Gesundheitswissenschaften / Public Health

Anna Christina Nowak , Petra Kolip , Oliver Razum

(letzte Aktualisierung am 10.01.2022)

Zitierhinweis: Nowak, A. C., Kolip, P. & Razum, O. (2022). Gesundheitswissenschaften / Public Health. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i061-2.0

Zusammenfassung

Gesundheitswissenschaften und Public Health bezeichnen ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit dem Ziel der Gesunderhaltung der Bevölkerung. Dazu werden die Entwicklung von Gesundheit und Krankheit, die Determinanten von Gesundheit sowie systembedingte Faktoren mit unterschiedlichen Methoden systematisch erfasst und (organisierte) Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention unter besonderer Berücksichtigung von Aspekten sozialer Ungleichheit entwickelt und angewendet.

Schlagworte

Gesundheitswissenschaften, Public Health, Interdisziplinarität, Gesundheitsdeterminanten, gesundheitliche Ungleichheit


Gesundheitswissenschaften/Public Health ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem die Entstehung von Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung, die Determinanten von Gesundheit sowie die Bedarfsgerechtigkeit und Effizienz der Strukturen des Gesundheitssystems systematisch betrachtet werden (Hurrelmann, Laaser & Razum, 2015).

Interdisziplinarität, Wissenschaftlichkeit, Methodenvielfalt

Laut WHO-Definition umfasst Public Health alle (organisierten) Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten (Prävention und Krankheitsprävention), zur Förderung der Gesundheit (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen), zur Verlängerung des Lebens aller Bevölkerungsgruppen sowie zur Herstellung von gesunden Lebensbedingungen (Acheson, 1988). Dabei werden sowohl Risiko- als auch Förderfaktoren auf individueller, umweltbezogener, organisationaler und globaler Ebene für die Bevölkerungsgesundheit in den Blick genommen (Razum & Kolip, 2020).

Im deutschen Sprachraum wird unter den beiden Begriffen Gesundheitswissenschaften/Public Health oft das gleiche Forschungsfeld verstanden, wobei die Bezeichnungen „unterschiedliche Akzente setzen“ (Hurrelmann, Laaser & Razum, 2015, S. 15). Während „Public Health“ in der originären Übersetzung öffentliche Gesundheit meint, impliziert der Begriff „Gesundheitswissenschaften“ (in der englischen Übersetzung „Health Sciences“) eher den interdisziplinären und wissenschaftlichen Charakter (ebd.).

Durch den interdisziplinären Charakter finden sich Überschneidungen mit anderen Fächern, z. B. Soziologie, Politikwissenschaft, Umweltwissenschaften, Demografie, Psychologie, Humanbiologie und Medizin. Zudem sind oft weitere Disziplinen wie Rechtswissenschaft (z. B. bei der Beurteilung rechtlich unterschiedlich geregelter Zugänge zur Gesundheitsversorgung) oder Philosophie (bei ethischen Fragestellungen) relevant. Durch die Verknüpfung unterschiedlicher Einzeldisziplinen ist die methodische Bandbreite hoch: Quantitative und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung werden ebenso angewandt wie Methoden der Epidemiologie und Sozialepidemiologie, der Biostatistik, der Demografie und der Gesundheitsökonomie.

Neben den bereits genannten Elementen – Interdisziplinarität, Wissenschaftlichkeit, Methodenvielfalt – sind auch die Zusammenarbeit mit Praxispartnerinnen und -partnern an alltagsnahen Problemen (Transdisziplinarität) sowie eine politikberatende Funktion konstitutiv für die Gesundheitswissenschaften, um gesundheitsbezogenes Verhalten und Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Gesundheit zu erfassen, Interventionen zu entwickeln und zu evaluieren (Razum & Kolip, 2020).

Verständnis von Gesundheit und Krankheit

Übergreifendes Ziel der Gesundheitswissenschaften ist die Gesunderhaltung der Bevölkerung. Die WHO definierte Gesundheit bereits in ihrer Präambel 1946 als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“ (WHO, 1946/1948). In der Definition wird zum einen der subjektive Charakter des Erlebens von Gesundheit und Krankheit deutlich. Zum anderen verweist sie auf die bio-psycho-sozialen Ursachen von Gesundheit und Krankheit und geht damit über eine rein organisch-biologische Ursachenzuschreibung hinaus. Zwar bleibt die Definition für die Operationalisierung in der gesundheitswissenschaftlichen Forschung vage, denn sie stellt einen idealisierten Zustand von Gesundheit dar, der offen lässt, was unter „vollständigem Wohlbefinden“ zu verstehen und ab wann (systembedingtes) Handeln notwendig ist (Wohlbefinden/Well Being). Gleichzeitig lädt sie jedoch dazu ein, die Determinanten von Gesundheit umfassend in den Blick zu nehmen (Razum & Kolip, 2020).

Einen wichtigen Ansatzpunkt zum Verstehen von Gesundheit und Gesunderhaltung bietet in diesem Zusammenhang das Salutogenese-Modell des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky. Er versteht Gesundheit und Krankheit als Pole eines Kontinuums, auf dem sich Individuen bewegen (Gesundheits-Krankheits-Kontinuum). Krankheitsauslöser können unterschiedliche Stressoren sein, für die ein Individuum keine ausreichenden Widerstandsressourcen zur Verfügung hat. Wichtig für die Gesunderhaltung ist das sogenannte Kohärenzgefühl, das sich aus den Komponenten der Verstehbarkeit, der Gestaltbarkeit bzw. Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit des Lebens zusammensetzt (Antonovsky, 1987).

Im Gegensatz zum Salutogenese-Modell werden im Pathogenese-Modell proximale, also direkte biologisch-organische oder mechanische Faktoren als Erklärungsansätze für die Entstehung von Krankheiten verwendet (Biomedizinische Perspektive). Distale Faktoren (oder Determinanten), also weiter entfernt liegende Krankheitsursachen wie soziale und gesellschaftliche Benachteiligung, können eine Rolle spielen, wie sich z. B. anschaulich an der Bedeutung von sozioökonomischen Faktoren für die Entwicklung von Krankheiten zeigt (Razum & Kolip, 2020) (Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit): Die Lebenserwartung bei Geburt nimmt mit sinkendem Einkommen ab; Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status leiden häufiger an schwerwiegenden chronischen Erkrankungen im Lebensverlauf (Lampert, Richter, Schneider, Spallek & Dragano, 2016).

Determinanten von Gesundheit lassen sich auf unterschiedliche Weise systematisieren, etwa für die gesundheitswissenschaftliche Forschung. Modelle wie das Regenbogen-Modell nach Dahlgren & Whitehead (1991), das humanökologische Modell nach Barton & Grant (2006) (siehe Abbildung 1) oder das Modell sozialer Determinanten von Gesundheit (WHO Commission on Social Determinants on Health, 2008) beschreiben Einflüsse auf die Gesundheit, die auf verschiedenen Ebenen verortet werden. Den Modellen ist gemein, dass sie über eine individuelle Betrachtung von Krankheitsrisiken hinausgehen und die physische und soziale Umwelt von Individuen sowie die gesellschaftliche Makroebene einbeziehen. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres Differenzierungsgrades der Lebenswelten. Solche Modelle sind hilfreich und notwendig, um (gesundheitsförderliche) Interventionen auf Bevölkerungsebene zu entwickeln und gesundheitliche Ungleichheiten (Gesundheitliche Chancengleichheit; Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit) zu reduzieren.

Geschichte der Gesundheitswissenschaften

Die Geschichte der Gesundheitswissenschaften lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. (Gesellschaftliche) Maßnahmen zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit begannen sich insbesondere im Zuge der Industrialisierung und der Entwicklung der Medizinstatistik durchzusetzen (Labisch & Woelk, 2015). Bereits 1876 wurde ein kaiserliches Gesundheitsamt zur Seuchenkontrolle eingerichtet (Riedmann, 2000). Der Schwerpunkt bevölkerungsbezogener Maßnahmen lag bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auf der Vorbeugung und Eindämmung übertragbarer Erkrankungen (Infektionskrankheiten) wie Cholera, Diphterie oder Tuberkulose, z. B. durch die Einführung von Hygienemaßnahmen und den Einsatz von Impfstoffen zur Reduktion der Säuglingssterblichkeit. Diese Ansätze und Maßnahmen werden auch als „Old Public Health“ bezeichnet. Bereits im frühen 20. Jahrhundert war das Konzept der öffentlichen Gesundheitspflege und Sozialhygiene durch Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen ein wichtiger Beitrag zur Gesundheit von unterversorgten Bevölkerungsgruppen (Razum & Breckenkamp, 2007; Hurrelmann, Laaser & Razum, 2015).

Diese Entwicklung wurde durch die rassenideologisch instrumentalisierten Maßnahmen (Erb- und Rassenhygiene) während des Nationalsozialismus pervertiert. Während die DDR an die öffentlichen Hygiene- und Sozialhygiene-Maßnahmen vor der NS-Zeit anknüpfte und diese weiterführte, waren die Öffentliche Gesundheit und damit verbundene Einrichtungen in Westdeutschland als so diskreditiert angesehen, dass lange Zeit die Individualmedizin im Vordergrund stand. Erst ab den 1980er Jahren wurde damit begonnen, Public Health als Arbeits- und Forschungs- sowie Ausbildungsbereich neu zu etablieren (Hurrelmann, Laaser & Razum, 2015; Razum & Vazquez 2017).

Mit der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie wurden in den 1980er Jahren erstmals repräsentative bevölkerungsbezogene Daten im Rahmen einer Interventionsstudie erhoben. Weitere bevölkerungsbezogene Studien folgten, zum Beispiel der Bundesgesundheitssurvey 1998, die Studie zur Gesundheit Erwachsener (DEGS) oder die NAKO-Gesundheitsstudie. Damit konnten Erkenntnisse zu (sozialen) Ursachen von Krankheit und Gesundheit gewonnen werden.

Ab den 1990er wurden fünf Forschungsverbünde „Public Health“ über einen Zeitraum von zehn Jahren gefördert, die die gesundheitsorientierte Forschung vorantreiben und Schools of Public Health etablieren sollten (v. Troschke, 2001). Eine Deutsche Koordinierungsstelle für Gesundheitswissenschaften war von 1992 bis 2006 aktiv. Seit 1997 existiert als wissenschaftlicher Dach- und Fachverband die Deutsche Gesellschaft für Public Health e.V. (DGPH).

Gesundheitswissenschaften/Public Health als akademische (Querschnitts-)Disziplin

Gesundheitswissenschaften/Public Health haben sich mittlerweile als akademische (Querschnitts-)Disziplin etabliert, was sich auch an der wachsenden Zahl von Fakultäten, Instituten und Studiengängen zeigt. Kolip (2020) ermittelte über 600 Studiengänge mit gesundheitsbezogenen Themenschwerpunkten. Hartmann et al. (2015) identifizierten 13 Bachelor- und 30 Masterstudiengänge mit gesundheitswissenschaftlichem/Public Health-Bezug.

In der Schweiz koordiniert und fördert die Swiss School of Public Health (SSPH+), ein übergreifender Zusammenschluss von Universitäten, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen, an 12 Standorten auf nationaler Ebene die universitäre Weiterbildung und die damit verbundene Forschung in allen Bereichen von Public Health und Gesundheitsökonomie. An sechs Universitäten besteht die Möglichkeit zur Promotion. Zudem legt die SSPH+ interuniversitäre Promotionsprogramme auf.

In Österreich gab es 2013 drei postgraduale Public Health-Universitätslehrgänge und zwei Public Health-Doktoratsstudienangebote. 34 weitere Studiengänge decken Teilbereiche von Public Health ab (Diem & Dorner, 2014).

International setzte sich ab den 1980er Jahren ein neues Verständnis von Public Health durch, das als „New Public Health“ bezeichnet wird. Mit der gestiegenen Lebenserwartung und der Verringerung der Säuglingssterblichkeit setzte der sogenannte gesundheitliche Übergang (epidemiologische Transition) ein. Chronische, nichtübertragbare Erkrankungen nahmen zu, die Sterblichkeit an Infektionskrankheiten ab. Damit wurden einerseits die Aufgabenfelder von Public Health um Aspekte der Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung sowie Sozial- und Umwelthygiene erweitert (Hurrelmann, Laaser & Razum, 2015). Andererseits rückten verstärkt salutogene, gesundheitsförderliche Maßnahmen in den Fokus (Razum & Kolip, 2020). Wie die Entwicklungen zur Corona-Pandemie und die damit verbundenen Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zeigen, sind New Public Health und Old Public Health nicht als Widersprüche zu verstehen. Vielmehr sind die Elemente beider Ansätze für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung von großer Bedeutung.

Zentrale Handlungsfelder und Aufgabengebiete

Bereits 1920 definierte Charles-Edward Winslow die zentralen Aufgabenfelder von Public Health (Winslow, 1920). Dazu gehörten die Eindämmung von Infektionskrankheiten durch den Einsatz präventiver und hygienebezogener Maßnahmen, Gesundheitserziehung, die Stärkung von Prävention und Früherkennung im Medizinsystem, die Einbindung von nichtmedizinischen Berufsgruppen in die Gesundheitsversorgung sowie der Abbau sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit. Durch die Erweiterung der Aufgabenfelder durch „New Public Health“ formulierte die WHO Europe (o. J.) die folgenden zehn wesentlichen Aufgaben für Public Health, die sogenannten Essential Public Health Operations (EPHO):

  1. Surveillance von Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung
  2. Beobachtung von Gesundheitsgefahren und gesundheitlichen Notlagen und Gegenmaßnahmen
  3. Gesundheitsschutzmaßnahmen (u. a. in den Bereichen Umwelt-, Arbeits- und Nahrungsmittelsicherheit)
  4. Gesundheitsförderung, einschließlich Maßnahmen in Bezug auf soziale Determinanten und gesundheitliche Maßnahmen
  5. Krankheitsprävention, einschließlich Früherkennung
  6. Gewährleistung von Politikgestaltung und Steuerung (Governance) für mehr Gesundheit und Wohlbefinden
  7. Gewährleistung einer ausreichenden Zahl von fachkundigem Personal im Bereich der öffentlichen Gesundheit
  8. Gewährleistung von nachhaltigen Organisationsstrukturen und Finanzierung
  9. Überzeugungsarbeit, Kommunikation und soziale Mobilisation für die Gesundheit
  10. Förderung der Forschung im Bereich der öffentlichen Gesundheit zwecks Anwendung in Politik und Praxis.

Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung von Public Health für die Bevölkerungsgesundheit stärker in den Fokus gerückt. Neben der Surveillance der nationalen und pandemischen Situation, der Einführung von Gesundheitsschutzmaßnahmen und dem flächendeckenden Testen (Müller, Neuhann & Razum, 2020) spielen auch die Politikberatung durch Expertinnen und Experten (Sell et al., 2021) sowie die Risikokommunikation (Loss et al., 2021) eine zentrale Rolle bei der Eindämmung der Pandemie. Zudem ist deutlich geworden, dass die Pandemie einem sozialen Gradienten folgt: Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status erkranken häufiger und schwerer an Covid-19 (Knöchelmann & Richter, 2021). Diese Erkenntnis führte dazu, dass Maßnahmen auf lokaler Ebene eingeführt wurden, etwa der Einsatz mobiler Impfteams in benachteiligten Stadtteilen.

Das Zukunftsforum Public Health (2021) attestiert Deutschland Defizite im Public Health-System, in dem bevölkerungsbezogene Maßnahmen – selbst in pandemischen Notlagen − nur schwer zu etablieren sind und durch fehlende Kooperationen zwischen Wissenschaft und Praxis vulnerable Bevölkerungsgruppen aus dem Blick geraten. Erforderlich ist eine bundesweite Public Health-Strategie, die unterschiedliche Akteurinnen und Akteure vereint. Ein erster wichtiger Schritt ist die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit finanziellen, personellen und strukturellen Mitteln durch den Pakt ÖGD der Bundesregierung im Jahr 2020 (BMG, 2020). Wichtig bleibt darüber hinaus die stärkere Vernetzung von Wissenschaft und Praxis (Dragano et al., 2016), um die Essential Public Health Operations (EPHO) umfassend umsetzen zu können.

Zukünftige Herausforderungen

Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit in einer globalisierten Welt (Globale Gesundheit/Global Health) ist und bleibt eine zentrale Herausforderung für die Gesundheitswissenschaften und Public Health. An der Corona-Pandemie lässt sich das Ineinandergreifen gesundheitswissenschaftlicher Teilaspekte paradigmatisch aufzeigen. Politische Entscheidungen und damit verbundene Grundrechtseingriffe, die das Leben der gesamten Bevölkerung über einen langen Zeitraum maßgeblich eingeschränkt haben, mussten zu Pandemiebeginn auf einer geringen Datengrundlage getroffen und im Pandemieverlauf angepasst werden. Es gab weder passende Medikamente noch standen Impfstoffe zur Verfügung. Auch die langfristigen Folgen der Pandemie – auf sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitlicher Ebene – sind nur schwer abzusehen. Dies hebt zum einen die Relevanz von interdisziplinärer Forschung hervor, zeigt aber auch die Bedeutung von Politikberatung durch Public Health-Expertinnen und -Experten sowie (Risiko-)Kommunikation mit der Bevölkerung.

Die EU hat die Notwendigkeit erkannt, gesundheitspolitische und bevölkerungsbezogene Maßnahmen zu etablieren. Zur Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren wurde das EU4-Health-Programm aufgelegt, das neben dem Krisenmanagement auch Maßnahmen zur Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung steigern, die Widerstandsfähigkeit und Ressourcen der Gesundheitssysteme stärken und eine Arzneimittelstrategie für Europa entwickeln soll (Europäische Kommission, 2022).

Durch die COVID-19-Pandemie wurden die sozialen Ungleichheitsverhältnisse in den einzelnen Ländern und auch im globalen Vergleich deutlich. Während in Deutschland im Oktober 2021 jede Bürgerin und jeder Bürger ein (kostenloses) Impfangebot erhalten hatte und zwei Drittel der Bevölkerung vollständig immunisiert waren, galt dies zu diesem Zeitpunkt z. B. im Chad oder im Südsudan für weniger als ein halbes Prozent der Bevölkerung (WHO, 2021).

In einer globalisierten Welt können internationale Organisationen, etwa die WHO, entscheidende Akteure bei einer Pandemiebekämpfung sein. Allerdings müssen dafür ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Die WHO finanziert sich nur zu einem geringen Teil durch die Beiträge ihrer Mitgliedsstaaten. Zu Hauptsponsoren haben sich Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Stiftung oder die GAVI-Alliance (Impfallianz WHO-UNICEF-Weltbank − Bill und Melinda Gates Stiftung) entwickelt. Dadurch können Stiftungen und Unternehmen gesundheitspolitische Entscheidungen maßgeblich mitgestalten, während globale demokratische Prozesse ausgehebelt werden (Razum & Kolip, 2020). Eine stärkere (finanzielle) Beteiligung aller Mitgliedsstaaten an der Grundfinanzierung der WHO könnte das Dilemma lösen.

Während der Corona-Pandemie wurden vermehrt gesellschaftliche Spaltungsprozesse offensichtlich (Kirsch, Kube & Zohlnhöfer, 2021). Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass einzelne Nationalstaaten an (wirtschaftlicher) Bedeutung verlieren, gleichzeitig aber durch das Erstarken des Rechtspopulismus als Identifikationsträger relevant werden. Dadurch kommt es – abseits der Corona-Pandemie, aber auch begünstigt durch sie – zum Ausschluss einzelner Bevölkerungsgruppen und einer Zunahme von diskriminierenden und rassistischen Handlungen (Razum & Kolip, 2020).

Neben Pandemien ist der Klimawandel eine weltweite Gefahr für die physische und psychische Gesundheit von Bevölkerungen. Dabei lassen sich gesellschaftspolitische Parallelen zwischen Klimawandel und Pandemien ziehen: Gut belegte ursächliche Zusammenhänge werden auch hier von einzelnen Gruppen angezweifelt und geleugnet. Gleichzeitig ist ein global koordiniertes gesundheitspolitisches Vorgehen unabdingbar, um die Folgen des Klimawandels anzugehen. Auch die Nord-Süd-Spaltung wird erneut ersichtlich: Die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Konsequenzen betreffen insbesondere die Länder des globalen Südens, die vergleichsweise wenig zum Klimawandel beigetragen haben und gleichzeitig über wenig Ressourcen verfügen, um die Folgen aufzufangen. Die Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Jahr 2021 und die damit verbundenen psychischen und physischen Folgen für die Bevölkerung zeigen die Bedeutung des Klimawandels auch für die Public Health-Praxis und -Forschung in technisierten und wohlhabenden Gesellschaften des globalen Nordens.

Literatur:

Acheson D. (1988). Public health in England. The report of the committee of inquiry into the future development of the public health function. London: HMSO.

Antonovsky, A. (1987). Unraveling the mystery of health: How people manage stress and stay well. San-Francisco: Jossey-Bass.

Barton, H. & Grant, M. (2006). A health map for the local human habitat. J R Soc Promot Health, 126(6), 252−253. Zugriff am 21.10.2021 unter www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17152313.

BMG − Bundesgesundheitsministerium (2020). Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst. Zugriff am 10.01.2022 unter www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/O/OEGD/Pakt_fuer_den_OEGD.pdf.

Dahlgren, G. & Whitehead, M. (1991). Policies and strategies to promote social equity in health. Background document to WHO-Strategy paper for Europe. Institute for Futures Studies, Arbeitsrapport, 14. Zugriff am 21.10.2021 unter https://core.ac.uk/download/pdf/6472456.pdf.

Diem, G. & Dorner, T. E. (2014). Public Health Ausbildung in Österreich. Ein Überblick. GOING International.

Dragano, N., Gerhardus, A., Kurth, B.-M., Kurth, T., Razum, O., Stang, A., Teichert, U., Wieler, L. H., Wildner, M. & Zeeb, H. (2016). Public Health – Mehr Gesundheit für alle. Ziele setzen – Strukturen schaffen – Gesundheit verbessern. Gesundheitswesen, 78, 686−688. doi: dx.doi.org 10.1055/s-0042-116192.

Europäische Kommission (2022). EU4Health 2021-2027 – eine Vision für eine gesündere Europäische Union. Zugriff am 10.01.22 unter https://ec.europa.eu/health/funding/eu4health_de

Hartmann, T., Baumgarten, K., Dadaczynski, K. & Stolze, N. (2015). Gesundheitswissenschaften/Public Health und Gesundheitsförderung in Deutschland. Entwicklung der Bachelor- und Masterstudiengänge. Prävention und Gesundheitsförderung, 3, 239−246. doi: https://doi.org/10.1007/s11553-015-0495-0.

Hurrelmann, K., Laaser, U. & Razum, O. (2015). Entwicklung und Perspektiven der Gesundheitswissenschaften in Deutschland. In K. Hurrelmann & O. Razum (Hrsg.). Handbuch Gesundheitswissenschaften (S. 15−54). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Kirsch, P., Kube, H. & Zohlnhöfer, R. (2021). Spaltung der Gesellschaft durch Misstrauen: Selbstermächtigung. Ruperto Carola Forschungsmagazin, 18, 63−68. doi: https://doi.org/10.17885/heiup.ruca.2021.18.24364.

Knöchelmann, A. & Richter, M. (2021). COVID-19 und soziale Ungleichheit. Public Health Forum, 29(1), S. 2−4. doi: https://doi.org/10.1515/pubhef-2020-0106.

Kolip, P. (2020). Gesundheitswissenschaften – Entwicklung und Vielfalt der Studiengänge. In: A. Gerhardus, P. Kolip, T. Munko, I. Schilling & K. Schlingmann (Hrsg.). Lehren und Lernen in den Gesundheitswissenschaften. Ein Praxisbuch (S. 15). Bern: Hogrefe.

Labisch, A. & Woelk, W. (2015). Geschichte der Gesundheitswissenschaften. In: K. Hurrelmann & O. Razum (Hrsg.). Handbuch Gesundheitswissenschaften (S. 55−98). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Lampert, T., Richter, M., Schneider, S. Spallek, J. & Dragano, N. (2016). Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Stand und Perspektiven der sozialepidemiologischen Forschung in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt − Gesundheitsforschung − Gesundheitsschutz, 59, 153−165. doi: https://doi.org10.1007/s00103-015-2275-6.

Loss, J., Boklage, E., Jordan, S., Jenny, M., Weishaar, H. & El Bcheraoui, C. (2021). Risikokommunikation bei der Eindämmung der Covid-19-Pandemie: Herausforderungen und Erfolg versprechende Ansätze. Bundesgesundheitsblatt − Gesundheitsforschung − Gesundheitsschutz, 64, 294−303. doi: https://doi.org/10.1007/s00103-021-03283-3.

Müller, O., Neuhann, F. & Razum, O. (2020). Epidemiologie und Kontrollmaßnahmen bei Covid-19. Dtsch Med Wochenschr, 145(10), 670−674. doi: https://doi.org/10.1055/a-1162-1987.

Razum, O. & Breckenkamp, J. (2007). Kindersterblichkeit und soziale Situation: Ein internationaler Vergleich. Deutsches Ärzteblatt, 104, 2950−2956.

Razum, O. & Kolip, P. (2020). Gesundheitswissenschaften: Eine Einführung. In O. Razum & P. Kolip (Hrsg.). Handbuch Gesundheitswissenschaften (S. 19−45). Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Razum, O., & Vazquez, M. L. (2017). Strengthening public health in Germany: Overcoming the Nazi legacy and Bismarck's aftermaths. Int J Public Health, 62(9), 559−560. doi:10.1007/s00038-017-1038-6.

Riedmann, K. (2000). Die historische Entwicklung der Gesundheitsberichterstattung in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 43, 594−599.

Sell, K., Saringer-Hamiti, L., Geffert, K., Strahwald, B., Stratil, J. M. & Pfadenhauer, L. M. (2021). Politikberatung durch Expert*innenräte in der SARS-Cov-2-Pandemie in Deutschland: Eine Dokumentenanalyse. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 165, 1−12. doi: https://doi.org/10.1016/j.zefq.2021.06.002.

Solar, O., & Irwin, A. (2010). A conceptual framework for action on the social determinants of health. Geneva: World Health Organization.

v. Troschke, J. (2001). Wer macht Public Health in Deutschland? Bundesgesundheitsblatt − Gesundheitsforschung − Gesundheitsschutz, 44, 763−770.

WHO (2021). WHO Coronavirus (COVID-19) Dashboard. Zugriff am 26.10.2021 unter https://covid19.who.int.

WHO Commission on Social Determinants on Health. (2008). Closing the gap in a generation: health equity through action on the social determinants of health. Commission on Social Determinants of Health final report. Geneva: World Health Organization.

WHO Europe (o. J.). The 10 Essential Public Health Operations. Zugriff am 21.10.2o21 unter www.euro.who.int/en/health-topics/Health-systems/public-health-services/policy/the-10-essential-public-health-operations.

WHO (1946/1948). Constitution of the World Health Organization. Zugriff am 21.10.2021 unter http://apps.who.int/gb/bd/PDF/bd47/EN/constitution-en.pdf?ua=1.

Winslow, C. E. A. (1920). The Untilled Fields of Public Health. Science, 51(1306), 23−33. doi: https://doi.org/10.1126/science.51.1306.23.

Zukunftsforum Public Health (2021). Eckpunkte einer Public Health-Strategie für Deutschland. Zugriff am 01.12.2021 unter. www.zukunftsforum-public-health.de/public-health-strategie.

Internetadressen:

Association of School of Public Health: www.aspph.org

Deutsche Gesellschaft für Public Health: www.dgph.info

European Public Health Association: www.eupha.org

Robert Koch-Institut: www.rki.de

Österreichische Gesellschaft für Public Health: www.oeph.at

Swiss School of Public Health: www.ssphplus.ch

World Federation of Public Health Associations: www.wfpha.org

Verweise:

Biomedizinische Perspektive, Determinanten der Gesundheit, Epidemiologie und Sozialepidemiologie, Gesundheit, Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Global Health / Globale Gesundheit, Krankheit, Prävention und Krankheitsprävention, Salutogenese, Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit, Wohlbefinden / Well-Being

Wir danken Peter Franzkowiak für die Vorfassung dieses Leitbegriffs.