Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung
Eike Quilling , Niklas Brähler-Dieling , Maja Kuchler , Alf Trojan
Zitierhinweis: Quilling, E., Brähler-Dieling, N., Kuchler, M. & Trojan, A. (2024). Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Soziale Netzwerke sind − hier mit besonderem Fokus auf das Individuum − relativ dauerhafte, meist informelle Beziehungsstrukturen zwischen Individuen und Gruppen. Dazu zählen primäre (z. B. Familie), sekundäre (z. B. Selbsthilfegruppe) und tertiäre Netzwerke (z. B. professionelle Hilfssysteme). Sie helfen bei der Bewältigung von Krankheiten und fördern die Gesundheit auf individueller, lokaler und gesellschaftlicher Ebene. Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass eine Einbindung in soziale Netzwerke (Soziale Unterstützung) mit einer geringeren Krankheitshäufigkeit und einer höheren Lebenserwartung einhergeht.
Schlagworte
Soziale Unterstützung, Krankheitsbewältigung, Familie, Soziale Bindungen
Aus historischer Perspektive liegen die wissenschaftlichen Wurzeln der Betrachtung von Netzwerken unter anderem bei Georg Simmel (1908). Ausgehend von dem Begriff der Sozialen Kreise ging er davon aus, dass Gruppen eine relevante Wirkung auf das Individuum besitzen, wobei nicht zu unterschätzen ist, dass das Individuum durch seine Wahl einer Gruppe auch eine Zugehörigkeit festschreibt (Schnegg 2010). Aufbauend auf verschiedenen Konzepten beschäftigten sich viele interdisziplinäre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (z. B. Moreno, Granovetter, Mitchell und White im der Zeit von 1936 bis 1981) mit dieser relationalen Perspektive und daraus folgend der Netzwerkanalyse. Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich in den letzten zwei Jahrzehnten der Begriff der Netzwerkforschung, von dem die Netzwerkanalyse ein Teilgebiet ist (Stegbauer & Häußling 2010).
Soziale Zusammenhänge, Beziehungen und Beziehungsstrukturen
Im Fokus der Netzwerke und ihrer Erforschung steht ein einfacher und zugleich auch komplexer Kern: Die Untersuchung sozialer Zusammenhänge und Beziehungen sowie Beziehungsstrukturen (ebd.). In der spezifischeren Klassifikation stehen den „natürlichen Netzwerken“, die sich zumeist zu Vereinen und Interessensgruppen formalisieren und organisieren können, die sogenannten „künstlichen Netzwerke“ entgegen. Natürliche Netzwerke entstehen aus den primären persönlichen Beziehungen der Menschen, strukturieren sich selbst und haben einen ungezwungenen Charakter. Sie sind eine zentrale gesundheitliche Ressource für Individuen. Künstliche Netzwerke zeichnen sich dagegen durch professionelle Ressourcen und Beziehungen aus, durch die bereichsspezifische Kooperationen entstehen (Quilling, Nicolini, Graf & Starke 2013).
Von besonderer Bedeutung ist an dieser Stelle die Abgrenzung zum „technologischen Begriff“ des sozialen Netzwerks, der häufig auf soziale Online-Netzwerke (social networks) bezogen ist (Häusler 2007; Schmidt & Taddicken 2017; Social Media/Gesundheitsförderung mit digitalen Medien).
Die Bedeutung der natürlichen sozialen Netzwerke für die Gesundheitsförderung liegt vor allem darin, dass sie je nach Bedarf Soziale Unterstützung für Einzelne leisten und/oder aus ihnen soziale Aktionen entstehen können. Auf diese Weise sind (soziale) Netzwerke zudem für eine bessere Bewältigung von Krankheiten bedeutsam (Badura 1999) sowie für die Förderung von Gesundheit auf individueller Ebene und in lokalen Lebenszusammenhängen (Geene 2002; Bruns 2013; Klärner, Gamper, Keim-Klärner, Moor, Von Der Lippe & Vonneilich 2021; Stress- und Stressbewältigung; Resilienz und Schutzfaktoren).
Die sozialpolitische Bedeutung sozialer Netze als Schutz-, Bewältigungs-, Entlastungs- und Unterstützungssysteme hat seit Beginn der 1970er-Jahre zu einer zunehmenden Forschung über soziale Netzwerke geführt. Insbesondere in der Sozialpsychiatrie und in der Gemeindepsychologie sind persönliche Netzwerke untersucht worden. Hierbei geht man von den Beziehungen aus, die ein Not leidendes Individuum zu einzelnen Personen und Gruppen hat. Es wird nicht nur versucht, Schwächen des individuellen Netzwerkes zu identifizieren, sondern auch die Stärken und damit die möglichen Anknüpfungspunkte für die Hilfesuche des Individuums in seiner unmittelbaren Umgebung. Die Netzwerkförderung in diesem Kontext kann als eine wesentliche Erweiterung professioneller Hilfedisziplinen (im Sinne einer Netzwerkberatung) verstanden werden.
Die primäre, sekundäre und tertiäre Ebene sozialer Netzwerke
Folgende soziale Netzwerke sind auf primärer, sekundärer und tertiärer Ebene bedeutsam (Quilling, Nicolini, Graf & Starke 2013; Bruns 2013; Vermitteln und Vernetzen):
- Primäre Netzwerke: Familie, Verwandte, Haushaltsangehörige und Freunde.
- Gering organisierte sekundäre Netzwerke: Vor allem selbstorganisierte soziale Gebilde im eigenen Lebensraum wie Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen etc.
- Stark organisierte sekundäre Netzwerke: Organisierte Vereinigungen und Verbände wie Pro Familia, Diabetiker Bund, Multiple Sklerose Gesellschaft etc.
- Gemeinnützige tertiäre Netzwerke: Professionelle Hilfssysteme, d. h. Beratungsstellen, Gesundheitskioske, Arztpraxen, Sozialstationen, Krankenhäuser, Pflegeheime etc.
Epidemiologische Untersuchungen haben bestätigt, dass eine gelungene Einbindung in primäre und soziale Netzwerke mit geringerer Krankheitshäufigkeit und höherer Lebenserwartung einhergeht. Die häufig zitierte amerikanische Studie von Berkman und Syme (1979) bei einer Zufallsauswahl von fast 7.000 Erwachsenen zeigte, dass Personen mit geringen sozialen Bindungen („social and communities“) in einem Neunjahres-Zeitraum nach der Erstuntersuchung ein zwei- bis dreimal so großes Sterberisiko hatten wie die Personengruppen mit den intensivsten sozialen Kontakten (ebd.).
Bruns (2013) hebt in ihrer Untersuchung zur „Gesundheitsförderung durch soziale Netzwerke“ hervor, dass Gesundheit im Zusammen- und Wechselspiel auf den benannten drei Ebenen entsteht und folglich die Förderung gesundheitsrelevanter Ressourcen eingebettet in das Setting und mit Blick auf die Qualität der Vernetzung kontextspezifisch erfolgen sollte.
In einem Sammelband von Klärner, Gamper, Keim-Klärner, Moor, Von Der Lippe & Vonneilich (2021) werden anhand zweier Perspektiven (Lebenslauf und Ungleichheitsdimensionen) die Anwendungen des Netzwerkansatzes im Bereich der gesundheitlichen Ungleichheiten untersucht. In Anlehnung an Dahlgreen und Whitehead (1991; Determinanten der Gesundheit) ist ersichtlich, dass neben individuellen Lebensfaktoren, den Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie den sozioökonomischen, kulturellen und physischen Umweltbedingungen die Perspektive auf soziale und kommunale Netzwerke für Menschen zunehmend bedeutsamer geworden ist.
Auf der professionellen (tertiären) Netzwerkebene haben sich seit der Ottawa Charta (1986) (Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa) viele settingspezifische im Sinne selbstorganisierter Zusammenschlüsse gegründet, z. B. auf kommunaler oder regionaler Ebene (Dadaczynski, Baumgarten & Hartmann 2016; Hartmann 2021; Träger der NPK 2023). Im Zentrum dieser Netzwerke zwischen Organisationen steht eine gemeinsame Betroffenheit (z. B. zunehmende psychische Erkrankungen) oder ein gemeinsames Ziel wie die strategische Entwicklung gesundheitsförderlicher Settings. Die Netzwerke können also durch internen Wandel der Settings bewegt oder Teil von innovativen sozialen Bewegungen sein. Besonders im Bereich der Gesundheitswissenschaften/Public Health ist die Netzwerkförderung und die Netzwerkarbeit ein zumeist struktureller Ansatz von Gesundheitsförderung und Prävention. Diese Netzwerke werden im Leitbegriff Vermitteln und Vernetzen beschrieben.
Netzwerkförderung
Als Netzwerkförderung wird die Gesamtheit aller Aktivitäten bezeichnet,
- die der Erhaltung, Befähigung und Weiterentwicklung bestehender sekundärer Netzwerke in Arbeits- und Lebenswelt,
- zudem der Anregung neuer sekundärer Netzwerke in Arbeits- und Lebenswelt oder
- der Entlastung und „Pflege“, Erweiterung, Aktivierung, Stärkung und Qualifizierung persönlicher Netzwerke (Familie, Nachbarschaft, Freunde etc.) dienen.
Die Definition zeigt, dass der Begriff der Netzwerkförderung so weit gefasst ist, dass er Selbsthilfeförderung (Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung) einschließt. Es entstand im Anschluss an die epidemiologische Forschung in den 1990er sowie 2000er Jahren zur Sozialen Unterstützung und sozialen Netzwerken und schließt konzeptionell und argumentativ an diese Forschung an.
Grundsätzlich werden in sozialpolitischen Kontexten einzelne Elemente der Netzwerkförderung unter spezifischeren Überschriften aufgegriffen: Unterstützung von Angehörigen (RKI 2015), Selbsthilfeförderung im Gesundheitswesen (Trojan, Bellwinkel, Bobzien, Kofahl & Nickel 2012), Netzwerkarbeit (Wohlfahrt 2016) oder Gemeinwesenarbeit im Bereich der sozialen Arbeit (Fischer 2013).
Netzwerkförderung ist von besonderer sozialpolitischer Bedeutung für vulnerable Gruppenwie beispielsweise pflegebedürftige, alte und chronisch kranke Menschen. Das Sozialgesetzbuch XI verfolgt das Ziel, Pflegebedürftigen so lange wie möglich eine Pflege zu Hause zu ermöglichen. Dies ist nur möglich, wenn pflegende Angehörige ermutigt und in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe zu erfüllen. In Nordrhein-Westfahlen beispielsweise werden Netzwerke dieser Art nach §45c Abs. 9 SGB XI gefördert (Verband der Ersatzkrankenkassen 2024).
Netzwerke gegen die soziale Isolation
Die zunehmende Bedeutung der systematischen bzw. gezielten Netzwerkförderung leitet sich aus gesellschaftlichen Herausforderungen und den demografischen Veränderungen ab. So zeigt sich, dass traditionelle Netzwerke wie die Familie wegen erhöhter beruflicher und sozialer Mobilität, der wachsenden Zahl von Ein-Personen-Haushalten und ähnlichen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen der Individualisierung bzw. Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensphasen immer weniger traditionellen Aufgaben im Sinne sozialer Unterstützung nachkommen.
Der Bedarf an Maßnahmen zur Etablierung und Förderung von sozialen Netzwerken in den verschiedenen Settings wird durch die soziale Isolation der (zumeist alleinlebenden, weiblichen) Personen deutlich (Lippke, Keller & Derksen 2021; Buecker & Horstmann 2021). Im Besonderen wurde dies, während der COVID-19-Pandemie 2020 bis 2022 verstärkt ersichtlich. Eine Maßnahme zur Förderung ebensolcher Netzwerke ist das Projekt Silbernetz, das über Telefon Seniorinnen und Senioren Kontakte vermittelt, um der Vereinsamung entgegenzuwirken.
In der Deklaration von Jakarta aus dem Jahr 1997 taucht erstmals die Feststellung auf, dass Gesundheitsförderung den Aufbau „sozialen Kapitals“ benötigt. Die WHO definiert dies folgendermaßen: „Soziales Kapital beschreibt den Grad des sozialen Zusammenhalts, der innerhalb von Gemeinschaften zu finden ist.“ (WHO 2021). Soziales Kapital bezieht sich auf Prozesse zwischen Menschen, die Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen hervorbringen sowie Koordination und Zusammenarbeit erleichtern (Nutbeam 1998). So beschreibt Hartung (2022), dass die Förderung von Sozialkapital als Strategie von Gesundheitsförderung und Prävention unter Beachtung der Machteffekte und negativer Konsequenzen zur Stärkung der Gesundheit in den verschiedenen Bereichen (z. B. Pflege) lohnend sein kann. Die enge Verwandtschaft mit dem sozialepidemiologischen Konzept „soziales Netzwerk“ begründet sich wie folgt: Der Grad des sozialen Zusammenhalts in Gemeinschaften basiert auf den Aushandlungsprozessen und Beziehungen zwischen den Menschen in sozialen Netzwerken (Putnam 2000; Weyer 2014). Ohne soziale Netzwerke kein soziales Kapital.
Soziales Kapital kann erst durch die Bildung sozialer Netzwerke sowie deren Aushandlungsprozesse in den Beziehungen entstehen und rückwirkend vom Individuum zur Verwirklichung seiner eigenen Ziele genutzt werden.
Fazit
Es zeigt sich, dass es zur Erhöhung des Sozialen Kapitals des Individuums einer systematischen Förderung der primären und sekundären Netzwerke bedarf, die zu großen Teilen nur durch die Stärkung etablierter Netzwerkstrukturen und die strukturelle Förderung neuer Netzwerke als Strategie der Gesundheitsförderung gelingen kann.
Literatur:
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Weiterführende Quellen
Dahlgren, G. & Whitehead, M. (1991). Policies and strategies to promote social equity in health. Institute for Future Studies: Stockholm.
Wohlfart, U. (2006). Netzwerkarbeit erfolgreich gestalten: Orientierungsrahmen und Impulse. Bielefeld: Bertelsmann.
Internetadressen:
Literatur und Methoden zur Netzwerkförderung: www.sozialraum.de/methodenkoffer
Netzwerk für die Sozialwirtschaft: www.sozialraum.de/methodenkoffer
Pflegende Angehörige: www.wir-pflegen.net
Weiterbildungsbausteine zu Empowerment und Vernetzung: www.empowerment.de
Verweise:
Determinanten der Gesundheit, Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa, Gesundheitswissenschaften / Public Health, Lebenslagen und Lebensphasen, Netzwerkarbeit – Vermitteln und Vernetzen als professionelle Handlungsprinzipien der Gesundheitsförderung, Resilienz und Schutzfaktoren, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Social Media / Gesundheitsförderung mit digitalen Medien, Soziale Unterstützung, Soziales Kapital, Stress und Stressbewältigung
Wir bedanken uns bei dem Kollegen Alf Trojan für seine wissenschaftliche Vorarbeit und die Erstversion des Leitbegriffs, an die wir dankenswerterweise anknüpfen durften.