstatus kommt dabei Beschäftigten mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, Selbstständigen sowie Beamtinnen und Beamten zu, die privat versichert sind und dadurch nicht am Solidarprinzip teilnehmen. Die Besonderheit des deutschen Gesundheitssystems, dass für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine Möglichkeit zur privaten Krankenvollversicherung (PKV) besteht, ist Gegenstand gesundheitspolitischer Auseinandersetzungen.
  • Im direkten Verkehr zwischen Trägerinnen und Trägern der Krankenversorgung und Patientinnen und Patienten soll Geld keine Rolle spielen. Auch ist die GKV mit ihrer Nachfragemacht (und nicht die Patientinnen und Patienten) Vertragspartnerin der Leistungserbringer und damit zuständig für die Umsetzung des Leistungskatalogs und die Qualitätssicherung (Sachleistungsprinzip).
  • Inhalt, Mengen und Preise der Leistungen des Krankenversorgungssystems werden in Verhandlungen zwischen den Verbänden der Leistungserbringenden und den Krankenkassen festgelegt (Gemeinsame Selbstverwaltung, Korporatismus). Kommen sie nicht zu einer Einigung, entscheidet der Staat.

Trotz vielerlei Modifikationen und Beschädigungen hat sich dieses Modell als außerordentlich robust und entwicklungsfähig erwiesen; es steht aber unter dauerndem Veränderungsdruck (Reiter 2017). Dabei werden immer wieder marktförmige und die Solidarität untergrabende Systemwechsel diskutiert. Zu beobachten ist eine sich andeutende Annäherung (Konvergenz) der Versicherungssysteme durch Reformen der jüngeren Vergangenheit – mit ambivalenter Bedeutung: einerseits wurden GKV-Prinzipien in die PKV eingeführt (z. B. ein obligatorischer Basistarif) andererseits gibt es Privatisierungstrends in der am Grundprinzip der Solidarität orientierten GKV.

Der Präventionsauftrag

Die GKV hat seit 1989 einen begrenzten und mehrfach modifizierten Präventionsauftrag. Nach mehreren Anläufen (2005 und 2008) ist es mit dem im Juni 2015 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) (Gesundheitsförderung 5: Deutschland) gelungen, dem Regelungsbedarf im Hinblick auf Zuständigkeiten, Finanzierung, Qualitätssicherung und -entwicklung in der Prävention und Gesundheitsförderung durch ein Bundesgesetz Rechnung zu tragen. Damit wurde diesem zentralen Feld einer nachhaltigen Gesundheitspolitik mehr Bedeutung verliehen, die seitdem aber noch stärker praktisch umgesetzt werden muss.

Das Präventionsgesetz zielt insbesondere auf die Stärkung gesundheitsförderlicher Lebenswelten durch Kommunale Gesundheitsförderung, die als intersektorale und ressortübergreifende Zusammenarbeit verstanden wird und einem integrierten Handlungskonzept folgen soll. Die Krankenkassen sollen hierfür zusammenarbeiten.

Ein Rahmen für diese abgestimmte Zusammenarbeit ist das GKV-Bündnis für Gesundheit, eine gemeinsame Initiative der gesetzlichen Krankenkassen. Es hat das Ziel, die Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten zunächst durch die Förderung von Strukturaufbau und Vernetzung sowie durch die Analyse von empfehlenswerten gesundheitsförderlichen Konzepten zu unterstützen.

Aktuelle Herausforderungen deutscher Gesundheitspolitik

Im Hinblick auf die internationale Organisation und Finanzierung der Krankenversorgung bestehen in der Gesundheitspolitik die Alternativen „staatlich-steuerfinanziert“ (v. a. Skandinavien, Großbritannien), „beitragsfinanzierte Sozialversicherung“ (v. a. Zentraleuropa einschließlich Deutschland) und „marktwirtschaftlich“ (v. a. USA). Kein System besteht in reiner Form. Nur primär staatliche Systeme mit einem Sozialversicherungssystem haben bislang die Zivilisationsstufe erreicht, auf der jeder Mensch unabhängig von seinem sozialen Status und seinen finanziellen Ressourcen Zugang zu einer vollständigen und qualitativ hochwertigen medizinischen Krankenversorgung haben soll.

Doch auch in Deutschland ist das Recht auf Gesundheit, dem sich Deutschland völkerrechtlich u. a. mit dem UN-Sozialpakt verpflichtet hat, noch nicht vollständig gewährleistet. Trotz Einführung der Versicherungspflicht gibt es immer noch Menschen, die keine Krankenversicherung haben oder von Zugangsbarrieren betroffen sind, z. B. Menschen mit hohen Schulden, Obdachlose sowie verschiedene Gruppen von Migrantinnen und Migranten.

2019 hatten nach den Daten des Mikrozensus 61.000 und damit weniger als 0,1 % der Bevölkerung keinen Krankenversicherungsschutz (Statistisches Bundesamt 2020). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2020) waren zu dem Zeitpunkt 39.000 Männer und 22.000 Frauen nicht krankenversichert. 52.000 nicht-krankenversicherte Personen hatten im Befragungsjahr 2019 einen Schulabschluss und 32.000 einen berufsqualifizierenden Ausbildungsabschluss. 25.000 Personen waren Erwerbstätige, 10.000 erwerbslos, 26.000 Personen waren Nichterwerbspersonen, d. h. in Rente oder in Ausbildung befindlich. Darüber hinaus waren ca. 0,4 % der Selbstständigen sowie 0,8 % der Erwerbslosen betroffen sind.

Es ist von einer vielfach höheren Dunkelziffer zwischen einer halben und einer Million nicht krankenversicherten Personen auszugehen, da solche ohne festen Wohnsitz im Mikrozensus unterrepräsentiert sind (Kurz 2022). Nach der Statistik der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (BAG W) waren im Jahr 2020 fast 16 % der rund 256.000 wohnungslosen Menschen (ohne Geflüchtete) nicht krankenversichert. Hinzu kommen deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger (aufgrund von Insolvenzen oder Einkommensausfällen sind auch EU-Bürger betroffen), die über keine sozialversicherungspflichtige Anstellung verfügen und Personen aus Drittstaaten ohne aufenthaltsrechtlichen Status.

Steuerungsprobleme

Ungelöst ist v. a., dass die für die Akutversorgung gewachsenen Strukturen und Prozesse der Gesundheitsversorgung nicht in der Lage sind, Menschen mit chronischen Erkrankungen bedarfsgerecht und sektorenübergreifend zu versorgen. Kritisiert wird neben der unzureichenden Koordination und Teilhabeorientierung insbesondere die Dominanz der Interessen der Leistungsanbieter (z. B. Einrichtungsträger, berufspolitische Akteure, Pharmaindustrie) im System. Die im internationalen Vergleich stark ausgeprägte, historisch gewachsene Arztzentrierung des Gesundheitssystems schränkt die Wirkungsmöglichkeiten anderer Gesundheitsberufe ein (v. a. Pflege, Sozialarbeit, Therapieberufe). Dies gilt ebenso für die Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung.

Zwar werden die Steuerungsprobleme, die eine nahtlose Gestaltung von Hilfepfaden hemmen, aktuell z. B. am Anlass der Krankenhausvergütung in Form von Fallpauschalen (DRG) diskutiert (Reformansätze zur Überwindung der Sektorengrenze in den ambulanten Bereich). Sie werden jedoch bisher nicht patientinnen- und patientenorientiert besprochen in dem Sinne, dass die Versorgung verbindlich auch über das SGB V hinaus integriert wird (Dieterich, Braun, Gerlinger & Simon 2019).

Erschwert werden Reformversuche zur Verringerung bzw. Lösung dieser Probleme v. a. durch drei übergeordnete Trends:

  • Infolge einer kontinuierlichen Abnahme des Anteils der Lohn- und Gehaltseinkommen am Bruttoinlandsprodukt und durch den demographischen Wandel (Einnahmedefizit) steigen die Versicherungsbeiträge, die v. a. im Hinblick auf die Beitragsanteile der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber (Arbeitskosten, „Lohnnebenkosten“, „Standortsicherung“) thematisiert werden. Auf welche Weise die durch die Alterung der Bevölkerung und des medizinisch-technischen Fortschritts auftretenden Kostensteigerungen im GKV-System beherrscht werden können, ist Gegenstand von gesundheitspolitischen Debatten, z. B. mit Reformvorschlägen zum Einbezug anderer Einkommensarten. Aktuell zeigen sich Tendenzen, die Kosten durch Streichung auch medizinisch notwendiger Leistungen, also durch (verdeckte) Rationierung, bzw. durch erhöhte Direktzahlungen der Patientinnen und Patienten zu senken. Sozial benachteiligte Gruppen, die ohnehin ein wesentlich erhöhtes Erkrankungsrisiko haben, werden dadurch weiter benachteiligt.
  • Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts werden dem Markt und der wirtschaftlichen Konkurrenz in den dominanten Sektoren von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nahezu unbegrenzte Problemlösungskapazitäten zugeschrieben. In der Gesundheitspolitik einschließlich der Prävention besteht das zentrale Verteilungsproblem aber darin, dass Menschen mit der geringsten Kaufkraft zugleich auch den höchsten Bedarf an Gesundheitsleistungen haben, weshalb Marktsteuerung in einem grundsätzlichen Konflikt mit dem Ziel der Chancengleichheit (equity) steht.
  • Schließlich spielen für die Weiterentwicklung gemeinwohl- und teilhabeorientierter Gesundheitsdienstleistungen aktuelle Diskurse zur Evidenzbasierung oder Wirkungsorientierung eine ambivalente Rolle: Die Orientierung der Praxis an empirischer Forschung kann der Professionalisierung der Fachkräfte dienen und deren Arbeit legitimieren. Eine solche fachliche Reflexion erfordert eine differenzierte, auch forschungsmethodologisch breit angelegte Wissensbasis. Wenn jedoch der Ansatz der Evidenzbasierung (Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis) mit einem verwaltungstechnischen Programm wettbewerbsorientierter und an Kosten-Nutzen-Kriterien ausgerichteter Steuerung verbunden wird, droht eine Einengung professioneller Praxis und ihrer Ermessensspielräume. Partizipatives und an Empowerment orientiertes professionelles Handeln kann dazu führen, dass nicht immer diejenigen Maßnahmen ausgewählt werden, die nach dem im Gesundheitssystem dominierenden naturwissenschaftlichen, quantitativ-statistischen Forschungsparadigma bereits auf ihre Effizienz und Effektivität untersucht worden sind. Hier ist Wirkungsforschung nötig, die Faktoren wie die Beteiligung der Adressatinnen und Adressaten, fallspezifische Kontexte und die Komplexität von Entscheidungsfindungen berücksichtigt. Nur so können z. B. sozialraumbezogene, systemische Interventionen, die in Handlungsfeldern wie der Primärprävention oder der sektorenübergreifenden Versorgung fachlich als hochplausibel und erstrebenswert gelten, in ihrer Wirkung erfasst werden. Die Diskurse um Wirkungsorientierung, die Fragen nach der Wirksamkeit, die Auswahl von Methoden und die Festlegung auf Erfolgsindikatoren sind damit nicht neutral, sondern stehen im engen Zusammenhang zu den jeweiligen aktuellen politischen Interessen wohlfahrtsstaatlicher Steuerung.

Einflüsse internationaler Gesundheitspolitik

Auf eine bessere Politiksteuerung im Sinne der genannten Herausforderungen für Deutschland zielt auch das europäische Rahmenkonzept „Gesundheit 2020“. Mit dessen Hilfe wird seitdem versucht, Einflussfaktoren zu verändern, um die Gesundheit im nationalen aber auch im europäischen Kontext zu beeinflussen. Die politische Rahmenstrategie sieht eine Zusammenarbeit der europäischen Regierungen vor und hält Gesundheitsministerien dazu an, eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit zusammenzubringen. Auf internationaler Ebene ist zudem der WHO-Ansatz der „Essential Public Health Operations“ (EPHOS; WHO 2020a) mit der Definition von zehn Public Health Kernbereichen zu nennen, mit denen Gesundheit als politische Querschnittsaufgabe konzipiert werden soll. Niederschlag in der nationalen Politik finden solche Strategien z. B. in der vom Zukunftsforums Public Health erarbeiteten und durch das Robert Koch-Institut moderierten Public Health-Strategie für Deutschland, die sich an den EPHOS orientiert (Zukunftsforum Public Health 2021).

Im Zuge der Globalisierung lässt sich eine verstärkte Bezugnahme nationaler Gesundheitspolitik auf internationale Entwicklungen beobachten, z. B. in der Strategie der Bundesregierung für eine Globale Gesundheitspolitik (BMG 2020) und der Stärkung global orientierter zivilgesellschaftlicher Gesundheitspolitik-Akteure z. B. mit dem Aufbau der Deutschen Plattform für Globale Gesundheit.

Insgesamt ist zur Beurteilung gesundheitspolitischer Entwicklungstendenzen von der vielfach belegten Erfahrung auszugehen, dass Gesundheit zwar ein moralisch stark klingendes Motiv ist, es kann sich aber in der politischen Auseinandersetzung nur selten gegen konkurrierende Werte wie Gewerbefreiheit, Wirtschaftswachstum etc. durchsetzen. Die aktuelle und öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung um den Klimaschutz verdeutlicht dies eindrücklich.

Die Auswertung zum Umgang mit dem neuartigen Coronavirus ist noch nicht abgeschlossen (Stand April 2024). Die Geschichte der Gesundheitspolitik zeigt aber, dass es zu gesundheitspolitischen Fortschritten und zielführenden Innovationen regelmäßig nur dann kommt, wenn sich das Gesundheitsmotiv mit einem anderen, handlungsmächtigeren Motiv (z. B. Produktivität, Bürgerrechte) verbindet und/oder wenn sich starke soziale Bewegungen des jeweiligen Themas annehmen und in möglichst breiten Koalitionen „gegentendenzielle“ Projekte oder Politiken durchsetzen.

Literatur:

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Gerlinger, T. & Rosenbrock, R. (2024). Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Hogrefe.

Gerlinger, T. (2024). Nachhaltigkeit in der Gesundheitspolitik. In: Hartung, S. & Wihofszky, P. (Hrsg.). Gesundheit und Nachhaltigkeit. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. Berlin, Heidelberg: Springer.

Kickbusch, I. & Hartung, S. (2014). Die Gesundheitsgesellschaft. Konzepte für eine gesundheitsförderliche Politik. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe.

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Reiter, R. (Hrsg.) (2017). Sozialpolitik aus politikfeldanalytischer Perspektive. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer.

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Simon, M. (2021). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 7., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bern: Hogrefe.

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Zukunftsforum Public Health (2021). Eckpunkte einer Public-Health-Strategie für Deutschland. Berlin: Zukunftsforum Public Health. Zugriff am 15.02.2024 unter www.zukunftsforum-public-health.de/public-health-strategie.

Internetadressen:

Deutsche Plattform für Globale Gesundheit: www.plattformglobalegesundheit.de

GKV-Bündnis für Gesundheit: www.gkv-buendnis.de

Zukunftsforum Public Health: www.zukunftsforum-public-health.de

Verweise:

Determinanten der Gesundheit, Empowerment/Befähigung, Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis, Gesundheit, Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Gesundheitsförderung 5: Deutschland, Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung / Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheitswissenschaften / Public Health, Kommunale Gesundheitsförderung, Krankheit, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Prävention und Krankheitsprävention, Präventionsgesetz, Public Health Action Cycle / Gesundheitspolitischer Aktionszyklus, Salutogenese, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung