Gesundheitsförderung und Integrierte Versorgung
Zitierhinweis: Hildebrandt, H. (2025). Gesundheitsförderung und Integrierte Versorgung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.).Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Mit Integrierter Versorgung ist das Bemühen angesprochen, enge Grenzen auf einzelne medizinische Versorgungsbereiche beschränkter Behandlung patientenorientiert zu überwinden. Die Zunahme komplexer chronischer Erkrankungen erfordert eine abgestimmte und koordinierte Versorgung über Professionen und Institutionen hinweg. Im integrierten Chronic Care-Modell der populationsbezogenen Integrierten Versorgung mischen sich primär- bis tertiärpräventive Elemente der Gesundheitsförderung bei krankheitsgefährdeten und chronisch kranken Menschen. Neben der Aktivierung von Patientinnen und Patienten sowie Interventionen innerhalb des Medizinsystems haben auch Interventionen im Gemeinwesen ein großes Gewicht.
Schlagworte
Integrierte Versorgung, Koordination, Kooperation, Chronische Krankheiten, Prävention, Arztnetze
International wird von der WHO im „Framework on integrated, people-centred health services“ (2016) folgende Definition für Integrated Health Services verwendet: „Health services that are managed and delivered so that people receive a continuum of health promotion, disease prevention, diagnosis, treatment, disease management, rehabilitation and palliative care services, coordinated across the different levels and sites of care within and beyond the health sector, and according to their needs throughout the life course“ (WHO, 2016, S. 2).
Sozialrechtliche Grundlagen der Integrierten Versorgung
In Deutschland wird Integrierte Versorgung sozialrechtlich als eine neue sektorenübergreifende und selektivrechtliche Versorgungsform bezeichnet, die seit der Gesundheitsreform im Jahr 2000 gesetzlich verankert ist. Sie fördert eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Fachdisziplinen und Sektoren (z. B. hausärztliche und fachärztliche Versorgung, Pflege, Krankenhäuser, Rehabilitation), um die Qualität und Transparenz in der Versorgung zu verbessern und gleichzeitig die Gesundheitskosten im Griff zu halten. Krankenkassen können demnach einzeln oder in Partnerschaften mit Einzelnen oder Gruppen von Leistungserbringern bzw. deren Managementgesellschaften Kooperationen eingehen.
Der Rahmen für entsprechende Verträge war bis Mitte 2015 durch die §§ 140 a−d, SGB V festgelegt. Seit der im Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004 verankerten Anschubfinanzierung hatte die Integrierte Versorgung deutlich an Auftrieb gewonnen. Mit deren Auslaufen sind seit 2008 neue Verträge stark zurückgegangen. Mit dem Versorgungsstärkungsgesetz von 2015 wurden die Regelungen der §§ 140 a−d dann vereinfacht und auf dessen ersten Abschnitt, den jetzigen § 140a, begrenzt, wobei dieser die Überschrift „Besondere Versorgung“ erhalten hat. Integrierte Versorgung ist seitdem ein Teilausschnitt dieser Besonderen Versorgung.
Die beabsichtigte innovationsfördernde Einführung des Paragrafen § 140a ist überwiegend für kleinteilige Kooperationen vor allem der stationären und rehabilitativen Versorgung genutzt worden. Nach Schätzung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen existierten im Jahr 2011 rund 6.400 Integrierte Versorgung-Verträge der Krankenkassen mit Einrichtungen der Versorgung, die insgesamt Ausgaben von ca. 1,4 Milliarden Euro für knapp 2 Millionen Versicherte umfassten. Mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) vom 22.03.2020 wurde dem Bundesamt für soziale Sicherung (BAS) die Aufgabe übertragen, eine Transparenzstelle für Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V und der besonderen Versorgung nach § 140a SGB V zu errichten. Das Verzeichnis wurde zum 30.09.2021 um weitere Angaben ergänzt, u. a. um den räumlichen Geltungsbereich der Verträge und die Art der beteiligten Leistungserbringer. Am 08.02.2025 fanden sich dort 7.219 Verträge nach § 140a SGB V. Tab. 1 listet einen Auszug von teilnehmenden Leistungserbringern auf.
171 | Alten- und Pflegeheime (bzw. Tages- und Kurzzeitpflege, Sonderschulheime und sozialtherapeutische Zentren) |
24 | Ambulante und mobile Rehabilitationseinrichtungen |
43 | Apotheken |
19 | Augenoptiker und -optikerinnen, Augenärzte und -ärztinnen |
8 | Beschäftigungs-, Sucht-, Gestaltungs-, Kinder-, Ergo- und künstlerische Therapie |
45 | Caritative Organisationen, Diakonie- und Sozialstationen, Gemeindeschwestern, Selbsthilfegruppen, Kirchengemeinden, Stadtverwaltungen |
11 | DIGA-Hersteller |
7 | Hebammen |
2 | Hörgeräte-Akustikerinnen und -akustiker, HNO-Ärztinnen und -Ärzte |
14 | Kassenzahnärztliche Vereinigungen, Zahnärztinnen und Zahnärzte |
5.609 | Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztinnen und Ärzte |
1.411 | Krankenhäuser und Krankenhausapotheken |
313 | Polikliniken, Integrierte Versorgung, Praxiskliniken |
70 | Stationäre Vorsorge und Rehabilitationseinrichtungen |
Tab. 1: Auszug von teilnehmenden Leistungserbringern in der Transparenzstelle für Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung.
(Quelle: www.bundesamtsozialesicherung.de/de/themen/vertragstransparenzstelle/ueberblick/)
Präventive oder gesundheitsfördernde Aspekte spielen in Verträgen zur Integrierten Versorgung bisher nur gelegentlich eine Rolle, z. B. in erweiterten Versorgungsprogrammen verschiedener Krankenkassen zur Frühgeburtenprävention und in den weiter unten beschriebenen Populationsverträgen. Während solche Teillösungen für ein bestimmtes Krankheitsbild auch als indikationsbezogene Versorgungsmodelle („IV light“) bezeichnet werden, gelten populationsbezogene Versorgungsmodelle als „IV full-size“. Hierbei geht es um die Übernahme eines Anteils oder der gesamten Budgetverantwortung, indikationsübergreifend für die Versicherten der beteiligten Krankenkasse(n) einer bestimmten Region.
Das erweiterte Chronic Care-Modell
Nur im Konzept einer solchen Integrierten regionalen (Voll-)Versorgung bekommen Gesundheitsförderung und Prävention einen zentralen Stellenwert, der weit über das in der heutigen medizinischen Versorgung Übliche hinausreicht. Die konzeptionelle Grundlage hierfür ist das Chronic Care-Modell (Glasgow et al., 2001; Wagner et al., 2014). Obwohl in dieses Modell das Gemeinwesen und seine Ressourcen bereits einbezogen sind, wurde kritisiert, dass es in zu hohem Maße ausschließlich kurativ auf die einzelne Person bzw. Anbieter fixiert sei und die Interventionsbedarfe im Umfeld der Betroffenen vernachlässige.
Als Reaktion darauf wurde von Barr et al. (2003) eine Verknüpfung des Chronic Care-Modells mit dem Konzept der Health Promotion (Ottawa-Charta) (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen) vorgeschlagen und dies als „erweitertes Chronic Care-Modell“ bezeichnet. In diesem Modell mischen sich primär- bis tertiärpräventive Elemente und Gesundheitsförderung bei krankheitsgefährdeten und chronisch kranken Menschen. Neben dem aktivierten Patienten bzw. der Patientin wurde dort auch die aktivierte Community als Teil der Integrierten Versorgung hervorgehoben. Die Interventionen innerhalb des Medizinsystems wurden ergänzt und verknüpft mit Interventionen im Gemeinwesen (Sozialraum- und Gemeindeorientierung in der Gesundheitsförderung; Gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit).
Dieses 2003 vorgeschlagene Modell erfasst die komplexen Anforderungen in besserem Maße als das ursprüngliche Chronic Care-Modell von Wagner et al., bleibt aber auch hinter heutigen Anforderungen und Möglichkeiten zurück, insbesondere bezüglich der Nutzung neuer technischer Kommunikationsmöglichkeiten.
Das Integrated Chronic Care-Modell
Eine Gruppe von Forschenden der International Foundation for Integrated Care hat dieses Modell erweitert und zu einem „Integrated Chronic Care-Model“ (ICCM) weiterentwickelt (ICCM, zusammengefasst von Goodwin & Hildebrandt, 2014, siehe Abbildung 1).
Zusätzlich zu den beiden Interventionsebenen des Gesundheitswesens und der Community (siehe Ebenen 1 und 2 in Tab. 2) tritt in der Erweiterung des ursprünglichen Modells als dritte die Mesoebene des Einzelhaushalts und der Peers hinzu. Auf dieser Ebene werden zur Überwachung von Alltagsprozessen in der Häuslichkeit verschiedene Aspekte einbezogen und genutzt: der Effekt des Peer-to-Peer-Trainings und der Kommunikation in sozialen Medien (Social Media/Gesundheitsförderung mit digitalen Medien), der Einfluss von körperlichem Training, die Unterstützung durch Mobile Health-Apps für z. B. auf Smartphones, Wearable Textile Devices (in die Kleidung integrierte oder implantierbare Überwachungsgeräte) oder der Einbau von Smart Meters (intelligenten Messgeräten in Haushalten zur Überwachung von problematischen Situationen, wie z. B. Stürzen).
In Tab. 2 werden die wichtigsten Elemente des ICCM-Modells und ihr Bezug zur Ottawa-Charta dargestellt (relevante Konzeptbezüge zur Gesundheitsförderung kursiv).
Funktionselemente des Integrated Chronic Care-Modells (ICCM) und ihr Bezug zu den Aktionsbereichen der Ottawa-Charta (kursiv hervorgehoben) | |
1. Auf der Ebene des Gesundheitssystems, d.h. der traditionellen Gesundheitsversorgung | |
Gestaltung der Leistungserbringung (Neuorientierung der Gesundheitsdienste) | Stärkere Ausrichtung der Versorgung auf die Bedürfnisse von Chronikerinnen und Chronikern (auf chronische Versorgung vorbereitete interdisziplinäre Versorgungsteams); Neukonzipierung von Versorgungsabläufen, z. B. Chroniker-Sprechstunde oder Case Management; Delegation ärztlicher Leistungen an andere Berufsgruppen; Einführung von Gruppensprechstunden |
Angebot von Entscheidungshilfen sowohl für Ärztinnen und Ärzte wie auch für Patientinnen und Patienten | Gegenseitige Unterstützung von Haus- und Fachärztinnen und -ärzten unter Nutzung und lokaler Anpassung von Leitlinien; Konsilien zu spezifischen Problemstellungen in Kooperation mit Fachexpertinnen und -experten; Angebot von Video-, Broschüren- bzw. internetgestützten Informationsangeboten für Patientinnen und Patienten, Telefonhotlines, Einholen einer zweiten Meinung für Chronikerinnen und Chroniker |
Informationssysteme / Telemedizin | Erinnerungs- und Unterstützungssysteme, Terminplanung, Informationsbereitstellung, Leistungsmessung, Therapiepläne und telemedizinische Technologien zur Überwachung von Krankheitsbildern; Zugriffsoptionen auf die zentrale Akte für Patientinnen und Patienten sowie Angehörige |
Aktivierung, Stärkung von Selbstmanagement und persönlichen Fähigkeiten (Self-Management/Personal Skills) | Ausrichtung des Versorgungssystems auf die Entwicklung von Gesundheitskompetenz bei den Patientinnen und Patienten, u. a. durch aufbereitete Informationen zu Möglichkeiten der Prävention (Ernährung, Bewegung, Rauchstopp) und das Angebot von Selbst- und Verlaufskontrollen; Kontakt- und Austauschmöglichkeiten mit anderen Patientinnen und Patienten (Selbsthilfe, soziale Foren, Gruppensprechstunden) |
2. Auf der Ebene der Haushalte, Familien, der direkten Nachbarschaft und der Gleichbetroffenen | |
Mobile Gesundheitsdienstleistungen und technische Assistenzsysteme zur Erhaltung von Selbständigkeit und häuslicher Autonomie (Mobile Health/Ambient Assisted Living) | Mobile digitale Gesundheitsdienstleistungen u. a. von Apps und Wearable Textile Devices wie z. B. Kleidung oder Schuhe mit eingebauter Bewegungssensorik; zum Erhalt der Häuslichkeit eingesetzter technischer Unterstützungstechnologien unter Nutzung von Sensorik zur Aufdeckung eventueller Abweichungen von Routinen und damit Hilfebedarfen; Verknüpfung dieser Sensorik mit stufenweise ansteigender Unterstützung |
Förderung von Gesundheitskompetenz und Trainingsangeboten durch Peer-Trainerinnen und -Trainer (Health literacy/Peer-to-peer, Developing Personal Skills) | Fortführung der personalen Informationsangebote auch in den Kontext der jeweiligen lokalen bzw. regionalen Nachbarschaften; Förderung des Wissens und der Kompetenz zum Erhalt der eigenen Gesundheit, Etablierung von CDSM-Programmen (Chronic Disease Self-Management), in denen Chronikerinnen und Chroniker nach einem genau definierten Konzept andere Chronikerinnen und Chroniker trainieren |
3. Auf der kommunalen bzw. regionalen und Quartiersebene | |
Aufbau einer unterstützenden Umwelt (Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen) | Aufbau gesundheitsfördernder Maßnahmen im Lebensumfeld (Soziales, Verkehr, Städtebau, Natur etc.), seniorengerechte Umgestaltung von Gehwegen, Leitsystemen, öffentlichem Transport etc. |
Stärkung der kommunalen Aktivitäten und Initiativen (Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen) | Arbeit mit kommunalen Gruppen, um Prioritäten und Ziele zur Erreichung der Gesundheit in der Gemeinschaft zu vereinbaren |
Tab. 2: Elemente der ICCM und ihr Bezug zu den Aktionsbereichen der Ottawa-Charta (Quelle: Goodwin & Hildebrandt, 2014; eigene Darstellung)
Ziel des ICCM besteht darin, Patientinnen und Patienten zu aktivieren und zu Selbstmanagerinnen und -manager ihrer Erkrankung zu machen, wobei auch Angehörige und das soziale Umfeld einbezogen werden sollen. Eine Studie aus den USA zeigt, dass Patientinnen und Patienten umso höhere Kosten verursachen (zwischen 8 % und 21 %), je niedriger ihre Aktivierungswerte sind (Hibbard & Greene, 2013).
Weitere wichtige Elemente sind, die Ärzteschaft und das multidisziplinäre Versorgungsteam zu schulen und als Coaches und Unterstützer für verbesserte Gesundheitskompetenz der Patientin bzw. des Patienten zu gewinnen, Peer-to-Peer-Ansätze aufzubauen und systemisch auf die gesamte Bevölkerung in einer Raumschaft zu intervenieren, z. B. in Kooperation mit Kommunen, Wohlfahrtsverbänden oder Vereinen. Gleichzeitig sollen Sport und Training sowie Mobile Health-Lösungen – soweit wie möglich und solange das Kosten-Nutzen-Verhältnis überzeugt – genutzt und in den Therapieprozess integriert werden.
Das ICCM empfiehlt die Etablierung von regionalen Entwicklungsagenturen, die sich ihrerseits mit lokalen Netzen von Leistungserbringern der Primärversorgung, regionalen zivilgesellschaftlichen Initiativen und kommunalen Gremien verknüpfen. Nach einer Anfangsinvestition rentieren sich diese Entwicklungsagenturen für die Krankenkassen aus der durch die aufgrund der Effekte des ICCM für die Versicherten produzierten Ergebnis-Verbesserung hinsichtlich der verringerten Versorgungskosten. Die Entwicklungsagenturen werden finanziell am Erfolg beteiligt und haben daher ein eigenes wirtschaftliches Interesse an dem erzeugten Nutzen und insofern auch einen nachhaltigen Anreiz für kontinuierliche Optimierungen und Effizienzsteigerungen.
Gute Praxis-Modell Gesundes Kinzigtal
Gesundes Kinzigtal gilt als das am weitesten entwickelte und bekannteste Modell guter Praxis für die Integrierte Versorgung in Deutschland. 2005 wurde die Gesellschaft Gesundes Kinzigtal GmbH gegründet. Gesellschafter sind das Ärztenetz Medizinisches Qualitätsnetz – Ärzteinitiative Kinzigtal (MQNK) und die OptiMedis AG. Die Ärztinnen und Ärzte des MQNK und die Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der OptiMedis AG wollten gemeinsam mit der AOK und LKK Baden-Württemberg im Rahmen eines komplexen Integrierten Versorgungsmodells Gesundheit und Krankenversorgung im Kinzigtal verbessern. Grundmaxime war und ist laut Selbstdarstellung im Internet: „Gemeinsam aktiv für Ihre Gesundheit“. Der betriebswirtschaftliche Hintergrund der Arbeit im Kinzigtal war das Shared Savings-Modell von OptiMedis. Es beruhte auf einer Teilung der aus der verbesserten Gesundheitssituation entstandenen Vorteile für die Krankenkasse und belohnte damit das Investment der Gesundes Kinzigtal GmbH in die Gesundheitsförderung und Verbesserung nachträglich wirtschaftlich (vgl. Hildebrandt et al., 2022).
Die Integration von Prävention und Gesundheitsförderung in die gesundheitliche Basisversorgung gründet auf einer großen Zahl von Programmen. Die Spannbreite zeigt, dass das Modell Kinzigtal auf einem weitgefassten sozio-psycho-somatischen Gesundheitsverständnis basiert (Gesundheit). Die Programme werden durch Vorträge, Schulungen, Zielvereinbarungen von Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten, Coaching, Case Management und andere methodische Ansätze umgesetzt. Sie werden unterstützt durch die Förderung von Selbsthilfe und die Empfehlung zur Teilnahme an Selbsthilfegruppen. So erhielt das Netzwerk im Kinzigtal im Jahr 2019 eine Auszeichnung durch das Netzwerk „Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen”.
Mitte 2011 wurde das Programm um einen neuen Bereich erweitert, der sich der Gesundheitsförderung in Betrieben (Betriebliche Gesundheitsförderung) verpflichtet hat und insbesondere kleinere und mittelgroße Betriebe unterstützt, vor allem bei Vorsorgeaktivitäten, der Wiedereingliederung von erkrankten Beschäftigten sowie der Weiterentwicklung von Führungsqualitäten (Stand Februar 2025: Es gibt Kooperation mit 18 Betrieben mit insgesamt mehr als 3.500 Beschäftigten, Netzwerk + Mitgliedschaft Gesundes Kinzigtal).
Mit dem Bau und der Gründung der Gesundheitswelt Kinzigtal 2016 wurde sowohl Betrieben und deren Beschäftigten als auch den Mitgliedern und der Bevölkerung ein Zentrum für Gesundheitskompetenz und ärztlich begleitete Bewegungs- und Krafttrainingsangebote zur Verfügung gestellt. Mit den Kommunen wurde zudem die Versorgungssicherheit im Kinzigtal weiterentwickelt. Gemeinsam mit den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und den lokalen Arztpraxen wird die Situation in der Region erfasst und die Gründung von Medizinischen Versorgungszentren geplant. Ein MVZ wurde in Zell am Harmersbach mit einem genossenschaftlichen Träger etabliert, eine Zweitpraxis wurde in Hausach eingerichtet, ein weiteres MVZ befindet sich in Hornberg in Planung (Stand Februar 2025).
Gesundes Kinzigtal hat in vielfältigen Evaluationen Gesundheitsgewinne, eine erhöhte Aktivierung der Patientinnen und Patienten und ökonomische Vorteile gegenüber der üblichen Krankenversorgung nachweisen können (vgl. Siegel & Stößel, 2014; Schulte et al., 2014; Köster et al., 2014, Schulte et al., 2016; Siegel & Niebling 2017). Trotz kontinuierlicher Einsparungen der Krankenkassen in der Höhe von ca. 5 Millionen Euro pro Jahr gegenüber alters- und morbiditätsanalogen Populationen kam eine Zehn-Jahres-Evaluation für die gesamte Population der AOK-Versicherten im Kinzigtal, d. h. nicht nur für die Interventionsgruppe, zu dem Ergebnis, dass sich die Versorgungsqualität gemessen anhand von medizinisch-pharmazeutischen Routinedaten nicht negativ gegenüber einer Gruppe von 13 strukturell vergleichbaren Kontrollregionen entwickelt hat (Schubert et al., 2021).
Im Januar 2024 wurde der Vertrag zwischen der AOK Baden-Württemberg und der Gesundes Kinzigtal GmbH nach § 140a SGB V erneuert und gegenüber dem ursprünglichen Shared Savings-Finanzierungsmodell verändert. Die Finanzierung wurde zurückgeführt auf ein Mischmodell mit einer Finanzierung der Fortführung einzelner Programme sowie der Unterstützung gezielter Patientinnen und Patienten mit Gesundheitslotsinnen und -lotsen sowie einer Belohnung für besondere Qualitätsergebnisse im Vergleich zu anderen Ärztenetzen.
Ziel: Gesundheitsförderung als Regelversorgung
Indikationsbezogene Integrationsmodelle zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen oder Rückenschmerzen berücksichtigen gelegentlich tertiärpräventive Aspekte; umfassend präventiv und gesundheitsfördernd ausgerichtete Integrationsmodelle sind bisher aber nur bei den populationsbezogenen Integrierten Versorgungsmodellen zu finden. Wenn diese Gesundheitsförderung und Prävention entsprechend dem erweiterten Chronic Care-Modell berücksichtigen, ist Gesundheitsförderung (im Sinne der Ottawa-Charta) in der Mitte der Regelversorgung angekommen.
Das hier geschilderte Modell guter Praxis wurde in seiner umfassenden Anlage in mehreren Regionen Deutschlands weiterentwickelt. Mithilfe des Innovationsfonds wurde so von 2017 bis 2020 über die regionale Managementgesellschaft „Gesundheit für Billstedt/Horn UG“ eine Intervention in zwei der von sozioökonomischen Herausforderungen geprägten Stadtteile von Hamburg umgesetzt (inzwischen in eigener Trägerschaft weitergeführt). 2019 startete die regionale Integrierte Versorgung im Werra-Meißner-Kreis, 2020 die Initiative im Schwalm-Eder-Kreis. Zusätzlich gibt es eine Reihe von Modellen, die in der einen oder anderen Ausprägung diesen Ansätzen nahekommen (siehe www.deutsche-aerztenetze.de).
In einer Public Health-orientierten Bestandsaufnahme werden als Qualitätskriterien für die Beurteilung weiterer Regionen unter anderem Autonomie von Patientinnen und Patienten, deren Beteiligung sowie Anreize für Prävention und Gesundheitsförderung vorgeschlagen. Dies stimmt optimistisch für den Stellenwert dieser zentralen Konzepte der Ottawa-Charta für zukünftige Modelle der Integrierten regionalen Versorgung (vgl. Hildebrandt & Gröne, 2021). Rückenwind bekommt die optimistische Einschätzung auch durch die WHO, die sich der Entwicklung einer „Global strategy on people-centred and integrated health services“ verschrieben hat (vgl. WHO, 2016; auch Groene et al., 2016).
Verstärkt wird diese Ausrichtung durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die 2023 einen wegweisenden Bericht zu internationalen Modellen der Integrierten Versorgung herausgegeben hat. Für 13 Lösungen aus Europa wurden unter anderem die Effekte einer Ergebnis- und Kostenmitverantwortung der Akteurinnen und Akteure im Gesundheitssystem auf gewonnene Lebensjahre und vermiedene Lebensjahre mit Krankheitseinschränkungen modelliert. Kumuliert bis zum Jahr 2050 ergeben sich dabei für das OptiMedis-Modell insgesamt knapp 100.000 vermiedene Lebensjahre mit Krankheitseinschränkungen für Deutschland bei gleichzeitig 14 Milliarden Euro eingesparten GKV-Kosten (OECD, 2023).
Mit einem Vorschlag für die Überführung der Regelversorgung in eine regionalisierte Integrierte Versorgung wurde bereits 2021 die Diskussion weitergeführt, wie die Versorgung in Deutschland patientengerechter, präventiver und nachhaltiger ausgerichtet werden kann (vgl. Hildebrandt et al., 2021). In dem Referentenentwurf für ein Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) hatte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) 2024 darauf reagieren wollen und u. a. Vorschläge zu Ermöglichung von Gesundheitskiosken und Gesundheitsregionen entwickelt. Im Gesetzgebungsverfahren wurden diese Vorschläge aber nicht mehr aufgenommen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Politik der Verbesserung des Gesundheitsstatus der Bevölkerung in Deutschland angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels und der Finanzknappheit der GKV und der SPV in Zukunft annehmen wird.
Literatur:
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Glasgow, R. et al. (2001). Does the chronic care model also serve as a template for improving prevention? The Milbank Quarterly, 79(4), 579–612. https://doi.org/10.1111/1468-0009.00222
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Kostenlose, nahezu identische Fassung unter https://optimedis.de/files/Zukunftskonzept/Buch_Auftaktartikel_Integrierte_Versorgung_Jetzt_Entwurf.pdf
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Weiterführende Literatur
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Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2012). Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung. Sondergutachten 2012. Drucksache 17/10323. Berlin: Deutscher Bundestag.
Internetadressen:
Agentur Deutscher Ärztenetze e. V.: www.deutsche-aerztenetze.de
Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e. V.: www.dgiv.org
Gesunder Schwalm-Eder-Kreis: www.gesunder-sek-plus.de
Gesundes Kinzigtal: www.gesundes-kinzigtal.de
Gesundheit für Billstedt/Horn: www.gesundheit-bh.de
Integrierte Versorgung im Werra-Meißner-Kreis: www.gesunder-wmk.de/2020/11/29/nordhessen-als-vorreiter-fuer-neue-versorgungsloesungen
International Foundation for Integrated Care: www.integratedcarefoundation.org
Verweise:
Betriebliche Gesundheitsförderung, Gesundheit, Gesundheitsbezogene Lebensqualität, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Social Media / Gesundheitsförderung mit digitalen Medien, Sozialraum- und Gemeindeorientierung in der Gesundheitsförderung