Gesundheitsberatung

Winja Weber , Hanna Lütke Lanfer

(letzte Aktualisierung am 21.10.2024)

Zitierhinweis: Weber, W. Lütke Lanfer, H. (2024). Gesundheitsberatung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i027-2.0

Zusammenfassung

Gesundheitsberatung bezeichnet einen interaktiven Prozess zwischen einer professionell beratenden und mindestens einer ratsuchenden Person, der auf die individuelle Förderung von Gesundheit, Prävention von Krankheiten und deren Bewältigung abzielt. Gesundheitsberatung stellt die Lebensumstände der Ratsuchenden in den Fokus und geht über eine reine Informationsvermittlung hinaus, indem sie dabei unterstützt, das Empowerment der Ratsuchenden zu fördern. Sie kann durch verschiedene Berufsgruppen und über verschiedene Kanäle angeboten werden, wobei je nach Medium unterschiedliche Anforderungen und Zugangsmöglichkeiten bestehen. Eine zielgruppenspezifische Anpassung (Tailoring) der Beratungsinhalte und -angebote ist entscheidend, um Zugangsbarrieren für vulnerable Zielgruppen zu senken, gesundheitliche Gerechtigkeit zu fördern und auf die individuellen Bedürfnisse der Ratsuchenden einzugehen.

Schlagworte

Gesundheitsberatung, Empowerment, Gesundheitsförderung, Tailoring, Vulnerable Zielgruppen


Gesundheitsberatung meint eine professionelle Beratung zu spezifischen Gesundheitsfragen und -problemen von einer beratenden für mindestens eine ratsuchende Person. Sie ist somit durch einen zwischenmenschlichen Prozess (Interaktion) sowie eine reziproke Kommunikation gekennzeichnet. Hauptziel der Gesundheitsberatung ist es, Individuen darin zu unterstützen, die eigene Gesundheit zu fördern, Krankheiten zu verhindern und/oder eine Krankheit zu bewältigen (Faltermeier 2004).

Auch wenn Wissen als eine Basis gilt, um Veränderungsprozesse anstoßen zu können, geht die Gesundheitsberatung über reine Informationsvermittlung und Aufklärung hinaus. Sie ist problem- und personenorientiert ausgerichtet und berücksichtigt die Lebenswelten der Ratsuchenden, ihre individuellen Gesundheitsrisiken und -vorstellungen sowie ihre gesundheitsförderlichen Möglichkeiten. Die Ratsuchenden sollen dazu befähigt werden, persönliche Kompetenzen zu entwickeln, um mehr Einfluss auf ihre Gesundheit und Lebenswelt ausüben und mit Veränderungen in verschiedenen Lebensphasen oder mit psychischen und physischen Belastungen und Erkrankungen umgehen zu können. Indem sie darin unterstützt werden, ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu erlangen (Empowerment), werden sie auch darin befähigt, Angebote des Versorgungssystems optimal für sich zu nutzen und sich aktiv zu beteiligen (Partizipation).

Insgesamt hat die Gesundheitsberatung somit ein breites Aufgabenspektrum und vielfältige Funktionen, unter anderem

  • komplexe Expertise für Laien zugänglich zu machen und hierdurch eine Informationsasymmetrie zu verringern,
  • Orientierung in der komplexen und fragmentierten Versorgungslandschaft zu geben,
  • Klarheit über Gesundheitsprobleme und Bewältigungsmöglichkeiten zu schaffen,
  • Gesundheitsressourcen zur Bewältigung gesundheitlicher Probleme zu stärken sowie
  • das Empowerment zu fördern und so eine stärkere Partizipation der Individuen zu ermöglichen.

Hierdurch kann die Gesundheitsberatung grundsätzlich einen Beitrag zur Verringerung sozial bedingter ungleicher Gesundheitschancen leisten (Domsch & Lohaus 2009; Reifegerste & Ort 2024; Schmidt-Kaehler 2005).

Zielgruppenansprache: Tailoring

Die Nutzenden von Gesundheitsberatung sind sehr vielfältig und unterscheiden sich in ihren Bedürfnissen, Biografien und gesundheitlichen Herausforderungen. Um die Wirksamkeit der Beratung zu erhöhen, ist daher eine zielgruppenspezifische Anpassung unerlässlich. Tailoring (sinngemäß „maßgeschneidert“) bezeichnet die gezielte Anpassung von Gesundheitsinformationen in der Gesundheitsberatung an die individuellen Merkmale, Bedürfnisse und Lebensumstände einer bestimmten Person oder Zielgruppe. Im Gegensatz zu allgemein gefassten Gesundheitsinformationen, die oft hohe Streuverluste oder nicht intendierte Wirkungen erzielen, zielt Tailoring darauf ab, die Relevanz und Wirksamkeit der Informationen durch Personalisierung zu verbessern (Lütke Lanfer & Rossmann 2021; Noar et al. 2009).

Um diese Aufgaben zu erfüllen, ist ein hohes Maß an Kenntnissen und Fähigkeiten durch die Beratenden notwendig. Dies erfordert neben spezifischem Fachwissen auch ein theoretisches Wissen zu relevanten Theorien und Modellen (Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung) aus den Gesundheitswissenschaften und der Gesundheitspsychologie, um Gesundheit und Gesundheitsverhalten sowie dessen Determinanten verstehen und in einer Beratung adressieren zu können (z. B. Risikofaktorenmodell, Stress und Stressbewältigung, Health Belief Model, Transtheoretisches Modell in Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung) (Domsch & Lohaus 2009; Faltermeier 2004; Schmidt-Kaehler 2005).

Auch sind Kenntnisse über subjektive Krankheitstheorien notwendig, um individuelle Vorstellungen und Wahrnehmungen in die Beratung einzubeziehen. Zudem sind Fähigkeiten wie Techniken der Gesprächsführung, kommunikative und soziale Kompetenzen (z. B. zum angemessenen Umgang mit Emotionen) für eine erfolgreiche Beratung relevant (Domsch & Lohaus 2009; Schmidt-Kaehler 2005).

Abgrenzung zu verwandten Konzepten

Gesundheitsberatung mit dem Ziel, persönliche Kompetenzen zu fördern und somit die selbstbestimmte und aktive Gestaltung der Gesundheit zu unterstützen, ist eine Maßnahme im Sinne der Gesundheitsförderung (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen). Auch verwandte Konzepte und Ansätze wie die Gesundheitsbildung, -erziehung und -aufklärung sowie die Patientenberatung verfolgen ähnliche Ziele. Allerdings lassen sich die Begriffe durch bestimmte Merkmale von der Gesundheitsberatung abgrenzen.

Während die Gesundheitsberatung eine aktive Rolle der Ratsuchenden, einen zwischenmenschlichen Prozess und eine subjektorientierte Ausrichtung voraussetzt, findet bei der gesundheitlichen Aufklärung und Gesundheitserziehung eine meist einseitige und häufig massenmediale Vermittlung von Gesundheitsinformationen an verschiedene Individuen statt (z. B. durch Gesundheitskampagnen).

Gesundheitsberatung meint zudem eine zeitlich befristete Intervention, die sich auf ein konkretes Problem und die Vermittlung von entsprechend benötigten Kompetenzen bezieht. Hierdurch grenzt sie sich von Ansätzen wie der gesundheitlichen Aufklärung und Gesundheitserziehung sowie Gesundheitsbildung ab, die als langfristig organisierte Bildungs- und Lernprozesse in einem häufig pädagogischen Kontext auf die allgemeine Förderung von Kompetenzen wie eine ausgeprägte Gesundheitskompetenz abzielen. Während die Gesundheitserziehung dabei vor allem auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet ist (z. B. in Schulen, Kindertagesstätten), richtet sich die Gesundheitsbildung insbesondere an Erwachsende (z. B. in Volkshochschulen) – im Englischen werden beide Ansätze meist synonym unter den Begriff Health Education gefasst.

Die Gesundheitsberatung grenzt sich außerdem von der Patientenberatung/Patientenedukation ab, die länger angelegte, krankheitsbegleitende Interventionsstrategien umfasst und das Ziel hat, die Selbststeuerungsfähigkeit und das Selbstmanagement von Patientinnen und Patienten zu verbessern. Während die Patientenberatung/Patientenedukation somit ausschließlich auf erkrankte Personen zugeschnitten ist, richtet sich die Gesundheitsberatung auch an gesunde Menschen.

Gesundheitsberatung als Beruf: Interdisziplinär und kontextabhängig

Lange Zeit wurde die Gesundheitsberatung vor allem als Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten angesehen. Eine ärztliche Gesundheitsberatung wurde 1989 (Gesundheitsreformgesetz, GRG) auch gesetzlich verankert und als integraler Bestandteil der kassen- bzw. vertragsärztlichen Versorgung festgelegt (§25 und §26 SGB V). Die Gesundheitsberatung umfasst alters-, geschlechter- und zielgruppengerechte ärztliche Gesundheitsuntersuchungen zur Erfassung und Bewertung gesundheitlicher Risiken und Belastungen, zur Früherkennung von Krankheiten und eine darauf abgestimmte präventionsorientierte Beratung.

Mit dem 2015 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) wurde die Möglichkeit geschaffen, dass Ärztinnen und Ärzte im Rahmen der Gesundheitsuntersuchungen (gemäß §25 und §26 SGB V) sowie im Rahmen einer arbeitsmedizinischen Vorsorge oder sonstigen Untersuchung (§20 Abs. 5 Satz 2 SGB V) auch schriftliche Empfehlungen für individuelle verhaltensbezogene Leistungen zur Primärprävention ausstellen können.

Mangelnde zeitliche Ressourcen und Beratungsanliegen über medizinische Fragen hinaus haben dazu geführt, dass Gesundheitsberatung ein zunehmend heterogenes Praxisfeld ist, in dem Fachleute aus verschiedenen Professionen tätig sind. Dazu gehören neben Ärztinnen und Ärzten auch Psychologinnen und Psychologen, Apothekerinnen und Apotheker, Hebammen, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten sowie Pflegekräfte. Ebenso sind Angehörige anderer Fachgebiete wie (Sozial-)Pädagoginnen und Pädagogen, Ökotrophologinnen und Ökotrophologen, Sozialarbeitende oder Sportwissenschaftlerinnen und Sportwissenschaftler in der Gesundheitsberatung tätig.

Demnach kann Gesundheitsberatung in verschiedenen Settings stattfinden: Neben Kliniken und Praxen wird sie auch in (staatlichen und öffentlichen) Gesundheitseinrichtungen wie Gesundheitsämtern, von gesetzlichen Krankenkassen oder von freien sozialen Trägern wie Wohlfahrtsverbänden oder Selbsthilfeorganisationen (Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung) angeboten.

Dabei behandelt die Gesundheitsberatung nicht nur medizinische und biologisch orientierte Themen, sondern beispielsweise auch psychologische, soziale, sozialrechtliche und pflegerische Fragestellungen. Generell kann die Gesundheitsberatung breit aufgestellt bzw. thematisch breit gefächert sein. In der Praxis ist sie allerdings häufig spezialisiert und auf bestimmte Themen zugeschnitten: z. B. auf Sucht-, HIV/AIDS-, Krebs- oder Ernährungsberatung (etwa in Gesundheitsämtern). Aufgrund der Vielzahl an Anforderungen an eine umfassende Gesundheitsberatung sind häufig die interdisziplinäre Zusammenarbeit, ein funktionierender Informationsaustausch und eine enge Abstimmung erforderlich. Die Gesundheitsberatung stellt dabei für viele Gesundheitsberufe eine der zentralen Aufgaben dar (z. B. für Pflegepersonal), andere beraten innerhalb ihres sonstigen Aufgabenbereichs auch in Fragen der Gesundheit (z. B. Sozialarbeitende; Reifegerste & Ort 2024).

Durch das zunehmende Interesse an Gesundheitsthemen wächst das Berufsfeld weiter an. So sind neue Berufsbezeichnungen wie „Gesundheitscoach“ entstanden. Dabei ist dies keine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung: „Gesundheitscoaches“ werden auch nicht staatlich geprüft. Zwar gibt es Institutionen, die zertifizierte Weiterbildungen anbieten, die für eine solche Tätigkeit allerdings nicht verpflichtend sind. Auch die Qualität unterscheidet sich stark, selbst bei zertifizierten Beraterinnen und Beratern. Dabei ist das kaum überschaubare Angebot im Hinblick auf die Seriosität sehr heterogen und teilweise mit fehlender finanzieller Unabhängigkeit verbunden. Wenn die Behandlung manifester Krankheitsbilder durch Gesundheitscoaches Gegenstand einer eigenverantwortlichen und weisungsfreien Tätigkeit ist, so wird möglicherweise die Grenze zur Heilkunde überschritten, die dem Gesetz nach approbierten Ärztinnen und Ärzten sowie Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern vorbehalten ist (Stock 2021). Auch der Datenschutz und der Umgang mit sensiblen Daten angesichts der Vielzahl von Gesundheitsberatungsangeboten bleibt ein grundsätzliches Problem, das zu berücksichtigen ist und ggf. weitergehender rechtlicher Regelungen bedarf (Schmidt-Kaehler 2005).

Kanalabhängige Gesundheitsberatung

Gesundheitsberatung kann sowohl Face-to-Face als auch medienvermittelt per Telefon, E-Mail oder Onlineanwendungen erfolgen. Über welche Kommunikationswege eine Gesundheitsberatung in Anspruch genommen wird, hängt von verschiedenen Faktoren wie den individuellen Medienpräferenzen, dem Beratungsthema, den verschiedenen Charakteristika der Vermittlungsformen und deren Vor- und Nachteilen ab (Schmidt-Kaehler 2005; Reifegerste & Ort 2024).

Zunächst sind die verschiedenen Vermittlungsformen durch verschiedene Zugangsbarrieren und Kompetenzen charakterisiert. Demnach erfordert der persönliche Kontakt die räumliche Anwesenheit beider Gesprächsparteien, wobei nicht alle diese Möglichkeit haben (wegen körperlicher Einschränkungen, Berufstätigkeit, weiter Wege in ländlichen Regionen etc.). Die Anwesenheit aller am Gespräch beteiligten Personen kann durch eine medienvermittelte, raumunabhängige Kommunikation umgangen werden. Dafür sind jedoch erweiterte Kompetenzen notwendig, insbesondere bei digitalen Angeboten. Medienvermittelte Kommunikation wird eher von jüngeren Zielgruppen in Anspruch genommen, während Ältere eher das persönliche Gespräch suchen.

Bei schriftlichen Kommunikationsformen wie Brief, E-Mail oder Live-Chat kann das Thematisierte zwar schriftlich fixiert und im Nachgang gelesen und bearbeitet werden, es fehlen hier aber die Möglichkeiten (non)verbaler Kommunikation. Je nach Thema ist es für Personen unter Umständen einfacher, Gefühle oder Ängste (z. B. am Telefon) verbal auszudrücken und zu verstehen, als sie zu verschriftlichen. Durch die Wahrnehmung nonverbaler Signale (z. B. in einem persönlichen Gespräch oder bei der Videotelefonie) kann besser nachvollzogen werden, ob Besprochenes (richtig) verstanden wurde.

Die verschiedenen Vermittlungsformen unterscheiden sich zudem danach, ob sie synchron oder asynchron stattfinden. Während eine asynchrone Kommunikation z. B. per E-Mail durch die Zeitverzögerung eine höhere Flexibilität hat (da die zeitgleiche Anwesenheit beider Parteien nicht notwendig ist), eignen sich synchrone Kommunikationsformen wie das persönliche Gespräch, ein Telefonat oder ein Live-Chat eher, wenn Ratsuchende ein dringendes Anliegen haben.    

In einigen Settings kann während der Gesundheitsberatung die Anonymität der Anfragenden gewährleistet werden (z. B. per Telefon oder Live-Chat), in anderen Vermittlungsformen wie dem persönlichen Gespräch sind sich die Gesprächspartner dagegen bekannt. Ob Anonymität gewünscht wird, kann sowohl von der Beziehung der beiden Parteien als auch vom Thema abhängen. Besonders bei intimen oder tabubesetzten und potenziell stigmatisierenden Themen wünschen sich viele Ratsuchende, anonym zu bleiben. Auch die Komplexität eines Themas kann darüber bestimmen, über welchen Kanal eine Person eine Beratung in Anspruch nimmt. Insbesondere bei komplexen Themen (z. B. eine genetische Krebsberatung) eignen sich Kanäle, die er erlauben, Inhalte zu verbalisieren, möglicherweise eher als solche, die nur eine eingeschränkte Tiefe ermöglichen (z. B. Live-Chat).

Auch wenn eine Gesundheitsberatung häufig als persönliches Gespräch stattfindet (bei einem Arzt oder einer Ärztin, in Gesundheitseinrichtungen etc.) nimmt die digitale Gesundheitsberatung eine zunehmend größere Rolle ein. Die Kombination unterschiedlicher Dienste und Kommunikationswege ermöglicht die Integration von Individual- (z. B. über E-Mails oder Apps) und Gruppenkommunikation (z. B. über Chats). Sie stellt somit eine sinnvolle Ergänzung der Face-to-Face-Beratung dar.

Gesundheitsberatung für vulnerable Zielgruppen

Der Begriff „vulnerable Zielgruppen“ ist in der Gesundheitsförderung und -beratung allgegenwärtig; dennoch ist seine Definition und Verwendung umstritten. Häufig werden darunter Bevölkerungsgruppen subsumiert, die aufgrund bestimmter Merkmale wie Alter, sozialer Benachteiligung, Migrationshintergrund, chronischer Erkrankungen oder Behinderungen einem erhöhten Risiko gesundheitlicher Beeinträchtigungen ausgesetzt sind oder weniger als andere Bevölkerungsgruppen gesundheitsrelevante Angebote wahrnehmen (Inthorn 2022; Pawils 2021).

Dabei ist Vulnerabilität ein extern zugeschriebenes und kein inhärentes Merkmal einer Person oder Gruppe. Vielmehr entsteht sie durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren: Soziale Ungleichheit, Diskriminierung, eingeschränkter Zugang zu (gesundheitlichen) Ressourcen und fehlende Teilhabemöglichkeiten können dazu beitragen, dass Menschen vulnerabel für gesundheitliche Probleme werden. Auch Sprachbarrieren und negative Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem können den Zugang zu Gesundheitsinformationen und -beratung erschweren. Vulnerabilität steht daher im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normen und Strukturen, die durch systemische Exklusionsmechanismen bestimmte Bevölkerungsgruppen benachteiligen und somit gesundheitliche Ungleichheiten verstärken (Gingrich 2011).

Obgleich die Wahrnehmung von Vulnerabilität essentiell ist, um Zugangsschwierigkeiten zu gesundheitlichen Strukturen bestimmter Gruppen zu identifizieren und anzugehen, sollte diese Form der Fokussierung nicht die bestehenden Ressourcen und Bewältigungsstrategien der Betroffenen vernachlässigen. In der Gesundheitsberatung sollte eine ganzheitliche Betrachtungsweise angestrebt werden, die auch die strukturellen Faktoren und die Gründe für Vulnerabilität und Ungleichheit in den Blick nimmt (Habermann-Horstmeier & Lippke 2021; Inthorn 2022).

Gesundheitsberatung für vulnerable Zielgruppen erfordert eine präzise Ausrichtung auf Zugangsbarrieren, die diese Gruppen daran hindern, von gesundheitsrelevanten Informationen und Angeboten zu profitieren. Eine Möglichkeit, Zugänge zu verbessern, ist der sogenannte Sozialarbeiteransatz. Hierbei sucht Gesundheitspersonal Personen mit bekannten Zugangsbarrieren in ihrer Lebenswelt auf. Oder es werden niedrigschwellige Angebote in Stadtvierteln etabliert, etwa Gesundheitskioske. Eine weitere bewährte Strategie ist der Einsatz von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus bestimmten Zielgruppen, um gesundheitsrelevante Angebote und Beratungen bekanntzumachen und das Vertrauen in diese zu stärken (Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren).

Im Kontext von gesundheitlicher Beratung gilt es, die Bedarfe vulnerabler Zielgruppen zu berücksichtigen und Kommunikationsbarrieren durch den Einsatz von Sprachmittlerinnen oder -mittler, weiterer (technischer) Hilfsmittel zur Kommunikation oder die Verwendung Leichter Sprache zu reduzieren. Tailoring sollte den zielgruppenspezifischen Ansatz begleiten und zur Förderung von Beteiligung in Gesundheitsberatungen beitragen (Homfeldt 2002; Reifegerste et al. 2023).

Literatur:

Domsch, H. & Lohaus, A. (2009). Gesundheitsberatung. In: P. Warschburger (Hrsg.). Beratungspsychologie (S. 153–170). Berlin, Heidelberg: Springer.

Faltermaier, T. (2004). Gesundheitsberatung. In: F. Nestmann, F. Engel & U. Sickendiek (Hrsg.). Das Handbuch der Beratung, Band 2: Ansätze, Methoden und Felder (S. 1.063–1.081). Tübingen: dgvt-Verlag.

Gingrich, A. (2011). Othering. In: F. Kreff, E.-M. Knoll & A. Gingrich (Hrsg.). Lexikon der Globalisierung (S. 323–324). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/transcript.9783839418222.323.

Habermann-Horstmeier, L. & Lippke, S. (2021). Grundlagen, Strategien und Ansätze der Gesundheitsförderung. In: M. Tiemann & M. Mohokum (Hrsg.). Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. Prävention und Gesundheitsförderung (S. 65–75). Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62426-5_7.

Homfeldt, H. G. (2002). Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und in der Gesundheitsförderung. In: W. Thole (Hrsg.). Grundriss Soziale Arbeit (S. 317–330). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91357-9_16.

Inthorn, J. (2022). „Vulnerable Gruppen“ und ihre Bedeutung für die ethische Begründung gesundheitsbezogener Maßnahmen. Public Health Forum, 30(1), S. 12–14. https://doi.org/10.1515/pubhef-2021-0122.

Lütke Lanfer, H. & Rossmann, C. (2021). Grundlagen der Gesundheitskommunikation in der Prävention und Gesundheitsförderung. In: M. Tiemann & M. Mohokum (Hrsg.). Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. Prävention und Gesundheitsförderung (S. 239–249). Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62426-5_12.

Noar, S. M., Harrington, N. G. & Aldrich, R. S. (2009). The Role of Message Tailoring in the Development of Persuasive Health Communication Messages. Annals of the International Communication Association, 33(1), pp. 73–133. https://doi.org/10.1080/23808985.2009.11679085.

Pawils, S. (2021). Prävention und Gesundheitsförderung für vulnerable Zielgruppen. In: M. Tiemann & M. Mohokum (Hrsg.). Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. Prävention und Gesundheitsförderung (S. 393–397). Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62426-5_88.

Reifegerste, D. & Ort, A. (2024). Gesundheitskommunikation (2. Auflage). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. https://doi.org/10.5771/9783845281827.

Reifegerste, D., Stehr, P., Ermel, L., Rossmann, C., Lindemann, A.-K. & Schulze, A. (2023). Multiperspektivität im Multiplikatorenansatz. Prävention und Gesundheitsförderung, 18(3), S. 405–412. https://doi.org/10.1007/s11553-022-00978-6.

Schmidt-Kaehler, S. (2005). Gesundheitsberatung im Internet: Nutzwert, Evaluation und Positionierung internetgestützter Informations- und Beratungsleistungen für Bürger, Versicherte und Patienten in der gesundheitlichen Versorgung (Dissertation). Universität Bielefeld. Zugriff am 23.09.2024 unter pub.uni-bielefeld.de/record/2304060.

Stock, C. (2021). Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht. Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. Zugriff am 24.09.2024 unter www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Berichte/Stock_Gutachten_Heilpraktikerrecht_bf.pdf.

Verweise:

Empowerment/Befähigung, Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung, Gesundheitliche Aufklärung und Gesundheitserziehung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Patientenberatung/Patientenedukation, Präventionsgesetz, Risikofaktoren und Risikofaktorenmodell, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Stress und Stressbewältigung, Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren

Die Autorinnen danken Elisabeth Krane und Susanne Linden für ihre Vorarbeiten zu diesem Leitbegriff in den bisherigen Auflagen.