Gesundheitsförderung und Arbeitslosigkeit

Alfons Hollederer

(letzte Aktualisierung am 22.07.2021)

Zitierhinweis: Hollederer, A. (2021). Gesundheitsförderung und Arbeitslosigkeit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i149-2.0

Zusammenfassung

Arbeitslosigkeit und Gesundheit beeinflussen sich wechselseitig. Die Gesundheitsunterschiede zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten weisen auf einen Präventionsbedarf hin. Neue Kooperationsformen zwischen Arbeitsförderung und Gesundheitsförderung können den Zugang zu Arbeitslosen verbessern. Die Studienlage zur arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung zeigt eine moderate Evidenz bei der Verbesserung der Gesundheit und Arbeitsmarktintegration.

Schlagworte

Gesundheitsförderung, Prävention, Behinderung, Arbeitslosigkeit, Arbeitsförderung


Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit

Die Corona-Pandemie führte als weltweite Gesundheitskrise auch zu starken Verwerfungen an den Arbeitsmärkten und zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit (www.oecd.org/sdd/labour-stats; International Labour Organization, 2021). In Deutschland hat diese Entwicklung am Arbeitsmarkt die vorher schon hohe Langzeitarbeitslosigkeit strukturell weiter verfestigt. Sie dürfte auch in den kommenden Jahren nur schwer abzubauen sein.

Im Mai 2021 registrierte die Bundesagentur für Arbeit (2021b) über eine Million Langzeitarbeitslose (mindestens ein Jahr arbeitslos) unter den mehr als 2,6 Millionen arbeitslos gemeldeten Menschen. Das bedeutete eine massive Zunahme von Langzeitarbeitslosen um 37 % im Vergleich zum Vorjahr. Die Arbeitslosenstatistik offenbarte außerdem für diesen Zeitraum, dass die Risiken, arbeitslos zu werden oder zu bleiben, nicht gleich verteilt waren. Bestimmte Gruppen waren am Arbeitsmarkt besonders schwer von Arbeitslosigkeit betroffen, darunter vor allem Ältere über 55 Jahre, formal Geringqualifizierte oder Arbeitslose mit einer Schwerbehinderung (Bundesagentur für Arbeit, 2021b).

Arbeitslose wurden aber nicht nur wirtschaftlich von der Corona-Pandemie in Mitleidenschaft gezogen, sondern wiesen auch hinsichtlich der Infektionsgefährdung durch das Coronavirus SARS-CoV-2 und der Schwere bei Covid-19-Erkrankung eine erhöhte Vulnerabilität auf. Nach der Studienlage hatten Langzeitarbeitslose im Vergleich zu Beschäftigten ein rund doppelt so hohes Risiko, wegen einer COVID-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden zu müssen (Wahrendorf u. a., 2021). Dieses Ergebnis war zu erwarten, da Gefährdungen durch Infektionskrankheiten mit Vorerkrankungen sowie mit Ressourcen und Belastungen der betroffenen Personen einhergehen (zum Beispiel mit schlechten Wohnverhältnissen).
Die Corona-Pandemie hat exemplarisch aufgezeigt, wie sich soziale Lage und Gesundheitszustände wechselseitig bedingen und Krisenzeiten die gesundheitliche Ungleichheit verstärken (Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit). Eine gesellschaftliche Stigmatisierung der Arbeitslosen und die Individualisierung der Strukturprobleme blieben in dieser Krise ausnahmsweise wegen der klaren Ursachenzuschreibung aus.

 

Zielgruppe arbeitslose Menschen

Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung (siehe unten) setzt bei der Zielgruppe (Zielgruppen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren) der Arbeitslosen an. Der Arbeitslosenstatus ist in Deutschland durch § 16 SGB III definiert (www.gesetze-im-internet.de/sgb_3/__16.html) und hat die Erwerbsfähigkeit, fehlendes Beschäftigungsverhältnis, aktive Arbeitsuche und Mitwirkung bei Unterstützungsmaßnahmen als Voraussetzung. Im Gegensatz zu den Leistungen der Arbeitslosenversicherung ist der Empfang von Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“) zusätzlich mit einer definierten Hilfebedürftigkeit verbunden (www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/__7.html).

In diesem Zusammenhang rücken auch die Angehörigen von Arbeitslosen im gemeinsamen Haushalt („Bedarfsgemeinschaft“) wegen Unterhaltspflichten und als mittelbar von Arbeitslosigkeit Betroffene in den Blick. So lebten im Dezember 2020 in SGB II-Bedarfsgemeinschaften über 1,8 Millionen Kinder unter 18 Jahren (Bundesagentur für Arbeit, 2021a). Das bedeutet, dass in Deutschland zu diesem Zeitpunkt eines von acht Kindern unter 18 Jahren im SGB II-Leistungsbezug stand. Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen kann daher auch familiensystemisch angelegt und begründet werden.

Der Arbeitslosenbestand setzt sich aus heterogenen Personengruppen zusammen, variiert regional stark mit unterschiedlichen Arbeitsmärkten und hat sich über die Zeit sehr verändert. Die Struktur der Arbeitslosigkeit ist insofern auch für die Gesundheitsförderung von Interesse, um spezifische Angebote für besondere Lebenslagen entwickeln zu können, z. B. für Alleinerziehende, Arbeitslose mit Migrations- und Fluchthintergrund, Jüngere nach Schul- oder Ausbildungsabbruch, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen.

Arbeitslosigkeit ist in Deutschland einer der Hauptrisikofaktoren für Armut. Nach dem 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (BMAS, 2021) sind fast drei Viertel der Arbeitslosen „armutsgefährdet“ (mit einem Nettoäquivalenz-Einkommen unter 60 % des Einkommensmedians). Knapp ein Viertel der Arbeitslosen gilt als „materiell depriviert“, weil sich die betroffenen Menschen bestimmte Konsumgüter des durchschnittlichen Lebensstandards nicht leisten können (Datenbasis EU-SILC Survey des Europäischen Statistikamts).

Über das Arbeitslosenmerkmal könnten sozial Benachteiligte in der Gesundheitsförderung und Präventionsberichterstattung relativ einfach identifiziert und die Zielgruppenerreichung überprüft werden (Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung/Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit).

 

Gesundheitsunterschiede und Präventionspotenzial

Der Gesundheitszustand von Arbeitslosen ist signifikant schlechter im Vergleich zu Beschäftigten im Durchschnitt. Das bestätigen für Deutschland die Gesundheitssurveys (Kroll u. a., 2016) und verschiedene repräsentative Erhebungen (Hollederer & Voigtländer, 2016; Hollederer & Wildner, 2019). Arbeitslose nehmen deshalb auch die Gesundheitsversorgung in stärkerem Maße in Anspruch als Beschäftigte. Laut Mikrozensus 2017 gaben 8,9 % der Erwerbstätigen unter 65 Jahren an, dass sie in den letzten vier Wochen wegen einer Krankheit oder Unfallverletzung in einer Arztpraxis bzw. im Krankenhaus behandelt wurden. Unter den Erwerbslosen und arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen war der entsprechende Anteil mit ärztlicher ambulanter oder stationärer Behandlung mit 12,3 % deutlich höher (eigene Berechnung auf Datenbasis Statistisches Bundesamt, 2018b). Auch die Krankenhausstatistik der BKK (BKK Dachverband, 2020) ergab für das Jahr 2019, dass Arbeitslose gegenüber pflichtversicherten Beschäftigten mehr als doppelt so viele Krankenhausfälle aufwiesen. Dabei war besonders auffällig, dass mehr als die Hälfte der Behandlungstage bei Arbeitslosen auf die Krankheitsgruppe der psychischen Störungen zurückging.

Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten zeigen sich nicht nur beim Gesundheitszustand und in der Gesundheitsversorgung, sondern auch beim Gesundheitsverhalten (Stress und Stressbewältigung). Ein markantes Beispiel ist das Tabakkonsumverhalten. Nach dem Mikrozensus 2017 rauchten 27,4 % der Erwerbstätigen unter 65 Jahren zum Befragungszeitpunkt, während der Raucheranteil bei den Erwerbslosen und arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen mit 38,4 % deutlich höher lag (eigene Berechnung auf Datenbasis Statistisches Bundesamt, 2018c). Einen Hauptgrund für diese Differenz liefert ebenfalls der Mikrozensus: unter den Erwerbstätigen gab es erheblich mehr ehemalige Raucher als unter den Erwerbslosen und arbeitsuchende Nichterwerbspersonen (18,4 % versus 11,6 %). Diese Ergebnisse deuten nicht nur auf einen hohen Bedarf bei arbeitslosen Menschen für eine primärpräventive Nichtraucherförderung, sondern auch auf bessere sekundärpräventive Tabakentwöhnungs- und Unterstützungsangebote für rauchende Arbeitslose hin. Der Mikrozensus 2017 stellte bei Erwerbslosen außerdem deutlich höhere Adipositas-Prävalenzraten im Verhältnis zu den Erwerbstätigen fest (Statistisches Bundesamt, 2018a), woraus sich ein weiterer Bedarf nach Angeboten zur Bewegungsförderung und gesunden Ernährung ableiten lässt.

Angesichts des skizzierten Präventionsbedarfs und der hohen Krankheitskosten (z. B. für Krankenhausaufenthalte) erscheinen die Investitionen für Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen relativ gering. Nach wie vor werden Arbeitslose von der Prävention und Gesundheitsförderung wenig erreicht.

 

Selektion und Kausation

Den zu beobachtenden Gesundheitsunterschieden zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten können verschiedene Ursachen zugrunde liegen. Eine zentrale Frage ist die nach Selektion und Kausation. Selektionseffekte entstehen im Zugang in Arbeitslosigkeit, wenn Beschäftigten beispielsweise wegen einer Langzeiterkrankung vom Arbeitgeber gekündigt wird. Marktmechanismen können auf den Ausgang von Arbeitslosigkeit wirken, wenn Arbeitslose mit vermittlungsrelevanten gesundheitlichen Einschränkungen schlechtere Wiederbeschäftigungschancen haben. Im Gegensatz dazu geht die Kausationshypothese davon aus, dass die Arbeitslosigkeit selbst die Gesundheitsbelastungen verursacht. Dafür gibt es mehrere Theorien.

Ein Vermittlungsweg könnten die bereits beschriebenen Verarmungsprozesse sein, die die Arbeitslosen in ihren Handlungen und finanziellen Möglichkeiten eng begrenzen (Fryer, 1986). Ein theoretischer Erklärungsansatz von Jahoda (1983) führt die psychische Deprivation auf den Wegfall der latenten Funktionen des Arbeitsplatzes wie der Zeitstruktur, Sinnhaftigkeit oder Identität zurück. In der Arbeitslosenforschung wurde eine Reihe von weiteren Theorien zu den negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit diskutiert, denen Stress- und Copingmodelle, Identitätstheorien, Stigma-Konzepte oder Exklusionsmodelle zugrunde liegen. Für die Kausationshypothese spricht, dass Gesundheitsverbesserungen bei der Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen im Vergleich zu arbeitslos gebliebenen Menschen beobachtet wurden (Paul & Moser, 2009). Die Selektions- und die Kausationshypothese schließen sich nicht prinzipiell gegenseitig aus, sondern können parallel bestehen. Gesundheit ist auch eine Voraussetzung für die Arbeitsfähigkeit, die zugleich bei Arbeitslosigkeit für Bewerbungen, Vorstellungsgespräche und Bewältigung etwa von Erfahrungen des Scheiterns elementar ist.

Gesundheitsförderung kann bei Arbeitslosigkeit (nur) an den moderierenden Faktoren ansetzen, d. h., ihre negativen Gesundheitsfolgen abpuffern oder die Ressourcen stärken (Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung/Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit). Sie kann nicht die strukturellen Ursachen von Arbeitslosigkeit beseitigen. Arbeitslose brauchen Job-Chancen, möglichst vor Eintritt in die Langzeitarbeitslosigkeit und gegebenenfalls im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik auch am zweiten Arbeitsmarkt (Determinanten von Gesundheit; Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik/Healthy Public Policy).

 

Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung

Die arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung geht in der Zielsetzung bei Arbeitslosen über die Krankheitsverhütung und Stärkung von Gesundheitsressourcen insofern hinaus, dass sie auch den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit anstrebt. Sie zielt daher sowohl auf Gesundheitseffekte als auch auf Arbeitsmarkteffekte ab. Der Fokus liegt in der Regel auf der gesamten Periode der Arbeitslosigkeit als „kritische Lebensphase“ für die Gesundheit der Betroffenen.

In der Praxis werden oft Maßnahmen der Gesundheitsförderung mit der Arbeitsförderung in arbeitsmarktnahen Settings kombiniert. Es gibt eine Reihe von evaluierten Programmen, die sich insbesondere auf die Verbesserung der psychosozialen Gesundheit von Arbeitslosen konzentrieren (Überblick: Hollederer, 2021). Programmtheorien bauen häufig auf sozial-kognitiven Lerntheorien oder der Theorie der Selbstwirksamkeit nach Bandura (2004) auf, benutzen Konzepte der Kontrollüberzeugungen oder setzen am Selbstwertgefühl und sozialer Unterstützung (Soziale Unterstützung) an. Dazu zählen Stressbewältigungstrainings, Coping durch Stressimpfungstrainings oder Problemlösetrainings, Beratung durch motivierende Gesprächsführung oder die Stärkung von Kompetenzen im Selbstmanagement.

Eine Meta-Analyse von Paul und Moser (2009) zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit berücksichtigte auch psychologische Interventionsmaßnahmen und fand eine signifikante Verbesserung der psychischen Gesundheit sowie eine geringe, aber messbare Reduktion der Beschwerdesymptome bei Arbeitslosen. Maßnahmen für Arbeitslose folgen in der Praxis häufig multimodalen Konzepten und werden vor allem in Deutschland mit Ansätzen zur Stressbewältigung, Bewegungsförderung, Ernährung und Suchtprävention verbunden.

 

Evaluations- und Interventionsstudien

Die Zahl und die Qualität der Evaluationsstudien haben zuletzt zugenommen (Hollederer, 2017). Wie ein Systematischer Review von Hollederer (2019) von 14 kontrollierten Interventionsstudien von Arbeitslosen zeigt, waren heterogene Interventionsansätze, die in der Regel konzeptionell auf Einzelberatungen, Fallmanagement, Trainings oder Gruppenangeboten basierten, unterschiedlich erfolgreich. Für etablierte Ansätze wie das JOBS Program gab es eine moderate Evidenz für die Verbesserung der Gesundheit und der Arbeitsmarktintegration. Das multimodale Programm wurde vom Michigan Prevention Research Center entwickelt und ist international weit verbreitet (webservices.itcs.umich.edu/drupal/mprc/projects/jobs). Es integriert Elemente des sozialen Lernens in Form eines einwöchigen Gruppentrainings, das auf sozial-kognitiven Theorien und Stärkung der Selbstwirksamkeit basiert. Das JOBS-Program wurde inzwischen auch in Deutschland implementiert (Hollederer u. a., 2021). Beim deutschen Programm JobFit, das einen eigenen Präventionskurs gemäß dem GKV-Leitfaden Prävention konzipiert hat und motivierende Interviewtechniken nutzt (Faryn-Wewel u. a., 2008; Faryn-Wewel, 2021), wurden signifikante Veränderungen vor allem beim Gesundheitsverhalten in mehreren Bereichen festgestellt. Weniger erfolgreich waren nach der Studienlage pure Sport- und Bewegungsberatungen.

Die Interventionsstudien mit den größten Gesundheitseffekten hatten auch positive Ergebnisse bei der Arbeitsmarktintegration. Die Programme mit explizit freiwilligem Zugang zeigten im Durchschnitt bessere Effekte auf Gesundheit und Arbeitsmarktintegration als die übrigen Interventionen. Effekte ließen sich international sowohl in der Zielgruppe der Kurzzeit- als auch bei Langzeitarbeitslosen nachweisen. Das ist ein wichtiger Befund für die Gesundheitsförderung in Deutschland, die im Bereich der Arbeitslosenversicherung und damit bei Kurzzeitarbeitslosen wenig als Aufgabe wahrgenommen wird. In Interventionsstudien mit einem Follow-up gingen die im Posttest festgestellten Wirkungen auf Gesundheit und Arbeitsmarkt im Zeitverlauf zurück. Entwicklungsbedarf besteht daher besonders für die Nachhaltigkeit von Interventionen. Die Corona-Pandemie führte außerdem zu einem Digitalisierungsschub auch in der Gesundheitsförderung. Inwieweit er sich auf Arbeitslose ausgewirkt hat, darüber liegen noch keine Ergebnisse vor.

Public Health-Ansätze (Public Health Action Cycle/Gesundheitspolitischer Aktionszyklus) verfolgen bei Arbeitslosen in der Regel nach der Intention der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (WHO, 1986) das Ziel, mehr Autonomie und Kontrolle über die eigenen Gesundheitsbelange zu vermitteln. Sie berücksichtigen konzeptionell die Handlungsprinzipien von Partizipation, Empowerment und Alltags- bzw. Lebensweltorientierung (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen). In der Vergangenheit engagierten sich in der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung im Sinne der Selbsthilfe auch Förderzentren, Arbeitslosenzentren, Erwerbslosenberatungsstellen und Frauenzentren. Der Kooperationsverbund für gesundheitliche Chancengleichheit dokumentiert in seiner Praxisdatenbank über 300 derartiger Angebote zur Gesundheitsförderung, die sich an Langzeitarbeitslose richten, und stellt Arbeitshilfen für die praktische Umsetzung zur Verfügung (www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/praxisdatenbank/recherche/listen/zielgruppen/?sid=8)

 

Kooperation von Gesundheitsförderung und Arbeitsförderung

Eine generelle Schwierigkeit liegt im Zugang zu Arbeitslosen, da sie über die etablierten Settings der Gesundheitsförderung (wie Betriebe, Schulen, Kindergärten etc.) kaum angesprochen werden können (Settingansatz/Lebensweltansatz). Bei Arbeitslosen gibt es zudem eine Tendenz zur Selbstisolation. Es ist daher als Fortschritt zu bewerten, dass für Arbeitslose im Zuge des Präventionsgesetzes 2015 eigene Strukturen der Prävention und Gesundheitsförderung systematisch aufgebaut wurden (Präventionsgesetz).

Für Arbeitslose gilt im besonderen Maße das Postulat der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 20 Abs. 1 SGB V (www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__20.html), dass primärpräventive Leistungen zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen sollen. Der § 20a Abs. 1 SGB V fordert zur sektorenübergreifenden Kooperation auf: „Bei der Erbringung von Leistungen für Personen, deren berufliche Eingliederung auf Grund gesundheitlicher Einschränkungen besonderes erschwert ist, arbeiten die Krankenkassen mit der Bundesagentur für Arbeit und mit den kommunalen Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende eng zusammen.“ Die Bundesrahmenempfehlungen der Nationalen Präventionsstrategie (Nationale Präventionskonferenz, 2018) regeln die Kooperation mit der Arbeitsförderung und sehen für die Kommunen vor, dass bedarfsbezogen Präventions- und Gesundheitsförderungsleistungen für arbeitslose Menschen angeboten und diese Leistungen von den auf kommunaler Ebene bestehenden Steuerungsstrukturen koordiniert werden.

Die gesetzliche Krankenversicherung bietet dabei die Maßnahmen der Gesundheitsförderung für Arbeitslose kassenübergreifend an, auf freiwilliger Basis und zuzahlungsfrei. Sie adressiert nicht nur gesunde Arbeitslose im Sinne der Primärprävention, sondern auch Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen. Diese Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung wird derzeit von dem GKV-Bündnis für Gesundheit und den Jobcentern bzw. Agenturen für Arbeit an 225 Standorten in Deutschland umgesetzt (Schreiner-Kürten & Wanek, 2021; www.gkv-buendnis.de). Sie werden von GKV-Spitzenverband, Bundesagentur für Arbeit, Deutscher Landkreistag und Deutscher Städtetag flankiert und von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) koordiniert. Auf Länderebene unterstützen die Landesvereinigungen bzw. -zentralen für Gesundheit die Aktivitäten zur Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen. Die Zugänge zur Zielgruppe sind vielfältig und auch über arbeitsmarktnahe Settings möglich, z. B. durch Integrationsfachkräfte, Träger von Maßnahmen der Arbeitsmarktintegration oder über die Fachdienste der Bundesagentur für Arbeit (GKV-Spitzenverband, 2020). Sie knüpfen häufig an bestehenden Programmen an.

Am Beispiel der Stadt Essen lässt sich zeigen, wie der Präventionsgedanke in die Geschäftsprozesse eines Jobcenters umfassend integriert und ein kommunales Netzwerk zur Gesundheit systematisch aufgebaut werden kann (Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen, 2019; Mikoteit, 2021). Für Arbeitslose sind niederschwellige, spezifische und wohnortnahe Angebotsstrukturen mit attraktiven Gruppenangeboten von großem Vorteil. Soziale Unterstützung hilft nicht nur allgemein bei der Lebensbewältigung, sondern ist sowohl bei der Suche nach offenen Stellen als auch für die Stabilisierung der psychischen Gesundheit wichtig. In etlichen Stadt- und Landkreisen bieten Kommunale Gesundheitskonferenzen oder Gesundheitsregionenplus einen organisatorischen Rahmen für die sektorenübergreifende Kooperation.

Die konzertierte Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Arbeitsförderung ist zum einen eng mit dem Sozial- und Gesundheitssystem verbunden, zum anderen stellt das Engagement eine Besonderheit im internationalen Vergleich dar. Der Zugang über die Arbeitsförderung ist ein innovativer Weg, der einen Teil der Arbeitslosen direkt erreichen kann. Parallel bleibt die Aufgabe der Integration von Arbeitslosen in den bestehenden Strukturen der Prävention und Gesundheitsförderung, insbesondere in der Kommunalen Gesundheitsförderung (Gesundheitsförderung und Gesunde ‒ Soziale Stadt ‒ Kommunalpolitische Perspektive). Die Ausgestaltung der Gesundheitsförderung für Arbeitslose ist eine Public Health-Herausforderung und Chance zugleich.

Literatur:

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Internetadressen:

www.oecd.org/sdd/labour-stats

www.gesetze-im-internet.de

webservices.itcs.umich.edu/drupal/mprc/projects/jobs

www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/praxisdatenbank

www.gkv-buendnis.de

Verweise:

Determinanten der Gesundheit, Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung / Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheitskonferenzen, Präventionsgesetz, Public Health Action Cycle / Gesundheitspolitischer Aktionszyklus, Settingansatz/Lebensweltansatz, Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit, Soziale Unterstützung, Stress und Stressbewältigung, Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren