Lebenslagen und Lebensphasen
Zitierhinweis: Kolip, P. (2024). Lebenslagen und Lebensphasen. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Die Konzepte der Lebenslagen und Lebensphasen helfen in der Gesundheitsförderung, Maßnahmen zielgruppengerecht zu planen. Förderprogramme können damit auf die konkrete Lebenssituation abgestimmt werden, unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigen und vorhandene Ressourcen systematisch nutzen. Der Begriff der Lebenslage bezieht sich auf die soziale Position und die Umstände, unter denen Individuen und Gruppen leben. Betrachtet werden ökonomische, soziale und kulturelle Faktoren, etwa die Familien-, Arbeits- und Einkommenssituation, Bildungsstand und psychosoziale Belastungen. Der Begriff der Lebensphasen verweist hingegen auf bestimmte Altersabschnitte und Übergangsphasen, die einen Einfluss auf die Gesundheit und das gesundheitsrelevante Verhalten haben.
Schlagworte
Soziale Ungleichheit, Zielgruppen, Komplexe Interventionen, Präventionsketten, Lebenslauf
Im Zusammenhang mit der zunehmenden sozialen Ungleichheit in den meisten industrialisierten Gesellschaften, so auch in Deutschland (Lampert, Hoebel & Kroll 2019), wird die Frage diskutiert, wie soziale Unterschiede in der Gesundheitsförderung berücksichtigt werden müssen. Bereits im SGB V wurde festgeschrieben, dass die Gesundheitsförderungsaktivitäten der Gesetzlichen Krankenversicherung einen Beitrag zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit zu leisten haben. Diese Anforderung wurde mit dem Präventionsgesetz bestätigt. Die Frage ist auch deshalb von Bedeutung, weil Gesundheitsförderung zielgruppengerecht geplant und umgesetzt werden muss, wenn sie eine Wirkung erzielen will (Kolip 2019). Vor diesem Hintergrund erlangen die Begriffe Lebenslage und Lebensphase eine zentrale Bedeutung, da sie es erlauben, Ziel- und Adressatengruppen genau zu bestimmen (Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren).
Der Begriff Lebenslage
Der soziologische Begriff der Lebenslage bezieht sich auf die soziale Position und die Umstände, unter denen Individuen und soziale Gruppen leben. Betrachtet wird das Wechselverhältnis von ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren, die die konkreten Lebensverhältnisse bestimmen.
Das Lebenslagenkonzept unterscheidet sich vom Modell der sozialen Schichtung g (Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit), in dem vor allem Einkommen, Bildung und berufliche Stellung als Determinanten definiert sind, durch die Annahme, dass ein hierarchisches Modell die sozialen Unterschiede nur unvollständig abbildet, weil eine Fülle weiterer, auch immaterieller Faktoren jenseits von Bildung, Einkommen und beruflicher Position die Lebenslage bestimmen (Mielck 2000). Ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten sowohl objektive als auch subjektive Dimensionen der Lebenslage (z. B. Wahrnehmung und Verarbeitung der objektiven Lebensbedingungen), die die individuellen Handlungsspielräume definieren.
Als bedeutsame Differenzierungsvariablen gelten darüber hinaus z. B. die Familien-, Arbeits- und Einkommenssituation, aber auch der Gesundheitszustand, die Wohnverhältnisse oder die Bildung. Zwar nimmt die monetäre Dimension auch im Lebenslagenkonzept eine zentrale Rolle ein (weil sich finanzielle Defizite auch auf andere Bereiche, z. B. die Wohnsituation auswirken), aber das Konzept macht deutlich, dass es Defizite und Einschränkungen in anderen Bereichen geben kann, die nicht finanziell ausgeglichen werden können (z. B. psychosoziale Belastungen durch eine Ehescheidung oder durch Erwerbslosigkeit, psychosoziale Folgen einer chronischen Erkrankung). Für die Gesundheitsförderung ist dieser Ansatz von Relevanz, weil sich nur unter Berücksichtigung dieser Komplexität Zielgruppen für Gesundheitsförderung und Prävention angemessen definieren lassen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Gesundheitsförderung in Settings (Settingansatz/Lebensweltansatz), allen voran dem Setting Kommune, wie sie durch das Präventionsgesetz intendiert sind, eine besondere Stellung, da sich verschiedene Einflussfaktoren auf die Gesundheit einschließlich der Lebenslagen gestalten lassen.
Das Konzept der Lebenslagen beinhaltet folgende Ebenen:
- Versorgungs- und Einkommensspielraum (z. B. Zugang zu Ressourcen)
- Kontakt- und Kooperationsspielraum (z. B. Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion, soziale Einbindung)
- Lern- und Erfahrungsspielraum (z. B. Möglichkeiten der Realisierung von Interessen)
- Muße- und Regenerationsspielraum (z. B. Möglichkeiten, Belastungen auszugleichen)
- Dispositions- und Partizipationsspielraum (z. B. Möglichkeiten der Mitbestimmung in zentralen Lebensbereichen)
Der Begriff der Lebenslage hat vor allem in der Armutsforschung Bedeutung erlangt und ist auch das zentrale Konzept der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung (Bundesregierung 2024). Armut wird in diesem Zusammenhang definiert als das Unterschreiten von Mindeststandards in zentralen Lebenslagen.
Diese Ebenen werden aus feministischer Perspektive erweitert, um die soziale Ungleichheit der Geschlechter abzubilden (Enders-Dragässer & Sellach 2002):
- Sozialbindungsspielraum (Feststellung durch soziale Bindungen, z. B. Mutter- oder Vaterschaft)
- Geschlechtsrollenspielraum (z. B. Geschlechtsstereotypisierungen und Festlegung auf geschlechtliche Arbeitsteilung)
- Schutz- und Selbstbestimmungsspielraum (z. B. Beeinträchtigung durch Gewalterfahrung)
Eng verknüpft mit dem Konzept der Lebenslage ist jenes der Verwirklichungschancen (Capability Approach; Verwirklichungschancen/Capabilities; Sen 2000). Bereits in den ersten Arbeiten zum Lebenslagenbegriff wurden Lebenslagen als „Spielraum“ definiert, den die äußeren Umstände zur Erfüllung individueller Grundanliegen bieten. Ähnlich lassen sich Verwirklichungschancen fassen: Hierunter werden umfassende Fähigkeiten verstanden, ein Leben so zu führen, wie es den eigenen Vorstellungen entspricht. In diesem Ansatz werden sowohl die individuellen Potenziale (Einkommen, Gesundheit/Krankheit, Bildung etc.) als auch die gesellschaftlich bedingten Chancen (soziale und ökonomische Chancen, sozialer Schutz, ökologische Sicherheit, politische Chancen) als Einflussfaktoren auf die Verwirklichungschancen unterschieden. Die Einflussfaktoren werden zwar analytisch getrennt, stehen aber in Wechselwirkung.
Verwirklichungschancen sind die Voraussetzung dafür, dass Individuen die Freiheit haben, sich für oder gegen eine bestimmte Lebensführung zu entscheiden. Die Bezüge zur Ottawa-Charta, die die als einen Prozess Gesundheitsförderung begreift, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen), werden hier deutlich. So lässt sich gesundheitliche Ungleichheit als Folge eines Mangels an Empowerment und Partizipation begreifen und der Capability Approach als theoretische Begründung für die praktischen Bemühungen heranziehen, Menschen zu gesundheitsförderlichem Handeln zu befähigen (Empowerment/Befähigung) (Abel & Schori 2009).
Der Begriff Lebensphase
Der Begriff der Lebensphasen setzt einen anderen Akzent und verweist auf definierte Altersabschnitte im Lebenslauf sowie auf spezifische Übergangsphasen (z. B. erste Elternschaft, Übergang in die nachberufliche Phase), die einen Einfluss auf Gesundheit und gesundheitsrelevantes Verhalten ausüben können (Alter(n) und Gesundheitsförderung; Frühe Hilfen; Gesundheitsförderung im Kindesalter).
Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Gesundheitsförderung standen lange Zeit vor allem die Kindheit und Jugend, da in diesen Lebensphasen zentrale Weichen für die Entwicklung der körperlichen und psychischen Gesundheit gestellt werden. Beispiele hierfür sind Projekte, die die Arbeit von Familien-Hebammen in das Zentrum stellen, und Familien (vor allem jene in schwierigen Lebenslagen) bereits vor der Geburt beraten und begleiten.
Inzwischen wird aber auch für das mittlere und höhere Lebensalter die Frage gestellt, welche gesundheitlichen Potenziale genutzt und gefördert werden können (z. B. Projekte, die den Übergang auf die nachberufliche Phase unterstützen). Mit dem Aufbau integrierter kommunaler Interventionsstrategien („Kommunale Präventionsketten“) wird den Übergängen besondere Aufmerksamkeit geschenkt (LVG & AFS/BZgA 2013).
Mit Blick auf die Lebensphase Kindheit und Jugend wird nicht nur gefragt, wie gesundheitsrelevantes Verhalten geprägt und gefestigt wird, sondern auch, wie sich sozial ungleiche Lebensbedingungen langfristig auf die Gesundheit auswirken (Kuh & Ben-Shlomo 1997). Diskutiert werden zwei theoretische Modelle: Das Modell kritischer Perioden geht davon aus, dass in zeitlich begrenzten Entwicklungsphasen der Organismus besonders anfällig für irreversible Störungen ist. Das Modell kumulativer Exposition hingegen postuliert, dass im Lebensverlauf Belastungen und Risiken in Abhängigkeit von Dauer und Wirkung kumulative Effekte haben.
Angehörige unterer sozialer Schichten sind verstärkt Risiken ausgesetzt, die sich langfristig auf die Gesundheit auswirken. Es wird heute davon ausgegangen, dass die Risiken nicht additiv wirken, sondern dass von Risikoketten und Pfadmodellen auszugehen ist, die den Einflüssen im Kindes- und Jugendalter besondere Bedeutung zumessen, weil sie die Weichen für ungleiche Lebens- und Teilhabechancen stellen.
Gesundheitsförderung und Lebenslagen/Lebensphasen
Für die Gesundheitsförderung bedeutet die Berücksichtigung der Lebenslagen und Lebensphasen, dass differenzierte Förderkonzepte entwickelt werden müssen, die
- auf die konkrete Lebenssituation von Einzelnen und Gruppen in lokalen Kontexten abgestimmt sind (Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren),
- dort vorhandene Ressourcen systematisch zu erschließen versuchen (Resilienz und Schutzfaktoren) und
- unterschiedliche Bedürfnisse, entsprechend den unterschiedlichen Lebenslagen, anerkennen.
Dies setzt eine genaue Kenntnis der Lebenslagen der jeweiligen Zielgruppen voraus, die über gemeindebezogene Formen der Praxisforschung und -entwicklung gewonnen werden kann. Dieses Vorgehen beinhaltet die Beteiligung der Zielgruppen bei der Planung und Umsetzung von Projekten zur Gesundheitsförderung (Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger).
Literatur:
Abel, T. & Schori, D. (2009). Der Capability-Ansatz in der Gesundheitsförderung: Ansatzpunkte für eine Neuausrichtung der Ungleichheitsforschung. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 34, S. 48–64.
Bundesregierung (2024). Der 7. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Zugriff am 29.08.2024 unter www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Service/Meldungen/Meldungen/zweites-symposium-zum-siebten-arb.html.
Enders-Dragässer, U. & Sellach, B. (2002). Weibliche Lebenslagen und Armut am Beispiel von alleinerziehenden Frauen. In: V. Hammer & R. Lutz (Hrsg.). Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung. Theoretische Ansätze und empirische Beispiele, S. 18−44. Frankfurt: Campus Verlag.
Kolip, P. (2019). Praxisbuch Qualitätsentwicklung und Evaluation in der Gesundheitsförderung. Weinheim: Beltz Juventa.
Kuh, D. & Ben-Shlomo, Y. (1997). A life course approach to chronic disease epidemiology. Oxford: Oxford University Press.
Lampert, T., Hoebel, J. & Kroll, L. E. (2019). Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung in Deutschland – Aktuelle Situation und Trends. Journal of Health Monitoring, 4(1). doi: 10.25646/5868.
LVG & AFS/BZgA − Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. & Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) (2013). Werkbuch Präventionskette, Herausforderungen und Chancen beim Aufbau von Präventionsketten in Kommunen. Erarbeitung von Antje Richter-Kornweitz und Kerstin Utermark. Hannover. Zugriff am 29.08.2024 unter www.fruehehilfen.de/fileadmin/user_upload/fruehehilfen.de/pdf/Publikation_Werkbuch_Praeventionskette.pdf.
Mielck, A. (2000). Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Empirische Ergebnisse, Erklärungsmöglichkeiten und Interventionsmöglichkeiten. Bern: Hans Huber.
Sen, A. (2000). Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München/Wien: dtv.
Internetadressen:
Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Verweise:
Empowerment/Befähigung, Frühe Hilfen, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Gesundheitsförderung im Kindesalter, Gesundheitsförderung und Prävention im Alter, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Präventionsgesetz, Resilienz und Schutzfaktoren, Settingansatz/Lebensweltansatz, Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit, Verwirklichungschancen/ Capabilities, Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren