Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung / Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit
Lotte Kaba-Schönstein , Holger Kilian
Zitierhinweis: Kaba-Schönstein, L. & Kilian, H. (2023). Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung/Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.).; Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Soziale Lage und gesundheitliche Chancengleichheit stehen in einem engen Zusammenhang. Darauf sollten alle Konzepte der Gesundheitsförderung reagieren. Gesundheitsförderung ist im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Konzept entwickelt worden, um das Ziel der „Gesundheit für alle“ zu erreichen. Dieser Leitbegriff erläutert die Problemlagen und Herausforderungen der Benachteiligung, Ansätze der Gesundheitsförderung zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit und stellt mit einem Schwerpunkt auf Deutschland die Strukturen, Entwicklungen und Entwicklungsperspektiven dar.
Schlagworte
Soziale Benachteiligung, Soziale Ungleichheit, Gesundheitliche Chancengleichheit, Soziale Determinanten, Strategien der Chancengleichheit
Hintergrund, Problemlagen und Herausforderungen
Bei der Gesundheitsförderung mit sozial benachteiligten Menschen stehen v. a. Bevölkerungsgruppen im Fokus, die von vertikaler sozialer und gesundheitlicher Benachteiligung betroffen sind. Dies bedeutet, dass sie durch einen niedrigen sozioökonomischen Status (Bildung, Einkommen, Stellung im Beruf) geringere soziale und gesundheitliche Chancen haben und dadurch benachteiligt bzw. besonders vulnerabel (verletzlich) sind. Dieser Blick wird zunehmend ausgeweitet auf den sozialen Gradienten, da sich die Ungleichheiten durch alle Bevölkerungsschichten ziehen und nicht nur Unterschiede zwischen den am stärksten benachteiligten Gruppen und allen anderen betrachtet und angegangen werden. Der soziale Gradient bedeutet z. B., dass mit abnehmendem Einkommen graduell die Erkrankungsrisiken ansteigen (Soziale Ungleichheit und Gesundheit).
Eine zweite Perspektive bezieht sich auf Menschen und Bevölkerungsgruppen, die von horizontaler sozialer und gesundheitlicher Benachteiligung betroffen sind. Im Fokus stehen hier insbesondere Dimensionen wie Geschlecht, sexuelle Identität, (frühes und fortgeschrittenes) Lebensalter, Behinderung sowie Flucht- und Migrationserfahrung. Zwischen Ungleichheit, Unterschieden und Vielfalt bestehen enge Verbindungen.
Vertikale und horizontale Ungleichheiten sind oft gleichzeitig vorhanden und in Wechselbeziehungen verknüpft (Intersektionalität) (Diversity und Diversity Management/Vielfalt gestalten).
Die spezifischen Probleme und Herausforderungen einer Gesundheitsförderung mit und für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen sind seit den 1970-er Jahren bekannt und benannt worden:
- Missverhältnis zwischen größeren Gesundheitsproblemen und „erschwertem Zugang“ der − aus Perspektive der Unterstützungssysteme − „schwer erreichbaren Zielgruppen“ (Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren).
- Vergrößerung der gesundheitlichen Unterschiede durch „soziallagenblinde“ Angebote und Kommunikationsstrukturen, die gerade den Gruppen mit den größten Gesundheitsproblemen den Zugang erschweren.
- Gefahren der Diskriminierung, Stigmatisierung (auch im Rahmen der wohlmeinenden Unterstützungsangebote) und der Schuldzuweisung (blaming the victim − dem Opfer die Schuld geben).
- Gefahr der wohlmeinenden Bevormundung/Fürsorge, die in der Regel auf der Grundlage von wissenschaftlich-fachlicher Expertise (z. B. sozialepidemiologischen Befunden festlegt, was „für“ die benachteiligten Bevölkerungsgruppen und Individuen „prioritär zu tun“ ist, ohne diese einzubeziehen) (Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger).
- Gefahr der Risiko- und Defizitorientierung, Vernachlässigung von Kompetenzen und Ressourcen von benachteiligten Zielgruppen (Empowerment/Befähigung).
Als besonders bedeutsam stellte sich dabei das Problem der „versehentlichen“ Vergrößerung der gesundheitlichen Unterschiede durch gut gemeinte, aber soziallagenblinde Gesundheitserziehung“ und -bildung heraus. Das Problem entsteht aus der sozial unterschiedlichen Zugänglichkeit, Inanspruchnahme und Akzeptanz dieser Angebote, die (oft unreflektiert und unbeabsichtigt) mittelschichtsorientiert sind und bevorzugt Menschen mit höherem sozioökonomischem Status erreichen. Wenn diese Angebote zwar bei diesen erfolgreich sind, benachteiligte Menschen aber gerade nicht erreichen (z. B. bei Verwendung von Printmedien mit anspruchsvollen Texten, die eventuell gar noch in einer Einrichtung abgeholt werden müssen), öffnen sie die Schere der gesundheitlichen Ungleichheit noch weiter und verstärken das soziale Dilemma der Gesundheitsförderung/Präventionsdilemma (Präventionsparadox).
Dies geschieht auch dann, wenn durch die Einengung auf die verhaltensgebundenen Determinanten der Gesundheit (Gesundheitsbildung im engeren Sinn) die Gesamtsituation und die Lebenslage(n) (Lebenslagen und Lebensphasen) der benachteiligten Menschen nicht berücksichtigt werden. Obwohl ihre gesundheitliche Situation wesentlich auf schwierige Umstände und Lebensbedingungen zurückzuführen ist, wird ihnen gleichwohl die Eigenverantwortung für ihre gesundheitliche Lage und die Schuld an ihrer eventuell gesundheitsriskanten Lebensweisen/Lebensstile und riskantem Gesundheitsverhalten (Gesundheitsverhalten, Krankheitsverhalten, Gesundheitshandeln) gegeben (blaming the victim).
Die beschriebenen Probleme und Herausforderungen waren auch Bestandteil der Kritik an der traditionellen Gesundheitserziehung und einer verhaltensorientierten Prävention. Sie wurden in die Entwicklung der WHO-Strategien „Gesundheit für alle“ (GFA) aufgenommen, mit der seit 1978 konstanten prioritären Zielsetzung gesundheitlicher Chancengleichheit. Die Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit war auch grundlegend für die Entwicklung des Gesundheitsförderungskonzepts nach dem Verständnis der WHO (Gesundheitsförderung 1: Grundlagen; Gesundheitsförderung 2: Entwicklung vor Ottawa; Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa).
Die Diskussion und die einschlägigen praktischen Bemühungen sind seit den 1990-er Jahren intensiviert worden. Besonders wichtig war dabei der Fortschritt der Sozialepidemiologie, die vertikale und horizontale gesundheitliche Ungleichheiten sowie soziale Determinanten der Gesundheit belegen und beschreiben konnte. Insgesamt besteht jedoch immer noch eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem immer größeren Wissen über die bestehenden und teilweise zunehmenden gesundheitlichen Ungleichheiten, den noch unvollkommenen Versuchen, sie zu erklären sowie den eher spärlichen Nachweisen von erfolgreichen Ansätzen einer nachhaltigen Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit.
Ansätze und Handlungsebenen einer Gesundheitsförderung zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten
Im Auftrag des WHO-Regionalbüros für Europa (WHO/Europa) haben Whitehead (Whitehead 1991) sowie Dahlgren und Whitehead (Dahlgren & Whitehead 1993) Konzepte und Strategien zur Förderung von Chancengleichheit im Gesundheitsbereich entwickelt und konkretisiert. Diese sind auch für die Gesundheitsförderung weiterhin grundlegend und als Abschnitt „Schließung der gesundheitlichen Kluft innerhalb der Länder“ in der WHO-Strategie „Gesundheit21“ eingeflossen (WHO 1999).
Eine Gesundheitsförderung mit und für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen kann sich an den von Dahlgren und Whitehead erarbeiteten Hauptdeterminanten und -strategien zur Verbesserung der Gesundheit und zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten orientieren:
- Individuen stärken
- Gemeinden und Gemeinschaften stärken
- Zugang zu wichtigen Einrichtungen und Diensten verbessern
- Makroökonomische und kulturelle Veränderungen anstoßen
Ebenen von Politik/Interventionen zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten |
Individuen stärken
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Gemeinden und Gemeinschaften stärken
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Zugang zu wichtigen Einrichtungen und Diensten verbessern
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Makroökonomische und kulturelle Veränderungen anstoßen
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Tab. 1: Ebenen von Politik/Interventionen zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten (zusammengestellt nach Whitehead in Benzeval et al. 1995, S. 22−52)
Die WHO (WHO 1999) hat in „Gesundheit21“ bei den strategischen Überlegungen für grundlegende Ansatzpunkte und Zugänge einer Gesundheitsförderung im Kontext sozialer Benachteiligung, wie auch schon Dahlgren und Whitehead, einige weitere grundsätzliche Möglichkeiten und Perspektiven erörtert:
- Das Ansetzen an Gesundheitsdeterminanten, d. h. sowohl die sozioökonomischen Grundursachen der Benachteiligung als auch die persönlichen Determinanten zu gestalten, z. B. schlechte Wohnbedingungen oder riskantes Gesundheitsverhalten.
- Das Ansetzen an konkreten Gesundheitsproblemen, d. h. die spezifischen Gesundheitsprobleme in den Blick zu nehmen, bei denen signifikante Unterschiede zwischen sozioökonomischen Gruppen beobachtet werden.
- Das Ansetzen bei besonders gefährdeten Gruppen, für die differenzierte Politikziele aufgestellt werden können. Aufsuchende Dienste und Methoden und ganzheitliche, integrierte Programme, die möglichst viele Bereiche und Stellen einbeziehen, werden als für sozial benachteiligte Menschen und Bevölkerungsgruppen besonders notwendig empfohlen.
Der Settingansatz/Lebensweltansatz der Gesundheitsförderung wird als besonders geeignet angesehen, sozial benachteiligte Menschen und Gruppen in ihrem Alltag und in ihrer Lebenswelt nachhaltig über einen nicht-diskriminierenden und nicht-stigmatisierenden Zugang zu erreichen und zu beteiligen (Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger; Empowerment/Befähigung) sowie die Strukturen der Lebenswelten nachhaltig gesundheitsgerecht(er) zu gestalten.
Bezüglich der prioritären Zielgruppen und Ansätze werden seit Mitte der 2000-er Jahre international vor allem die folgenden drei prinzipiell möglichen Ansätze und Prioritäten der Erhöhung der Chancengleichheit und Gesundheitsförderung diskutiert (Whitehead & Dahlgren 2006, pp. 16−18):
- Gesundheit(-sförderung) mit/bei am meisten betroffenen („ärmsten“) Gruppen.
- Verringerung der Kluft zwischen den verschiedenen Gruppen.
- Ansetzen am sozialen Gradienten: Der Proportionate Universalism zielt nicht alleine darauf ab, die gesundheitliche Lage der besonders belasteten und benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Vielmehr werden Gesundheitsdienste und Unterstützungsangebote allen Bevölkerungsgruppen zugänglich gemacht, bei der Ausgestaltung aber darauf geachtet, dass Umfang und Intensität der Angebote für sozial benachteiligte Gruppen proportional zu den jeweiligen Bedarfen verstärkt werden (Marmot et al. 2010, S. 16; Carey et al. 2015).
Dabei ist zu beachten, dass diese drei Ansätze aufeinander aufbauen und sich ergänzen. Von Bedeutung ist, dass es bei der Verringerung der Kluft zwischen den Gruppen um eine Verbesserung der gesundheitlichen Lage der am stärksten benachteiligten Gruppen geht und nicht um eine Verschlechterung der Gesundheit privilegierter Menschen und Gruppen (Politik des „levelling up“) (vgl. Whitehead & Dahlgren 2006, pp. 16−18).
International und national umgesetzt werden bislang v. a. die beiden ersten Ansätze. In Deutschland gibt es bisher einen Schwerpunkt und eine weitgehende Beschränkung auf den ersten Ansatz, die Gesundheitsförderung mit den am meisten betroffenen Menschen und Gruppen. Über den sich langsam verbreitenden Ansatz der Gesundheit in allen Politikfeldern/Health in All Policies (HiAP) wird auch in Deutschland das Ansetzen an (sozialen) Determinanten und dem sozialen Gradienten verstärkt in die Diskussion eingebracht (vgl. die Beiträge in Böhm et al. 2020), sind aber noch keine politikfeld-übergreifende Praxis.
Ansätze finden sich insbesondere auf kommunaler Ebene im Kontext der Umsetzung von Präventionsketten (Präventionskette – Integrierte kommunale Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung und Prävention). Der zweite Präventionsbericht der Nationalen Präventionskonferenz sieht den Öffentlichen Gesundheitsdienst als „geeigneten Motor“ für die Förderung des Health in All Policies-Ansatzes. Entsprechend der Berichtsempfehlungen müssten auch „bessere Rahmenbedingungen“ auf Bundesebene für den Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention geschaffen werden (Nationale Präventionskonferenz 2023, S. 218).
Das Ansetzen am sozialen Gradienten und den sozialen Determinanten sowie die Entwicklung einer Gesamtpolitik der Reduktion von gesundheitlichen Ungleichheiten wird (seit 2003) im Rahmen der schwedischen Public Health-Politik (Public Health-Agency of Sweden 2021) sowie der Norwegischen Strategie zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten (Norwegian Ministry of Health and Care Services 2007) versucht. Neuere, an den (sozialen und politischen) Determinanten der Gesundheit orientierte Strategien gehen davon aus, dass es notwendig ist, an den „Ursachen der Ursachen“ (causes of the causes) und Kausalketten von Gesundheits- und Ungleichheitsproblemen „stromaufwärts“ anzusetzen (vgl. Abb. 1).
„Stromaufwärts“ (upstream) und „stromabwärts“ (downstream) beziehen sich auf die im Bereich der Bevölkerungsgesundheit/Public Health verbreitete Flussparabel, in der die Unterschiede zwischen einer individualmedizinischen und einer Bevölkerungsperspektive auf die Gesundheit von Menschen, die „in den Fluss gefallen sind“, verdeutlicht werden. In diesem Bild konzentriert die Individualmedizin sich darauf, „ertrinkende Menschen“ sozusagen aus dem Fluss zu ziehen, wiederzubeleben und zu behandeln. Sie ist mit dieser Aufgabe so ausgelastet, dass keine Energie übrigbleibt, sich darüber Gedanken zu machen, was in der Flussmitte passiert – dort, wo die Menschen in den Fluss fallen und dort, wo sie das Schwimmen lernen könnten (Kompetenzstärkung, Empowerment).
Die Perspektive der Bevölkerungsgesundheit/öffentlichen Gesundheit liegt näher an der Quelle, am Ursprung, wo die (gesellschaftlichen) Bedingungen und Strukturen liegen und beeinflusst werden, die bestimmen, dass Menschen und Bevölkerungsgruppen ungleiche Chancen und Risiken haben, in den Fluss zu fallen bzw. schwimmen zu lernen. Hier, nahe am Ursprung, setzen Gesundheitsförderung und Prävention und Krankheitsprävention (Gesundheitswissenschaften/Public Health) an. Diese Perspektive erweitert den individualisierenden, auf Verhaltensursachen („Risikoverhalten“) verengten Blick, indem die dem Verhalten zugrunde liegenden strukturellen „Ursachen der Ursachen“ (soziale und politische Determinanten) beeinflusst werden.
Auch das Konzept der Verwirklichungschancen (nach dem indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen) findet in der Diskussion der Gesundheitsförderung zur Reduktion ungleicher Gesundheitschancen zunehmende Aufmerksamkeit (Verwirklichungschancen/Capabilities).
Entwicklung der Situation in Deutschland
Die Gesundheitsförderung mit und für sozial benachteiligte und vulnerable Bevölkerungsgruppen befindet sich in Deutschland in einer Phase der gesteigerten Wahrnehmung des Handlungsbedarfs, die sich auch in den einschlägigen Entschließungen äußert. Sie ist bisher gekennzeichnet durch viele isolierte und nur vereinzelt abgestimmte Aktivitäten, Arbeitskreise und Projekte weitgehend voneinander unabhängiger Akteurinnen und Akteure. Erschwert und verzögert wurde die Entwicklung in Deutschland dadurch, dass gesundheitliche Ungleichheiten in der Gesundheitspolitik relativ lange vernachlässigt worden sind. Zudem beschränkt die föderale Struktur des Gesundheitswesens die Zielsetzungen für gesundheitliche Chancengleichheit auf der Bundesebene (Gesundheitsförderung 5: Deutschland). Die Umsetzung des 2015 verabschiedeten Präventionsgesetzes mit den 2018 vorgestellten Bundesrahmenempfehlungen und der Konkretisierung in Landesrahmenvereinbarungen bietet Ansatzpunkte zur strategischen Weiterentwicklung des Handlungsfeldes.
Es gibt eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren, die Gesundheitsförderung im Sinne der Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit initiieren, durchführen bzw. unterstützen (können). Neben der Gesundheitsförderungspolitik und gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik auf Bundes- und Landesebene zählen dazu die Sozial- und Gesundheitspolitik und die entsprechenden Dienste der Kommunen, der Wohlfahrtsverbände, außerdem die zielgruppenspezifischen Akteurinnen, Akteure und Angebote (z. B. Migrationsdienste, Wohnungslosenhilfe), der Bildungsbereich (etwa Kindertagesstätten und Schulen), die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Altenhilfe.
Einen wichtigen Impuls zur Entwicklung einer an der sozialen Lage orientierten Gesundheitsförderung setzte das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000. § 20 SGB V formuliert den Auftrag, die Leistungen der Primärprävention und Gesundheitsförderung der Krankenkassen sollten „insbesondere zur Verminderung sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen und kind- und jugendspezifische Belange berücksichtigen“ (Stand Sommer 2023) (Gesundheitsförderung 5: Deutschland).
2001 empfahlen die Teilnehmenden eines von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) initiierten und durchgeführten Expertinnen- und Expertenworkshops, einen bundesweiten Überblick über die gesundheitsfördernden Interventionen nach Zielgruppen, Settings, Interventionstypen, beteiligten Akteurinnen und Akteuren und Ergebnissen zu erstellen. Die BZgA beauftragte 2002 den Aufbau einer online verfügbaren Praxisdatenbank, aus der sich in mehreren Entwicklungsschritten die bundesweite Praxisdatenbank Gesundheitliche Chancengleichheit entwickelte. Die dort zu findenden Angebote und Maßnahmen zeigen die Spannbreite der Handlungsfelder und -ansätze der Gesundheitsförderung zur Stärkung der gesundheitlichen Chancengleichheit auf.
Der bundesweite Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit
Im November 2003 wurde auf Initiative der BZgA und gemeinsam mit gesetzlichen Krankenkassen, der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung und den Landesvereinigungen für Gesundheit der bundesweite Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ gegründet (seit 2012 „Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit“). Mittlerweile zählen auch die Wohlfahrtsverbände, die kommunalen Spitzenverbände und die Bundesagentur für Arbeit zu den 75 Kooperationspartnern.
Die Mitglieder im Kooperationsverbund verfolgen das gemeinsame Ziel, die Bedingungen für eine gute Gesundheit aller Menschen zu verbessern, unabhängig von deren jeweiliger sozialer Lage. Dies geschieht im Wesentlichen durch die Herstellung von Transparenz über Angebote und Aktivitäten (Arbeitshilfen), die Förderung der Qualitätsentwicklung (Good Practice-Kriterien), die Vernetzung von Akteurinnen und Akteuren (Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit) und die Unterstützung bei der Umsetzung lebensweltbezogener Gesundheitsförderung (Settingansatz/Lebensweltansatz) auf kommunaler Ebene (Kommunaler Partnerprozess Gesundheit für alle).
Die Good Practice-Kriterien
2003 erbrachte die Analyse der in der Praxisdatenbank zu findenden Projekte und Maßnahmen einen Bedarf, die Qualitätsorientierung über Kriterien guter Praxis der soziallagenorientierten Gesundheitsförderung zu unterstützen. Auf der Grundlage einer umfassenden Analyse der vorhandenen Wissensgrundlagen und Erfahrungen entwickelte und konsentierte der Arbeitskreis „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ der BZgA (heute: „Beratender Arbeitskreis“ des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit) zwölf Kriterien guter Praxis der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung (modifiziert nach Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2021):
Zielgruppenbezug: Die Personengruppen, deren gesundheitliche Situation durch die Maßnahme verbessert werden soll, sind klar benannt.
- Konzeption: Ziele, Wirkungsweisen und -wege sind klar benannt.
- Setting-Ansatz: Lebenswelten sind gesundheitsgerecht gestaltet.
- Empowerment: Einzelne und Gruppen sind befähigt, informierte Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.
- Partizipation: Entscheidungsbefugnisse sind an die Mitglieder der Zielgruppe übertragen.
- Niedrigschwellige Arbeitsweise: Zugangshürden zu den gesundheitsfördernden Angeboten und Maßnahmen sind vermieden.
- Multiplikatorenkonzept: Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden systematisch qualifiziert und einbezogen.
- Nachhaltigkeit: Die Maßnahme wird verstetigt und dabei kontinuierlich weiterentwickelt.
- Integriertes Handeln: Die Maßnahmen sind in kommunale und andere komplexe Strategien eingebunden.
- Qualitätsmanagement: Methoden der Qualitätsentwicklung werden systematisch angewendet.
- Dokumentation und Evaluation: Prozesse, Strukturen und Arbeitsergebnisse werden dokumentiert, überprüft und bewertet.
- Belege für Wirkungen und Kosten: Indikatoren zur Bewertung der Kosten und der Wirksamkeit des Angebotes werden ermittelt.
Die Good Practice-Kriterien liegen auch als inhaltlich erweiterte und konkretisierte „Steckbriefe“ vor (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2021). Jeder der zwölf Kriterien-Steckbriefe enthält vier Elemente:
- Kurze Definition
- Darstellung aufsteigender Umsetzungs-Stufen (von „überhaupt nicht“ bzw. „nur ansatzweise umgesetzt“ bis zu „umfassend umgesetzt“)
- Kurze Erläuterung der Stufen
- Weiterführende Literaturhinweise
Die Beschreibung aufsteigender Umsetzungsstufen für jedes Kriterium unterstreicht das Ziel der Qualitätsentwicklung, Wege und Möglichkeiten zur schrittweisen Weiterentwicklung der Praxis aufzuzeigen (Good Practice/Best Practice in der Gesundheitsförderung).
Der Katalog der Good Practice-Kriterien ermöglicht es, beispielhafte Vorgehensweisen und Erfolgsfaktoren in verschiedenen Formen wiederzugeben. Dies setzt der Kooperationsverbund besonders stark im Handlungsfeld kommunale Gesundheitsförderung (Stichwort „Präventionskette“, siehe „Kommunaler Partnerprozess ‘Gesundheit für alle‘“) und in Bezug auf die Zielgruppe Ältere Menschen um. Die Arbeitshilfen „Gute Praxis konkret“ beschreiben das Vorgehen zur Umsetzung jedes Good Practice-Kriteriums ausführlich und konkret auf der Grundlage vertiefender Interviews mit Projektverantwortlichen sowie -nutzerinnen und -nutzern. Ein Großteil der Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit (siehe Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit) hat einen länderbezogenen Schwerpunkt.
Auch in anderen Handlungsfeldern bündelt der Kooperationsverbund das Handlungswissen von Akteurinnen und Akteuren der Gesundheitsförderung, z. B. zur Gesundheitsförderung bei
- Erwerbslosen (Eckpunkte-Papier „Gemeinsam handeln: Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen“ 2014),
- Geflüchteten (Handreichung „Gesundheitsförderung mit Geflüchteten. Lücken schließen – Angebote ergänzen“, 2021, ergänzt um Hinweise zur Situation der Geflüchteten aus der Ukraine 2022) und
- Wohnungslosen (Themenblatt „Gesundheitsförderung und Prävention mit wohnungslosen Menschen“ 2022).
Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit
Um Transparenz und Zusammenarbeit auch auf der Landesebene zu verbessern, wurden in den 16 Bundesländern bei den Landesvereinigungen für Gesundheit oder vergleichbaren Institutionen „Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit“ (KGC) (ehemals „Regionale Knoten“) eingerichtet. Sie sensibilisieren für die gesundheitlichen Folgen sozialer Benachteiligung, vernetzen die Akteurinnen und Akteure im Bundesland, begleiten kommunale Entwicklungsprozesse und unterstützen die Qualitätsentwicklung. Die Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit fördern eine handlungsfeldübergreifende Perspektive und führen Akteurinnen und Akteure nicht nur aus dem Gesundheitsbereich, sondern z. B. auch aus den Bereichen Arbeit und Soziales, Bildung, Stadtentwicklung und Umwelt zusammen.
Neben der gesundheitlichen Versorgung sind auch Bildungschancen oder Umweltbelastungen Themen, ebenso die Entwicklung und Umsetzung integrierter kommunaler (Gesundheits-)Strategien (vgl. folgenden Abschnitt) im Rahmen des kommunalen Partnerprozesses „Gesundheit für alle“. Die Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit bieten außerdem Fachkräften in ihren Bundesländern Qualifizierungen zur Umsetzung der Good Practice-Kriterien an („Lernwerkstätten Good Practice“).
Sie sind eine wichtige Struktur zur Umsetzung des Präventionsgesetzes in den Bundesländern. Ihre Themen- und Arbeitsschwerpunkte werden – innerhalb eines bundesweit einheitlichen Aufgabenkatalogs – von den sie tragenden und steuernden Partnern im jeweiligen Land festgelegt. In der Regel sind dies die jeweils für Gesundheit zuständigen Landesministerien sowie die Partner der jeweiligen Landesrahmenvereinbarungen.
Website www.gesundheitliche-chancengleichheit.de und Arbeitshilfen
Die bundesweit umfassendste Plattform zu Themen rund um die Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit richtet sich an Projektverantwortliche, Fachkräfte der Kommunalverwaltung oder Studierende. Neben Informationen zu Struktur und Arbeitsweise des Kooperationsverbundes und der bundesweiten Praxisdatenbank finden sich auf der Website die Seiten der Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit in den Bundesländern, Informationen zur Qualitätsentwicklung (Good Practice-Kriterien und -Beispiele, Qualität von Setting-Interventionen), umfangreiche Materialien rund um die Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit sowie eine Übersicht zu Veranstaltungen.
Hier finden sich auch zahlreiche Materialien und Handreichungen, die über Themen und Handlungsansätze informieren oder die Arbeit vor Ort praktisch unterstützen. Dies gilt insbesondere für die von 2009 bis 2014 entwickelten Arbeitshilfen „Aktiv werden für Gesundheit – Arbeitshilfen für kommunale Prävention und Gesundheitsförderung“ (Gesundheit Berlin-Brandenburg 2014). Sie enthalten sieben Fachhefte, die sich auch an kommunale und Quartiers-Akteurinnen und -Akteure außerhalb des Gesundheitsbereiches wenden und aufzeigen, wie kommunale bzw. lokale Bedingungen für gesundheitliche Chancengleichheit gestaltet und konkrete Maßnahmen geplant und umgesetzt werden können.
Kommunaler Partnerprozess „Gesundheit für alle“
Der Aufbau kommunaler Gesundheitsförderungs- und Präventionsketten (Präventionskette – Integrierte kommunale Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung und Prävention) steht im Mittelpunkt des 2011 durch den Kooperationsverbund initiierten kommunalen Partnerprozesses „Gesundheit für alle“. Der Partnerprozess bietet Kommunen ein Angebot, sich über Strategien, Probleme und Lösungswege beim Aufbau kommunaler Präventionsketten bundesweit auszutauschen. Die Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit begleiten und beraten ausgewählte Kommunen in ihren Bundesländern.
In den ersten Jahren der Arbeit standen vor allem die kommunalen Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen im Mittelpunkt, 2015 wurde der kommunale Partnerprozess unter dem aktuellen Titel „Gesundheit für alle“ auf die gesamte Lebensspanne erweitert (Gesundheitsförderung 5: Deutschland). Die sehr stark institutionell geprägten Übergänge im Kindes- und Jugendalter (z. B. von der KiTa in die Schule) sind in den späteren Lebensphasen wesentlich individueller und weniger normiert. Die kommunalen Strategien müssen deshalb flexibler und breiter aufgestellt werden als für die ersten Lebensjahre und werden zur Klammer eines umfassenden kommunalen Gesundheitsförderungs- und Präventions-Netzwerkes.
Einige Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit bieten den Kommunen in ihren Bundesländern Beratung und Prozessbegleitung auch unabhängig vom Partnerprozess an. Der Kooperationsverbund begleitet zudem den 2020 gestarteten Ausbau des Öffentlichen Gesundheitsdienstes („Pakt für den ÖGD“) fachlich durch Fachtagungen, Stellungnahmen und Qualifizierungsangebote.
Europäische Initiativen, Programme und Projekte
Gesundheitliche Ungleichheiten (health inequalities, health inequity) sind ein globales Problem auch aller europäischen Länder. Strategien zur Schließung der gesundheitlichen Lücke (closing the gap) und zur Beeinflussung der sozioökonomischen Determinanten der Gesundheit erhalten zunehmend eine europäische Perspektive über gemeinsame Programme im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation und der Gesundheits(förderungs)politik der Europäischen Union (EU) (Gesundheitsförderung 4: Europäische Union).
Das EuroHealthNet ist auf europäischer Ebene das zentrale Netzwerk im Bereich der Gesundheitsförderung, insbesondere mit dem Schwerpunkt „Health Equity“. Es versteht sich als europäische Partnerschaft zur Förderung von Gesundheit, Chancengleichheit und Wohlbefinden. Es handelt sich um eine gemeinnützige Partnerschaft von 37 öffentlichen Organisationen der lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Ebene in Europa (Stand Sommer 2023) mit dem Auftrag, gesündere Gemeinschaften aufzubauen und die gesundheitliche Ungleichheit in und zwischen den europäischen Staaten zu bekämpfen. EuroHealthNet unterstützt sowohl die Strategien der WHO-Europa als auch die EU-Gesundheitsprogramme (Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa; Gesundheitsförderung 4: Europäische Union).
Der strategische EuroHealthNet-Entwicklungsplan 2021 bis 2026 zielt auf gesundheitliche Chancengleichheit und Wohlbefinden mit fünf Prioritäten ab: Gesundheitliche Chancengleichheit, nichtübertragbare Erkrankungen, Klimakrise, Prävention und Promotion, Lebensverlauf sowie zwei Querschnittsthemen: Digitale Inklusion/Digital Literacy und Mental Health.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist seit der Gründung des Netzwerks 1997 die deutsche Partnerorganisation von EuroHealthNet. Sie ist seit 2004 an den Projekten zur gesundheitlichen Chancengleichheit kontinuierlich und aktiv beteiligt: „Closing the Gap“, „DETERMINE“, „Tackling Health Inequalities and Social Exclusion, Tackling the Gradient: Applying Public Health Politics to Effectively Reduce Health Inequalities amongst Families and Children“, „Equity Action“ (Gesundheitsförderung 4: Europäische Union).
Begrifflichkeiten, Synonyme
Es lässt sich ein zunehmendes Bemühen feststellen, Bezeichnungen der Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu vermeiden, die diese (ungewollt) diskriminieren, stigmatisieren und zu passiven Objekten der Interventionen machen können. Das Bemühen hat zusammen mit vielen Unsicherheiten darüber, welche Begriffe korrekt sind, dazu geführt, dass es eine verwirrende Vielzahl synonym benutzter Begriffe und Bezeichnungen gibt, z. B. „soziallagenbezogene Gesundheitsförderung“, „Gesundheitsförderung mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen, … in belasteten Lebenslagen, … in besonderen Lebenslagen“ etc. Bezeichnungen wie „ressourcenschwache“, „bedürftige“ oder „sozial schwache“ und „bildungsferne“ Menschen sind zwar gut gemeinte Umschreibungen, können aber auch als stigmatisierend verstanden werden. Solche Begrifflichkeiten bewegen sich auf einem schmalen Pfad zwischen realistischer Beschreibung, Diskriminierung und Beschönigung.
Fachlicher Konsens besteht darüber, dass paternalistische Bezeichnungen wie „Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Menschen“ vermieden werden sollten, bzw. dass sie ggf. in partizipativer Perspektive erweitert werden in „mit“ und „für“, z. B. wenn die Aktivität auch anwaltschaftliche Elemente enthält. Die 2012 vorgenommene Umbenennung des bundesweiten Kooperationsverbundes „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ in „Gesundheitliche Chancengleichheit“ ist in diesem Kontext als Perspektivwechsel zu verstehen: Der defizitorientierte Blick auf die soziale Benachteiligung wird zur ressourcenorientierten Perspektive auf das Ziel der gleichen Gesundheitschancen.
Gut gemeint, aber zu unspezifisch ist auch die Bezeichnung „vulnerable Gruppen“, die insbesondere während der Corona-Pandemie eine Konjunktur erlebte. Der Begriff betont richtigerweise die grundsätzliche „Verletzlichkeit“ jedes Menschen, kann jedoch im jeweiligen Kontext sehr unterschiedliche Personengruppen meinen. Oft bezieht sich die Beschreibung der „Vulnerabilität“ allein auf Merkmale der individuellen körperlichen und psychischen Konstitution oder in bestimmten Lebensphasen (z. B. Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Vorerkrankungen oder Hochaltrige). Für den Fokus dieses Leitbegriffs ist diese breite Perspektive zu unscharf, da „Verletzlichkeit“ aufgrund systematischer sozialer Benachteiligung nur eine Teilgruppe der „vulnerablen Gruppen“ umfasst.
Stand und Perspektiven
Bestehende und wachsende sozial bedingte Ungleichheiten der Gesundheit werden in Deutschland seit den 1990-er Jahren verstärkt beachtet. Seit der Jahrtausendwende wurden Strukturen wie der Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“ und die Koordinierungsstellen in den Bundesländern aufgebaut, mit dem § 20 SGB V gesetzliche Grundlagen für Prävention und Gesundheitsförderung geschaffen sowie Programme und Aktivitäten einer Vielzahl von Akteuren entwickelt und in einigen Bereichen auch aufeinander abgestimmt. Was bisher aber gleichwohl fehlt und auf die politische Agenda in Deutschland gesetzt werden muss, ist eine umfassende Strategie zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit durch Gesundheitsförderung und Prävention auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene mit einem gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansatz.
Das im Sommer 2015 verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention (Präventionsgesetz) kann als ein Schritt in diese Richtung verstanden werden. Gleichzeitig aber ist das Gesetz primär auf die gesetzliche Krankenversicherung und weitere Sozialversicherungsträger als Kostenträger ausgerichtet und beschränkt (Sozialversicherungsträger im Handlungsfeld Gesundheitsförderung und Prävention). Diese Struktur kann dem Anspruch eines umfassenden, an den sozialen und politischen Determinanten ansetzenden Upstream-Ansatzes nicht gerecht werden, der die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen als handlungsfeldübergreifende und gesamtgesellschaftliche Aufgabe versteht und alle gesundheitsrelevanten Akteursgruppen verbindlich einbezieht. Hier hat sich allerdings die Diskussion zur Gesundheit in allen Politikbereichen und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe Health in All Policies (HiAP) weiter entwickelt und verbreitet (Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik/Healthy Public Policy).
Inzwischen gibt es einige bundesweite Initiativen, die einen mehr oder weniger direkten Bezug zur Zielsetzung Verringerung der gesundheitlichen Chancenungleichheit aufweisen, z. B. das Gesunde Städte-Netzwerk, das Städtebauförderungsprogramm Soziale Stadt, die Bundesinitiative „Frühe Hilfen“ und der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz (Mielck & Wild 2021, S. 341).
Fragen der gesundheitlichen Chancengleichheit werden auch im Zusammenhang von Umweltgerechtigkeit sowie von Stadtentwicklung und Gesundheit verstärkt diskutiert (Umweltgerechtigkeit; Gesunde Städte-Netzwerk; Kommunale Gesundheitsförderung; Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung). Auch die unterschiedliche Betroffenheit durch den Klimawandel wird verstärkt diskutiert und umgesetzt (Klimawandel und Gesundheitsförderung).
Die COVID-19-Pandemie hat ebenfalls gesundheitliche Ungleichheiten aufgezeigt und verstärkt. In diesem Zusammenhang wird seit 2020, ausgehend von England und dem Marmot-Review auch in Deutschland die Forderung des „Build Back Better“ und des „Build Back Fairer“ erhoben (Marmot et al. 2020).
Im Zuge der COVID-19-Pandemie wurde zum einen die große Relevanz nicht-medizinischer Public Health-Interventionen für die Erreichung und Beteiligung der gesamten Bevölkerung deutlich, insbesondere auch der benachteiligten Gruppen und Quartiere. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass der durch die Nachverfolgung der Infektionsketten besonders geforderte Öffentliche Gesundheitsdienst (Öffentlicher Gesundheitsdienst [ÖGD] und Gesundheitsförderung) in seinen bestehenden Strukturen diesen Aufgaben nur eingeschränkt gewachsen war.
In der Konsequenz legten Bund und Länder 2020 den „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ auf, der bis 2026 die personelle Aufstockung der Gesundheitsämter und die Digitalisierung der Arbeit in den Gesundheitsämtern unterstützen soll. Informationen zum Umsetzungsstand des Förderschwerpunkts „Digitalisierung des ÖGD“ findet sich auf der Website https://gesundheitsamt-2025.de.
Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention und die mit seiner Umsetzung verbundenen Strukturen (Nationale Präventionskonferenz, Präventionsforum, Nationale Präventionsstrategie, Landesrahmenvereinbarungen) sowie die steigende Aufmerksamkeit für das Anliegen gesundheitlicher Chancengleichheit auch in den Handlungsfeldern außerhalb des Gesundheitswesens, bieten trotz der genannten Beschränkungen auf die Sozialversicherung eine Perspektive, die nächsten Schritte zur systematischen Verankerung des Themas in allen gesundheitsrelevanten Handlungs- und Politikfeldern zu gehen (Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik/Healthy Public Policy).
Literatur:
Benzeval, M., Judge, K. & Whitehead, M. (Hg.) (1995). Tackling inequalities in health. An agenda for action. London.
Böhm, K., Bräunling, S., Geene, R. & Köckler, H. (Hg.) (2020). Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Konzept Health in All Policies und seine Umsetzung in Deutschland. Wiesbaden: Springer.
Carey, G., Crammond, B. & De Leeuw, E. (2015). Towards health equity: a framework for the application of proportionate universalism. International Journal for Equity in Health. https://doi.org/10.1186/s12939-015-0207-6.
Dahlgren G. & Whitehead, M. (1993). Konzept und Strategien zur Förderung der Chancengleichheit im Gesundheitsbereich. Kopenhagen.
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Internetadressen:
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: www.bzga.de
EuroHealthNet: www.eurohealthnet.eu
European Commission Public Health: https://health.ec.europa.eu/index_de
European Portal for Action on Health equity: www.health-inequalities.eu
GKV-Bündnis für Gesundheit mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten: www.gkv-buendnis.de
Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Nationale Präventionskonferenz, die auf Grundlage des „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz)“ eingerichtet wurde: www.npk-info.de
WHO-Seite zu sozialen Determinanten der Gesundheit: www.who.int/health-topics/social-determinants-of-health
Verweise:
Empowerment/Befähigung, Gesunde Städte-Netzwerk, Gesundheit in allen Politikfeldern / Health in All Policies (HiAP), Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Gesundheitsförderung 2: Entwicklung vor Ottawa 1986, Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa, Gesundheitsförderung 4: Europäische Union, Gesundheitsförderung 5: Deutschland, Gesundheitsverhalten, Krankheitsverhalten, Gesundheitshandeln, Gesundheitswissenschaften / Public Health, Good Practice / Best Practice in der Gesundheitsförderung, Klimawandel und Gesundheitsförderung, Kommunale Gesundheitsförderung, Lebenslagen und Lebensphasen, Lebensweisen/Lebensstile, Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) und Gesundheitsförderung, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Prävention und Krankheitsprävention, Präventionsgesetz, Präventionskette – Integrierte kommunale Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung und Prävention, Präventionsparadox, Settingansatz/Lebensweltansatz, Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit, Sozialversicherungsträger im Handlungsfeld Gesundheitsförderung und Prävention, Umweltgerechtigkeit, Verwirklichungschancen/ Capabilities, Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren
Dieser Text ist eine aktualisierte und erweiterte Version des Vorgängerbeitrags Kaba-Schönstein & Gold von 2011. Wir danken der verstorbenen Carola Gold für Ihren Anteil an der ersten Fassung. Stefan Bräunling danken wir für hilfreiche Hinweise zur aktualisierten Version.